Geisterbahn

Dienstag, 28. Februar 2006 – Neunuhrdreiundzwanzig. Einskommasechs. Leichter Schnee.

  Nachtrag: Samstag, um 6.15 Uhr an der Straßenbahnhaltestelle. Kalt. Eine Amsel singt ihre Sachen. Die Ampeln wechseln folgenlos ihre Farben. Niemand gibt Gas, niemand hält an; die Straßen sind leer. Die Stadt ist genauso dunkel wie um Mitternacht. Trotzdem eine vollkommen andere Stimmung. Wie kommt das? Woran merkt man, dass ein Tag beginnt und nicht endet, wenn doch alles genauso aussieht? Um sieben Uhr in den ICE. Um elf in Amsterdam. Febo de Lekkerste, frittierte Erdnussbutter aus dem Automatenbuffet. Pieter Cornelisz Hooftstraat: Hotel Museum. Dann Kinkerstraat, Markt. Museum het Schip, Amsterdamer Architekten Schule. Nordermarkt, Grachten, Richtung Osten, durch das Viertel, wo die Prostituierten in den Fenstern sitzen, was hier besonders demütigend wirkt, weil sie nicht nur von den Freiern, sondern auch von den Touristinnen begafft werden: „Na, hoffentlich erkälten die sich nicht …“ Wie spießig, idiotisch diese Reggae-Kiffer-Coffee-Shop-Kultur, die hier zu einem florierenden Zweig des Fremdenverkehrs geworden ist – mit allen dazugehörigen Merchandising-Produkten. Die Oude Kerk, wo Jakob Klein begraben ist, hat geschlossen. Sonntag ins Van-Gogh-Museum: Caravaggio und Rembrandt und die ständige Ausstellung. Dann Rijksmuseum. Nachmittags nach Zandvoort, Spaziergang am Strand und auf dem Rückweg noch eine halbe Stunde in das schöne Bahnhofslokal von Haarlem. Indisches Abendessen und an den nächtlichen Grachten vorbei ins Hotel. Montag die große neue Wohnsiedlung auf der Insel im Nordosten, Dapperstraat-Markt und in das große Art-deco-Café an der van Baerlestraat, anschließend kurz in das zugige Hochhausviertel mit dem World Trade Center. Nachmittags auf den langen Markt in der Cuypstraat. Dort eine ehemalige Markthalle, die jetzt zu einem riesigen Lokal umgebaut wurde: „Bazar“. Als wir wieder auf die Straße kommen, packen die Marktleute ihre Stände ein, und auf den Dächern der umliegenden Häuser sitzen überall Graureiher, die darauf warten, sich an den Resten der Fischhändler gütlich tun zu können. Auf dem Bahnhof noch mal Automatenbuffet: Geflügelpressfleisch in frittierten Cornflakes. In den ICE. In Düsseldorf und Köln steigt ein wenig schütterer Frohsinn hinzu und beklagt sich über die „Poofköppe“. Um kurz nach 23 Uhr wieder zu Hause.

  Heute vor zwanzig Jahren wurde Olof Palme ermordet.  48813

 

 

Freitag, 24.2.2006 – Vieruhrzweiunddreißig, zweikommanull. Namenstag.

  Seltsame, zittrige Träume. Dunkel, irgendwas stürzt, Gesichter, Gelächter. Huschen. Krächzen. Röcheln. Erschrockenes Umdrehen. Ein Griff ans Herz. Ein Gesicht schiebt sich hinter einer Mauer hervor. Grinsen aus der Nacht. Etwas verschwindet hinter einer Ecke. Ein Flackern. Es erlischt. Da hinten ist Rettung. Ich sehe nichts. Wer ist da? Weiter, weiter. Warte auf mich! Nein. Zu spät. Alles ganz ungenau, aber sehr beunruhigend. 

  Entdecke gerade eine Mail, in der mir Philipp mitteilt, dass Benno Besson gestorben ist. Aber allein Philipps Namen zu lesen, macht mich ein wenig fröhlicher.

  6:13 – Wühle mich seit anderthalb Stunden durch den Kunstmarkt. Es gibt Bilder, die schon bei ihrer Entstehung so aussehen, als sei es ihr größter Wunsch, eines Tages als Druck oder Originalkopie (auch ein hübsches Wort) an der Wand eines Hotelzimmers zu hängen. 

  Tot ist Georg Christoph Lichtenberg, an dessen Grab ich in Göttingen fast täglich vorbeikam. 47155

 

 

Donnerstag, 23. Februar 2006 – Zehnuhrsiebenundzwanzig, zweikommavier.

  Gestern zweieinhalb Stunden Interview im HR mit Silvia Schwab für Doppelkopf. Anfangs ein wenig steif. Ich plappere Geläufigkeiten, bin aber noch befangen. Dann aber, als es um Schönheit, Tod, Trost und Kunst geht, kommt ein richtig guter Thrill rein.

  Heute im Gallus bei Radio MainFM. Und auf der Rückfahrt im Autoradio eine Lesung aus Heines Reisebildern. Dort das schöne Wort „todzärtlich“.

  Tot sind: Stan Laurel, José Afonso und Ofra Haza. 46871

 

 

Mittwoch, 22.2.2006 – Vieruhrsechsundzwanzig. Dreikommaein Grad.

  Gestern Million Dollar Baby: Eigentlich ein Liebesfilm, was man lange Zeit ahnt, manchmal auch spürt, aber erst am Ende wirklich erfährt – und auch da nur auf ganz vermittelte Weise. Das war wohl die einzige Möglichkeit, diese Geschichte zu erzählen, ohne sie zu zerstören. Die Stärke liegt im Unausgesprochenen. Am besten gefiel mir eigentlich am Anfang die Beziehung zwischen Hillary Swank und Morgan Freeman, so eine scheue Vertrautheit. –  Was zu meckern? Ja. Auch. Die Familie der jungen Boxerin ist eine Karikatur. Die niemals in Erscheinung tretende Tochter Clint Eastwoods ist ein gar zu ausgedachter dramaturgischer Kniff, wie überhaupt manchmal die Konstruktion des Drehbuchs allzu deutlich hervorschimmert. Und dass Hillary Swank sterben will, bevor sie den Applaus des Publikums nicht mehr hören kann, dass sie also so sehr an dem bißchen Ruhm ihrer kurzen Laufbahn hängt, macht die Figur kleiner als sie hätte sein müssen. Trotzdem, was für ein tolle Schauspielerin.

  “Große Gefühle verschenken – Supersüße Bärchenanimationen …” – Und diesen Schrott liest man dauernd so mit. Was für Behelligungen. Die bestimmt nicht folgenlos bleiben.

  Todestag: Von Antonio Machado, an dessen Grab in Collioure wir schon einige Male waren. Von Stefan Zweig (Selbstmord). Von Christoph Probst, Hans Scholl und Sophie Scholl (alle drei von den Nazis ermordet). Von Oskar Kokoschka und Andy Warhol. Und von Sandor Marai, der am 15.Januar 1989 die letzten Worte in sein Tagebuch schrieb: „Ich erwarte die Abberufung, ich dränge nicht, aber ich zögere auch nicht. Es ist soweit.“ Fünf Wochen später hat er sich in San Diego erschossen. 46492

 

Dienstag, 21.2.2006 – Fünfuhrsechsunddreißig. Vierkommanull.

  Gestern Lesung in Hofheim am Taunus. Auf den Rädern sind wir mit der Lokomotive Rotes Ritzel schon häufiger durchgekommen. (Gerade merke ich, wie gerne ich den Namen unseres kleinen Sportradkollektivs schreibe). Schöne, niedrige Fachwerkaltstadt, geduckte Häuserreihen, große Kneipendichte. Als ich ankomme, ist die Buchhandlung schon gut gefüllt. Ich verdrücke mich ein wenig auf die Seite. Bevor ich noch mit der Buchhändlerin gesprochen habe, rüpelt sich ein großer Kerl in den Raum: „Wer liest hier überhaupt?“ Man sagt es ihm, zeigt auf mich. Er will, er muss ein Foto machen. – Bitteschön. – Nee, nich so! Ich brauch ein Bild mit dem Publikum. – Nein, bevor wir nicht angefangen haben, setze ich mich nicht vors Publikum. – Muss aber. – Muss nicht! – Blödes Gerangel. Gekasper. Schließlich kriegt er sein Foto. Wir fangen an, der Laden ist übervoll. Schon wieder kein Mikrofon. Diesmal hätte ich sogar ein Headset genommen, um nicht gegen den Lärm des Heimwerkers im Nachbarhaus und das Husten und Schniefen der Erkälteten anlesen zu müssen. Die Stimme wird schwächer. Super anstrengend. Naja, bringe es mit einigen Verlesern über die Runde. Und wie immer sind die Leute freundlich.

  Lauf Richtung Lohrberg. Nach siebzehn Minuten fängt die rechte Wade an zu schreien. Laufe weiter, bis die vierzig Minuten voll sind, damit es wenigstens zwei Punkte für den Winterpokal des Rennradforums gibt. Rest nach Hause gehinkt.

  1902: Der Räuber Mathias Kneissl wird hingerichtet. 1919: Der Sozialist Kurt Eisner wird ermordet. 2005: Der Wolf von Eschweiler wird erschossen. 46240

 

Montag, 20.2.2006 – Neunuhrvierundzwanzig, fünfkommaneun.

  Hätte vor hundert Jahren, als die Häuser hier rundum erbaut wurden,  jemand aus diesem Fenster geschaut, er hätte fast dasselbe gesehen wie ich heute. Vielleicht, dass der Baum nicht so groß und keine Antennen auf den Dächern gewesen wären. Allerdings hat sich wohl der Blick gründlich verändert.

  Plötzlich nervt mich der Ton, den ich gestern bei dieser Theater-Geschichte angeschlagen habe. So kleinmütig-journalistisch.

  Tot sind Brigitte Reimann, Kurt Batt und Hunter S. Thompson. 46071

 

Sonntag, 19.2.2006  Zehnuhrsiebenundvierzig, achtkommanull Grad.

  So viel Aufmerksamkeit hatte das Frankfurter Theater seit der Aufführung von Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ nicht mehr. Aber gleich tun alle so, als handele es sich bei der kleinen Aussenstelle des Schauspielhauses im Gallusviertel um eine Art deutsches Abu Ghraib. Ein Schauspieler nimmt einem Kritiker seinen Notizblock aus der Hand und legt ihm stattdessen einen toten Schwan auf den Schoß. Der Kritiker verlässt den Saal und wird bei seinem Abgang beschimpft. Schlechtes Theater, mehr nicht. Aber gleich wird die Empörungs-Entschuldigungs-Maschine in Gang gesetzt. Der Kritiker ruft seinen Herausgeber an. Der Herausgeber ruft die Oberbürgermeisterin an, die das alles nichts angeht. Die Oberbürgermeisterin, die das alles nichts angeht, schreibt der Intendantin einen Brief. Die Intendantin knöpft sich den Schauspieler vor. Der Schauspieler wird „einvernehmlich“ auf Verlangen der Oberbürgermeisterin, die das alles nichts angeht, entlassen. Wie reflexhaft das alles geschieht, wie die Sprache sofort jedes Maß verliert: Skandal, unentschuldbar, tiefstes Entsetzen, brutal, Bestürzung, in aller Form, abgrundtief, unverzüglich. Plötzlich ist er wieder da, dieser Befehls-und-Gehorsams-Ton, dieses „Wollen wir doch mal sehen, wer hier die Macht hat“. Diese Koalition aus mächtiger Lokalpresse und Politik, vor der die Kultur im Zweifel zu kuschen hat. Nie habe er sich so „beschmutzt, erniedrigt, beleidigt“ gefühlt, schreibt der Kritiker. Der Schaden, den die Oberbürgermeisterin durch ihr Eingreifen der Kunstfreiheit in der Stadt zugefügt hat, dürfte um einiges größer sein, als jener, den die Gefühle des Kritikers genommen haben. „Daß eine unverzügliche, unzweideutige und umfassende Entschuldigung durch Sie bei Herrn Stadelmaier und der F.A.Z. zu erfolgen hat, dürfte sich von selbst verstehen.“ Hüstelhüstel, haben Sie was gesagt, Frau Roth?

  Zwei Stunden mit dem Rennrad durch die Wetterau. Endlich. Mühsam. 

  Todestag von Büchner, Hamsun, Gide. 45938 

Samstag, 18.2.2006 – Vieruhrzweiundvierzig, fünfkommaneun.

  Gestern Abend wieder die neuentdeckten Gulda-Aufnahmen der Klaviersonaten von Mozart gehört. Ist es für sein Klavierspiel egal, wo jemand herkommt? Könnte Lang Lang sie also genau so spielen wie Gulda? Kann eigentlich nicht sein. Es gibt ja keine Gleichgültigkeit. Es kommt ja darauf an, was einer gesehen hat, wenn er als Kind aus dem Fenster geschaut hat, welche Lieder ihm seine Eltern vorgesungen haben, hat er Kuhglocken gehört oder Motorengeräusche, hat es nach Heu gerochen oder nach Ruß?

  Todestag haben Luther und Michelangelo. Geburtstag hat Heini Müller (FC Nürnberg). Um das auch mal zu sagen. 45686

 

Freitag, 17.2.2006 – Dreizehnsiebenundfünfzig. Neunkomma drei Grad.

  Gestern in den ICE. In Köln Aufenthalt, gerade genug Zeit für einen kurzen Blick auf den Dom. Weiter nach Krefeld. Eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich bin. Maxi-Döner, Ostwall-Schenke, Mangel-Service. Ein Polizistenpärchen auf Rädern schnappt sich ein Alkoholikerpärchen. Leer, tot, Regen. Mercure Hotel Krefelder Hof. Alles voller Gardejecken mit ihren Instrumenten. Es müssen hunderte sein. Ich bange um meinen Schlaf. Südflügel, dritter Stock, die Monet-Etage – und das mir. Taxi. Der Fahrer weiß auch nicht, wo wir sind. Hochstraße, Thaliabuchhandlung. Wir haben ein schönes Headset für Sie. Nee, oder. Geht auch so. Lesung, ok. Kurz in eine Absturzkneipe. Verraucht. Fünf verdrückte Gestalten an der Theke. Der Neue wird beäugt. Kölsch gibt es nicht. Williamsbirne? Gibt es nicht. Zwetschgenbrand? Aquavit? Nee, vielleicht wollen Sie einen kleinen Feigling? Nee, nee. Aber Fernet hamwer. Also gut. Eine kleine, arme Alte mokiert sich hinterhältig über den unentschlossenen, fremden Gast. Und wird postwendend von der verqualmten Bedienung, bei der sie sich doch hatte anbiedern wollen, angebellt: „Du hältst dein Maul, sonst zahlste und gehst. Hier kann jeder bestellen, was er will. Also halt dein Maul.“ Kurzer Blick zu mir, ein triefäugiges Lächeln. Auf sie kann ich bauen. So lange ich zahle, hä. Hotel. Fernsehen. Minibar. Baldrian. Schlafen. Frühstück. Weg!

  In Dresden hat die Polizei ein dreizehnjähriges Mädchen, fünf Wochen nachdem es auf dem Weg zur Schule verschwunden war, aus der Wohnung eines vorbestraften Sexualstraftäters befreit. Ein Passant hatte in der Nähe eines Müllcontainers einen schriftlichen Hilferuf gefunden, einen Zettel, den das Mädchen offensichtlich aus dem Haus hatte schmuggeln können. 

  Aufmacher des Kölner Stadtanzeigers: „Unser Heinrich Heine“. Aber der ist ja auch tot. Wie unsere Schwäne auf Rügen. 45532 Donnerstag, 16.2.2006 – Zehnuhrfünfundfünfzig. Achtkommavier.

Keine Zeit für Tagebuch. Der dicke Band über die „Neue Sachlichkeit“ ist gekommen.

  Todestag von Keith Haring. 45276

 

Mittwoch, 15.2.2006 – Dreizehnuhreinundzwanzig. Siebenkommanull. Regen.

  Gestern in Spangenberg. Was für ein deutsches Wintermärchen aus Fachwerk, Schnee und Burg und Gassen. Zwei Lesungen, freundlich, konzentriert, interessiert- besser geht es nicht. Und eine Frau aus dem Publikum will wissen, ob ich mir beim Schreiben womöglich die Frage stelle, was meine Mutter dazu sagen würde. Genau so ist es ja. Man denkt ja wirklich nicht an irgendwelche anonymen Leser, man überlegt sich, was die paar Leute, die man schätzt, deren Urteil einem wichtig ist, davon halten. Sie sind die einzige, aber unerlässliche Kontrollinstanz. Selbst, wenn man sie nicht fragen kann. Selbst, wenn sie schon tot sind.

  Heute dann Rückfahrt durch das verschneite hessische Bergland  –  keine Landschaftsform mag ich lieber, und jetzt ist sie für immer mit den Bildern Eugen Brachts verbunden.

  Treffe nach langer Zeit zufällig DD. Er tänzelt, strahlt, wirft sich in die Brust. Wie immer gehe es ihm prächtig. Wie schamlos das wirkt. Paß auf, denke ich, in zwanzig Jahren wird dir das vergangen sein. Aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht. Selbst wenn er dann im Rollstuhl sitzt, wird er immer noch gockeln. Das Ganze dann womöglich mit einer Spur Bitterkeit unterlegt. Was es auch nicht besser macht.

  Geburtstag haben Elke Heidenreich und Oscar Freire. Tot ist Lessing. 45106

Dienstag, 14. Februar 2006 – Sechsuhrelf, einskommasechs. 

  Manfred Großkinsky hat seinen Vortrag über Eugen Bracht geschickt. Bin ganz gierig auf den Text. Bracht hat gekämpft für den Naturalismus gegen die Romantik, dann für den Impressionismus gegen die Akademiker. Danach hört sein Verständnis auf, aber er hat es selbst am schönsten formuliert –  in einem Brief im Jahr 1915 an seine Tochter Toni:  „Ich mache die sonderbare Beobachtung an mir selbst, die ich fast nicht verstehe; wenn ich, wie vor 14 Tagen im Sächsischen Kunstverein moderne Ausgeburten sehe und zu erfassen suche, und mir immer von Neuem sage ‚Scheusslich – falsch! – absichtlich falsch absichtlich primitiv – Negerkultur –  dabei kann der Betreffende Etwas – er will blos nicht Pfui!’ , komme ich aber zu einem Nachbar, der in meiner Art und dem bisherigen Zeitgeist malt – sehe ich mit Entsetzen, dass das doch noch viel entsetzlicher ist – dabei auch leichenhaft und vorbei! und in Gedanken wandelt sich der grade vorhergehabte Eindruck in etwas Anderes um, scheusslich vielleicht – aber wenigstens nicht tot – nicht versimpelt, philiströs – sondern freilich scheusslich, aber lebend –  versprechend oder wenigstens Zukunftsmöglich – gegen das Biedere, das endgültig vorbei und aussichtslos ist, verständlich zwar, aber widerwärtig dumm!“  P. will wissen, was ich da lese. “Magst du den, der das geschrieben hat? Mag der dich auch?” Dann, wie dieser Bracht gemalt hat. Ich zeige ihr den Prospekt zur Ausstellung. „Oh Mann, der hat ja gemalt wie ein Weltmeister.“ 

  Auf die Straße Richtung Norden. Leider auf vier Rädern.  Geburtstag haben Guiseppe Guerini und Cadel Evans. Gestorben sind Jules Vallès, Marco Pantani und das Schaf Dolly. 44873Montag, 13.Februar 2006 – Vieruhrachtundzwanzig, nullkommanull. 

  Wolf Biermann nimmt Heines bevorstehenden Todestag zum Anlass, um den Lesern des „Spiegel“ zu sagen, dass sie jeden Gedanken an eine politische Alternative aufgeben sollen. Damit ihm jemand zuhört, tut er das, wie immer, im Ton des vorauseilenden Ungehorsams. Ein seit Jahrzehnten zu Kreuze Gekrochener, der noch mal seinen Auftritt als Rumpelstilzchen sucht.  Sein größtes Unglück ist wahrscheinlich der Untergang der DDR. Seitdem wendet sich sein gesamter Eifer gegen etwas Nichtexistentes.  Geboren wurden am 13.Februar zwei Georgs (der Maler Schrimpf und der Schriftsteller Simenon) und zwei Sigis (der Maler Polke und der DDR-Kosmonaut Jähn, dieser in einem Ort mit dem schönen Namen Morgenröthe-Rautenkranz). Obwohl ich mir weder Gedichte noch Witze merken kann, geht mir das Witzgedicht über den Stolz der DDR-Leute auf den „ersten Deutschen im All“ seit fast dreißig Jahren nicht mehr aus dem Kopf. „Kein Brett für die Laube, für’n Trabant keine Schraube, für’n Arsch kein Papier, aber ’n Kosmonauten haben wir.“ 

Tot ist Otto Niebergall, Verbindungsmann zwischen KPD und Resistance im besetzten Frankreich. 44591 

 

Sonntag, 12.2.2006 – Fünfuhrdreizehn, einkommadrei Grad.

  Gesternabend noch in vier frühe Lelouch-Filme geschaut, aber keinen ausgehalten.

  Aufs Rennrad? Nee, zu kalt. Also eine Stunde durch den Park. Der Weg vom oberen bis zum unteren Ende ist aufgerissen und umzäunt. Aber ein großer Teil der Zäune ist umgeworfen worden. Und von der Wand des Cafés hat man den kleinen Schaukasten abgerissen, zertrümmert und fünfzig Meter weiter an den Wegrand geworfen.

  Heute wird gemalt: Deutschland in Öl.

  Geburtstag hat der Pole Leszek Pękalski, der zwischen 1984 und 1929 wahrscheinlich achtzig Menschen tötete.Oft schlug er so lange mit einem stumpfen Gegenstand auf sein Opfer ein, bis dessen Leichnam nicht mehr zu identifizieren war. 

  Todestag des Komponisten Michael Altenburg – nie gehört. Aber auch von: Albrecht Altdorfer, Ludwig Börne und Thomas Bernhard. 44366

 

Samstag, 11.2.06 – Dreiuhrsiebenundfünfzig, nullkommaneun.

  Gestern Abend aus dem Augenwinkel ein wenig in Claude Lelouchs “Die Fahndung” von 1962 geschaut. Unglaublich schöne Schwarzweißbilder. Winterliche Autofahrten. Dauernd Überraschungen. Viele Randwahrnehmungen. Halbdokumentarisches. Sehr reich. 

  12:19 – Das Dorfbild ist gekommen. Knud Jespersen, 1930. Ein paar Häuser von hinten, verschneite Gärten, kahle Bäume, Mauern, Zäune. Da hängt auch Wäsche an den Leinen – ein Stückchen Rot in diesem winterlichen Grau und Schwarz und Weiß. Und schon das halbe Glück.

  Tot: Honoré Daumier und Sergej Eisenstein. 44188

 

Freitag, 10.2.06 – Sechsuhrvierundzwanzig, dreikommadrei.

  Nochmal zur Berlinale-Eröffnung. Warum muss eigentlich alles, was man sich in Berlin unter Glamour vorstellt, auf die zwanziger, dreißiger Jahre rekurrieren? Wie es mich schüttelte beim Anblick von diesem Max Raabe und seinem Palastorchester. Was bei den Comedian Harmonists lässig, charmant war, ist hier nur noch Krampf, verschwitzt, Attitüde, Überhebung. Und wer braucht überhaupt: Glamour? Nicht, dass es solche Veranstaltungen gibt, ist grauenhaft, aber dass die Filmkünstler meinen, sich mit derlei geliehenem Pomp dekorieren zu müssen. Sie hätten ja auch Grönemeyer nehmen können, Funny van Dannen oder Element of Crime. Ach, was reg ich mich auf …

  Und warum spielen sie eigentlich nicht gleich Mozarts Sinfonie Nr.33 mit dem Stuttgarter Radiosinfonieorchester unter Sir Roger Norrington, die hier gerade im Hintergrund läuft und die von einer so tänzerischen Leichtigkeit ist, dass man alle Berlinalen und Islamisten, Schlechtwetterproduzenten und Gästebuchspammer vergessen möchte, um allein mit sich ein klitzekleines Menuett durch die heimischen Salons zu tanzen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

  Vor einem Jahr starb Arthur Miller. 43986

 

Donnerstag, 9.2.2006 – Fünfuhrfünfzig, zweikommafünf.  

Sie haben 16 neue Mails in ihrem Postfach.  – Tut mir leid, hab keine Zeit, muss die Vierteljahressteuer machen.

  Ok, schnell noch den Kunstmarkt durchgucken … 90 Minuten später: Hoffentlich kommen bald die islamistischen Bilderstürmer und machen meinem Wahnsinn ein Ende. Dass man mal wieder zum Arbeiten kommt …

  Gerade jubelt da draußen schon der erste Frühlingsvogel, und ich renne ganz aufgeregt ans Fenster und glotze raus in die Dunkelheit, ob ich ihn irgendwo erspähe. 

  Heute im “Zeit-Feuilleton”: “Brigitte Bardot – Mein Mythos, was ist das?”. Heute im “Zeit-Leben”: “Martina Gedeck – Launisch – was ist das?” Ist es die Zeit der ratlosen Frauen? Oder muß man fragen: “Endredaktion, wie geht das?”

  Kunst: Talent vorausgesetzt, Wachheit, Neugier, Nervosität vorausgesetzt, besteht der große Rest aus Fleiß. Und Geschmack. Was heißt: der Vermeidung von Fehlern.

  Oh je, Eröffnungsgala der Berlinale. Der deutsche Film, heißt es, habe zu politischen Themen, zum Realismus zurückgefunden. Als hoffnungsvoller Beitrag gilt Oskar Roehlers “Elementarteilchen”. Aber als sie Ausschnitte daraus zeigen, sieht man nichts als Karikaturen, Lachnummern – wie befürchtet. Und dann ruft Klaus Wowereit live vor laufenden Kameras in den Saal: “Oskar, wo bist du?” Ja, Oskar, wo bist du?

  Den ganzen Abend an dem kleinen Porträt eines alten Mannes mit Kappe und Zigarette herumgefummelt. Nur Bleistift und Buntstift. Morgen vielleicht noch ein wenig schwarze Feder drüber, gar nicht so schlecht.

  Und langsam wird dieses einsame Selbstgespräch ein wenig weniger einsam. Danke Rudi, danke Leporello, Iris, Erika und Christian. Und Katharina? Mag sich nicht wieder melden?

  Todestag von Jules Michelet und Adolph Menzel. 43768

 

Mittwoch, 8.2.2006 – Fünfuhrneununddreißig, fünf Grad. Stürmisch.

  Eine Stunde Rolle. Ohne Musik. Ohne Worte. Es regnet.

  Musst du denn hier jede Kleinigkeit notieren? – Ja, muss ich. Ist halt mein Notizbuch.

  Gestorben ist am 8.Februar 1935 Max Liebermann (von dem berichtet wird, er habe bei Machtantritt der Nazis gesagt: „Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen möchte“).  Beerdigt wurde er auf dem Jüdischen Friedhof am Prenzlauer Berg. Gerade gesternabend las ich in dem dicken Heartfield-Band noch einige linke Dummheiten über Liebermann, der vielleicht neben Christian Schad der wichtigste deutsche Maler des letzten Jahrhunderts war. 

Todestag hat ebenfalls die Künstlerin und Ordensschwester Tisa von der Schulenburg. Sie starb 2001 im Alter von 97 Jahren. Max Liebermann hatte ihr Talent entdeckt, als sie 16 Jahre alt war. Was für ein Leben zwischen preußischen Generälen, den Künstlern der Boheme, hochrangigen Nazis, jüdischen Unternehmern, konservativen Widerstandskämpfern, katholischen Nonnen, arbeitslosen Bergleuten … 43578 

Dienstag, 7. Februar 2006 – Vieruhrachtundvierzig. Dreikommasechs Grad. Diese Hitze aber auch.   Das Dorfbild gehört mir.  

  Live auf Sendung. Der Moderator lächelt mich über den Studiotisch hinweg an: Ist es nicht das höchste Ziel jedes Autors, dass sein Roman verfilmt wird? – Ich schlucke trocken, bin so verdutzt, dass ich das Schlimmste mache: ich schweige. Und für einen Moment, habe ich den Impuls, diesem Typen …, nein, ich will ihn nicht einfach schlagen, ich will ihn regelrecht … nein, das darf man nicht schreiben. – Aber so sind sie, die meinen das ernst, die können schon nicht mehr anders.

  Endlich, nach fünf Jahren, in “Abfall für alle” die Stelle wiedergefunden, wo Goetz über den “wirklich bösen” Lottmann schreibt. Steht unter dem 1.8.98.

  Wußte gar nicht, dass Roehler die “Elementarteilchen” verfilmt. Und denke sofort: Oh je, das kann nicht gut gehen, da wird bestimmt im Kino wieder zu viel und über die völlig falschen Sachen gelacht.

  Eine Stunde Rollentrainer. Mmmh, Khachaturians “Säbeltanz” ist vielleicht ein bißchen furios zum Aufwärmen.

  Beim Einkaufen auf der Straße ein paar Schüler in der Mittagspause. Einer hebt den Kopf und blinzelt in den trüben Himmel: “Na Sonne, alte Haut, haste dich wieder versteckt.” Ich lache; er sieht mich an und lacht nun ebenfalls.

  Gerade in Kulturzeit: “Los Angeles, die Stadt der Stars und Sternchen…” Wenn ich es noch einmal höre, noch einmal diese abgenudelte Idiotenformulierung – ich schwör’s, ich schreibe “doof” an Eure Hauswand.

  Gestorben ist am 7.2.1979 der Arzt Josef Mengele im brasilianischen Bertioga. Er erlitt beim Baden einen Schlaganfall und ertrank. Die deutschen Behörden, die ihn wegen seiner zahllosen Morde in Auschwitz suchten, erfuhren erst sechs Jahre später von diesem Unfall. Bis über den Tod hinaus hielt ihm seine Umgebung die Treue. Seine Opfer, vor allem Zwillinge, die er zu Versuchszwecken tötete, nannte er: „meine Meerschweinchen“. 43354 

 

Montag, 6. 2.2006  Vieruhrachtundzwanzig. Nullkommaneun Grad. Plus! 

Was passiert? Kopfschmerzen. Nee, jetzt nicht anfangen, hier die kleinen Leiden aufzuschreiben.

  Wühle mich durch die Google News und werde auf einen Artikel von Peter verlinkt, den er für Spiegel online geschrieben hat. Auf einmal ist es, als ob er wieder hier neben mir sitzt. Schicke ihm gleich eine Mail.

  Und sonst: 23 mutmaßliche Al-Kaida- Leute sind aus einem Gefängnis im Jemen geflohen. Neues Notebook bei Aldi-Nord. Lance Armstrong und Sheryl Crow gestorben. Habe ich gerade ‘gestorben’ geschrieben? Haben sich nur getrennt.   

  Gerate auf eine Seite des Malers Carlo Mense. 1886 geboren, war er Mitglied der „Novembergruppe“ und Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Trotzdem erhält er noch 1933 den Rompreis und ist 1934 auf einem Foto vor der Villa Massimo mit Hermann Göring zu sehen. Drei Jahre später werden 34 seiner Werke als „entartet“ aus den Museen entfernt.

  Gerade mal überlegt, wie viele Bilder ich jeden Tag anschaue – Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. Es sind Tausende.

  Wie entwickelt sich eigentlich Geschmack? Vielleicht durch Fleiß. Durch Unbefangenheit. Vor allem aber durch Renitenz.

  Anruf Tagesspiegel, ob ich dieses Jahr meinen Fahrradartikel zur Tour de France schreibe, den ich letztes Jahr kurzfristig wieder abgesagt hatte. Gut, okay.

  Zeichne aus dem Netz das Gesicht eines alten Mannes ab. Dann schaue ich nach, um wen es sich überhaupt handelt: Günter Nobel, Jahrgang 1919, entstammt einer ungarischen Rabbinerfamilie, Studium der Volkswirtschaft, Schlosserlehre,  1936 Verhaftung wegen Hochverrats, drei Jahre Zuchthaus, Emigration nach Shanghai, dort für die US-Armee als Schweißer tätig, später höhere Funktionen in der SED, Ausschluss aus dem Zentralkomitee, als man von seiner Arbeit für die Amerikaner erfährt. Lebt in Berlin.

  Tot aber sind Gustav Klimt und Falco. 43141

 

Sonntag, 5.2.2006 – Achtuhrvier, minusdreikommavier.

  Echt tolles Fahrradwetter. Könnte man glatt die Badesachen einpacken und an den Baggersee. Nee wirklich, kann man sich doch nur noch warmzittern bei diesen Temperaturen. – Jetzt hör doch mal auf mit diesem Scheißthema. Ich versteh nicht, wie man daran auch nur einen Gedanken verschwenden kann. Das Wetter ist das Wetter, weiter gehts. – Ach ja, und an was bitte soll ich stattdeseen denken? Liebe, Zeitgeist, Weltrevolution? Bei diesen Temperaturen. Hier, hast Du gesehen, im Kühlschrank ist es wärmer als in der Küche. – Dann beschwer dich halt beim deutschen Wetterdienst, Blödmann! – Ja, Du wirst lachen …

  Undsoweiter.

  Gestorben ist Leopold Joseph Graf Daun, der Erfinder der Bettfedern. 42904 

Samstag, 4. Februar 2006 – Neunuhrzweiundvierzig, nullkommasieben. Gestern vergessen: den Todestag Heinrich Heines. Ausgerechnet. Dabei war ich an keinem Grab öfter.

  Gesternabend mit Jürgen, Ati und Janina nach Hochstadt, wo Eva im Alten Rathaus die Ausstellung mit ihren Bildern und den schönen objets trouvés eröffnet – Rost, Knochen, Gräten, Schrauben und lustige Titel. Der Bürgermeister spricht, witzelt, Rainer liest ein paar Arp-Gedichte, Brezeln, Apfelwein. Und wie immer auf solchen Veranstaltungen diese Mischung aus Sprachlosigkeit, Entzücken und verhohlenem Mißtrauen angesichts der Bilder. 

  Große Runde im benachbarten Restaurant, schlechte Muscheln und ein Dorfgewisper über die Wirtin, den Wirt und die vietnamesischen Küchenmädchen. Und über einen sagenhaft reichen Künstler, der in der Nachbarschaft wohne und dessen Haus gefüllt sei mit unendlich wertvollen Kunstschätzen aus allen Zeiten und Ländern. Zuhause gebe ich seinen Namen dann in die Suchmaschine ein: 394 Hits. Gerate auf eine Seite, wo seine Sachen abgebildet und wortreich erklärt sind. Und bekomme in der dunklen, leeren, kalten Wohnung einen Lachanfall. Mein Gott, welch gigantischer Bluff.

  Male in der Nacht noch anderthalb Stunden, fummle so rum, ja, jetzt noch ein roter Hintergrund, alles ohne Überzeugung und völlig misslungen. Ein blöder Picassoabklatsch. Also vor den Schirm und weiter mit der ersten Folge „Cracker“ – schlafe nach zehn Minuten ein.

  Und heute geht es wieder so los. Nach drei Stunden entnervt aufgegeben. Was für eine Schmiererei aber auch. Dann eben wieder “Cracker”. Auch wenn einem das brachiale Großmaul Coltrane und seine schweinchenschlauen Monologe auf die Dauer gehörig auf die Nerven gehen – wie großartig das inszeniert ist, welch tolle Gesichter, Stadt- und Straßenbilder man zu sehen bekommt.

  “Wirklichkeit und Verlangen” – schöner Titel. Von Hundsdörfer kommt: “Die Abschaffung der Dummheit”.

  Wie wenige Adjektive einem doch zur Verfügung stehen, wenn man nur kurz sagen will, dass einem etwas gefällt: “schön”, “gut”, “toll”, “wunderbar”, “gelungen”. Aber “gelungen” klingt schon fast gesucht. 

  21:06 – Von Jürgen und seinem sensationellen gefüllten Kraut kommend. In der dunklen Eichwaldstraße ein weißer, kleiner Wagen, Fiat Cinquecento oder so. Hinterm Steuer ein dicker Mann, auf dem Beifahrersitz eine dicke Frau. Jeder hat einen Pizzakarton auf dem Schoß, beide kauen. Gleichzeitig gestikulieren sie und schreien sich so laut an, dass man es trotz der geschlossenen Scheiben bis auf die Straße hört. Guten Appetit. Mit vollem Mund spricht man nicht.

  Das war’s für heute.

  Tot sind Patricia Highsmith und der Räuber und Schriftsteller Henry Jaeger, der hier in Bornheim geboren wurde. 42680

 

Freitag, 3.Februar 2006 – Dreiuhrzehn, minus vierkommanull.  Wie immer: Aufgewacht, erster Blick auf den Wecker, Licht an, aufstehen, ins Arbeitszimmer, Ofen an, Rechner an, Bildschirm an, in die Küche, Espressomaschine einschalten, Wasser aufsetzen, Milch in die Mikrowelle, Zähneputzen, halber Liter Orangensaft, Kaffeebohnen mahlen, Milch schäumen, Espresso brühen, ins Arbeitszimmer, Verbindung ins Netz, alles wie immer, aber dann: „Die gewünschte Seite kann nicht aufgerufen werden. Möglicherweise sind technische Schwierigkeiten aufgetreten. Überprüfen Sie Ihre … blabla …“ So, und jetzt? 

Halt auf die Rolle. Eine Stunde. Wanne.

Oh, wieder auf Sendung.Am 3. Februar 1998 wurde Karla Faye Tucker Brown in Texas durch eine Giftspritze hingerichtet.  Der damalige Gouverneur von Texas, George W. Bush, hatte das Todesurteil unterschrieben und einen Aufschub der Exekution abgelehnt. Es wird berichtet, er habe die Delinquentin nachgeäfft, in dem er mit winselnder Stimme deren Bitte um Gnade wiederholt habe: „Bitte töten Sie mich nicht.“ 42357

  

Donnerstag, 2.2.2006 – Siebenuhrsieben. Minus dreikommasechs.

  Am Nebentisch ein Paar. Schweigen. Irgendwas ist vorgefallen. Dann er: Man kann nicht alles haben, das weißt du ganz genau. – Sie, nach einer Weile: Doch, kann man! – Steht auf, geht und kommt nicht wieder. 

  Eine Stunde auf der Rolle mit Purcells King Arthur. Als “How blest are Shepherds” kommt, muss ich unterbrechen. Wie stumpfsinnig meine Bewegung, wie tänzerisch, hochfahrend diese Arie. Gibt es überhaupt eine schönere Musik? Die Hirten besingen ihr Glück: “And when we die, ’tis in each others Arms”.

  In der “Zeit” ein Gespräch mit Peter Handke. Stürze mich darauf wie ein Süchtiger und beginne noch im Treppenhaus zu lesen. Ohne nachzuschauen, merkt man doch sofort, an der behutsamen Neugier der Fragen, dass es Greiner geführt hat. Handkes Zorn und seine verhaltene Emphase sind ein wertvoller Schatz, der für viele Zumutungen entschädigt. Seine Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Literatur leuchtet ein. Und dass er Stevenson und Balzac, die doch so gründlich anderer Natur sind als er selbst, seinen Respekt zollt, zeugt von seiner Sanftheit. So lange es einen wie ihn gibt, der so verrückt bei Sinnen ist, und wenigstens eine Zeitung, die ihn zu Wort kommen läßt, ist man nicht gänzlich ungeschützt. Will ich mir einreden.

  Sandy Casar hat Geburtstag. Max Schmeling ist vor einem Jahr gestorben.  42147

 

Mittwoch, 1.2.2006 – Fünfuhrvierundvierzig. Minus dreikommaeins. Von wegen Frühling.

  Gestern erzählte Piwitt am Telefon, dass man Reich-Ranicki am Samstag von einer Veranstaltung weg in ein Hamburger Krankenhaus gebracht habe. Gerade lese ich, dass er wieder entlassen wurde.

  Gestern in der Kneipe die heutige FR gekauft. Jetzt schlage ich sie auf und stelle fest, dass der Lokalteil fehlt. Es ist tatsächlich die reduzierte Deutschland-Ausgabe – na, vielen Dank. Und warum verkaufen die in Frankfurt eine Frankfurter Zeitung ohne Lokalteil?  

  In FR-Plus ein Text von Ricarda Junge über Krieg, Atom usw. Aber was ist denn das für ein Ton? So eine brave Mokanz, wie man sie eigentlich nur noch aus dem Kirchenfunk kennt. Nennt man das schon Ironie? Eigentlich kann ich mir überhaupt keinen Gegenstand vorstellen, bei dem eine solche Schreibhaltung angemessen wäre. Sie führt zu gar nichts, zu keiner Einsicht, zu keinem Gedanken, nicht mal zu einer Pointe. Und dann diese Bildunterschrift: “Ricarda Junge möchte manchmal am liebsten Bomben werfen.” Oh Gott, ja. Gibt es in dieser Redaktion eigentlich niemanden, der sich schämt, wenn er so etwas liest?

  Heute im Tchibo Newsletter: “Der maritime Wäsche-Mix. Wäsche ahoi!”

  Robert Musil: “Tagebücher? Ein Zeichen der Zeit. So viele Tagebücher werden veröffentlicht. Es ist die bequemste, zuchtloseste Form. Gut. Vielleicht wird man überhaupt nur noch Tagebücher schreiben, da man alles andere unerträglich findet. Übrigens wozu verallgemeinern. Es ist die Analyse selbst; – nicht mehr und nicht weniger. Es ist nicht Kunst.” Und wo hat er’s geschrieben? In seinen Tagebüchern!

  Wie sie in ihren Feuilletons, Klappentexten und Werbebroschüren immer so neckisch damit kokettieren, dass etwas “politisch unkorrekt” sei. Dieses Buch, jener Film, jener Künstler: “garantiert politisch unkorrekt”. Als hieße das nicht immer und zuerst: gegen Schwule, gegen Schwarze, gegen Juden, gegen Türken, gegen Frauen.

  Abends HR. Hauptpforte. Ja, da holt Sie gleich jemand ab, Sie können noch einen Moment in der Halle Platz nehmen. Ja, danke. Kommt aber niemand, stehen so lebensgroße Karnevalspuppen rum: Mitgemacht, mitgelacht – Frankfurt feiert Fassenacht. So ähnlich. Dann kommt ein Kleiner, Netter, Dunkler mit flinken Augen. Ich bin der Producer, warum gibt man sich einen Künstlernamen? fragt er. Gut, die Geschichte … Dann Studio. Damen, Wasserkocher, Teebeutel, Händeschütteln. Die Moderatorin kommt gleich. Dann weiß keiner weiter. Soll ich schon rein oder mich hinten an den Tisch setzen? Keiner sagt was, alle pusseln so rum. Ein bißchen verdrückt. Dann aber Susanne Schwarzenberger. Zwei Stunden mit Wetter, mit Verkehr. Und mit Musik, die einfach nur läuft. Fragen, Antworten, höflich. Ein Fernfahrer ruft aus seinem LKW an und will wissen, wie ich Mankell finde. Jörg und Alex schicken Mails ins Studio. Bin verdattert – woher wissen die? – reagiere uncool, freue mich. Tja, das war’s schon. Zwei Stunden gehen so schnell rum. Danke, und vielleicht bis irgendwann mal. Nach Hause. Neblig. Es schneit.

  Buster Keaton ist tot. Und Hildegard Knef. Aber ihrer hatten wir doch gestern schon gedacht. (41878)