Geisterbahn. Tagebuch mit Toten
Freitag, 28. April 2006 – Sechsuhrzweiundzwanzig, elfkommacht.
Vorgestern Krafttraining am Berg mit dem SCF. Fünfmal Röhrborngasse (neunzehn Prozent Steigung), dann, inzwischen regnet es, fünfmal Neuer Weg (sechzehn Prozent). Der Postbote und die Bauarbeiter grüßen. Die Magnolien schütteln die Köpfe und werfen ihre Blüten nach mir. Von den Obstbäumen schneit es weiß. Abends mit Jürgen ins Burga. Kurzbesuche von Jürgen L., Stefan und Atilla.
Gestern früh in den Sender. Halbstündiges Gespräch mit der netten Frau Corlett für HRinfo. Einkauf, Aufräumen. Beantworte noch schnell die Fragen von Frau Andriof zum Thema Spannung. Kochen. Zwischendurch bisschen Liveticker Tour de Romandie. Und der Kommentar zu Jan Ullrich für die Giessener. Schließlich klingelt es, Philipp ist da. Freue mich riesig. Um 0.31 Uhr geht die Auktion auf das Pedersen-Bild zu Ende … Hat geklappt!
Tote des Tages: 1721 stirbt die Piratin Mary Read im Gefängnis. 1945 wird Benito Mussolini erschossen und kopfüber an einer Tankstelle in Mailand aufgehängt. 1976 will sich der Kindermörder Jürgen Bartsch kastrieren lassen und stirbt an der zehnfachen Dosis eines Narkosemittels, das ein Pfleger ihm verabreicht.
Mittwoch, 26. April 2006 – Fünfzehnuhrfünfunddreißig, achtzehnkommaacht.
Gestern am Vormittag kurzes Berg-Kraft-Training mit dem Strada in Bergen-Enkheim. Will aber versuchen, die Dreifach-Übersetzung nicht zu benutzen, also nur auf das mittlere Kettenblatt schalten. Leider hat der Radcomputer keinen Höhenmesser, so dass ich die Steigungsprozente nicht sehe. Mist, Handschuhe vergessen. Schlimmer noch: Wasser vergessen. Okay, ist das Rad wenigstens ein Kilo leichter. Zwei Mal die Röhrborngasse hoch. Klappt mit Mühen. Danach noch drei Mal den Neuen Weg. Zwischendurch kurz auf der Friedhofstoilette zum Wasserzapfen. Zurück über Seckbach. Gut zwanzig Kilometer in gut einer Stunde.
Jörg Erb ruft an, um einen Termin für „Ein kleiner Abend Glück“ zu machen. Und fragt, da in der Geisterbahn nichts darüber stand, ob ich etwa noch gar nicht wisse, dass E.A. Rauter gestorben ist. Bin vollkommen verdattert. Schaue ins Netz. Seit sechs Wochen schon ist er tot. Wegen einer unbedeutenden Sturzverletzung ins Krankenhaus eingeliefert, Komplikationen … Es ist Jahre her, dass er das letzte Mal anrief. Um zu sagen, wie gut ihm die Formulierung gefallen habe: „Wer keine Zeit hat, muss sie sich nehmen“. Noch so ein toter Lehrer … Sein letztes Buch habe ich noch immer nicht gelesen: “Leben buchstabieren”.
Am Montag auf der Hamburger Trauerfeier für Boehlich sei keine Musik gespielt worden, weil er Musik gehasst habe. Nur ganz am Ende sei ein kleiner italienischer Schlager zu hören gewesen, den allerdings habe er seit vielen Jahren geliebt.
Aus der FAZ: Ein Artikel über das Liebermann-Haus am Wannsee, das am kommenden Wochenende eröffnet wird. Selten habe ich einen so kenntnisreichen, engagierten architekturgeschichtlichen Artikel gelesen; man sollte ihn als Lehrmaterial für Journalistenschüler verwenden.
Todestag haben: Daniel Defoe, John Heartfield, Hubert Selby und Maria Schell, die in letzten Jahren fast nur noch im Bett lag und sich die Videoaufzeichnungen ihrer alten Filme angeschaut hat.
Dienstag, 25. April 2006 – Fünfuhrzweiundzwanzig, dreizehnkommasieben.
Ich kann es schon jetzt kaum noch abwarten, bis die Fußballweltmeisterschaft endlich … wieder zu Ende ist. Die Kontamination der Öffentlichkeit mit diesem Thema ist allumfassend und wohl nur mit der Strahlenbelastung nach dem Unfall in Tschernobyl zu vergleichen. Um den Behelligungen zu entgehen, müsste man die Zeitung im Kasten lassen, Fernsehen und Radio nicht mehr anstellen, das Telefon nicht mehr abnehmen, jedes Gespräch mit Fremden und Freunden vermeiden, sich zu Hause einsperren und, um die Fahne auf dem Balkon gegenüber nicht sehen zu müssen, auch noch den Rolladen runterlassen. Tut man das nicht, wird man unweigerlich mit den Seelenzuständen und Konflikten unserer Balldoofis konfrontiert: Deisler wieder depressiv. Scholl hoch motiviert. Basten sauer auf Makaay. Bierhoff schimpft auf Maier … Auf dem Prospekt des toom-Baumarktes eine Frau in der Hollywood-Schaukel (€ 69,95); sie tritt gegen einen Ball und ruft: „Super! Als Libero spiel ich groß auf.“ Bei Tengelmann rollt ein Ball über sämtliche Werbeseiten, denn hier gilt generell: “Eins zu Null für die Frische”. Bei Walmart hat man sich mehr Mühe gemacht: Hier gibt es „Kathi, die Fußballtooorte“ (€ 2,79), acht „delikate Saftwürstchen mit Riesen-Deutschland-Flagge“ (€ 4,44), Ballack als Cola-Dose (€ 0,39), Axe-Deodorant mit Lukas-Podolski-Trikot (€ 9,95), „Schinkenwurst fein mit Gratis WM-Terminplaner“ (€ 3,79), „Snäkx Mini-Fußball-Würstchen“ (€ 1,47), den „Lattenkracher-Krautsalat“ (€ 1,99), die „Schweinebauchspieß-Welle La Ola“ (das Kilo zu € 6,79) und – allen Spielern dringend zu empfehlen – „Scotch-Whiskey Golden Goal“ ( 19,98). Natürlich nur: „solange der Vorrat reicht“. Also: „schnell zugreifen!“ Oder gleich: „Kaufen wie die Weltmeister!“
Tot ist der Neonazi Michael Kühnen, er starb 1991 an, wie es heißt, „starker Medikamentenzufuhr“. Sein Leichnam wurde eingeäschert und auf dem Kasseler Westfriedhof beigesetzt. Später zeigte eine Freundin im Fernsehen eine Urne, in der sich angeblich seine Asche befand.
Montag, 24. April 2006 – Sechsuhrachtunddreißig, neunkommaeins.
Gestern morgen kurz nach acht vor dem Hauptfriedhof. Pepper verteilt die neuen Trikots. Nach und nach treffen sechs Fahrer der Lokomotive Rotes Ritzel ein. Biker mit seinem neuen Stevens. Über die Mainzer Landstraße nach Höchst, von dort kurz zum MTZ, aber da wartet niemand mehr. Pepper klopft den jungen Leiter der McDonalds-Filiale heraus, damit der ein Foto von uns macht. Erster Anstieg: Die Hölle von Epstein, später Ruppertshainer Berg und über Königstein, weil Atilla es so will, auch noch die Rampe hoch zum Feldberg, wo hunderte Motorradidioten versammelt sind. Insgesamt hundert Kilometer, tausendvierhundertdreißig Höhenmeter.
Todestag von Louis Trousselier, neunmaliger Teilnehmer der Tour de France und Sieger des Jahres 1905.
Gestern auf dem ZDFtheaterkanal das Concierto de Aranjuez von Joaquín Rodrigo mit dem Gitarristen Pepe Romero und der Academy of St. Martin in the Fields unter Marriner. Danach ein wunderbarer Film über den neunzigjährigen Komponisten. Wie angenehm es ist, diesen alten blinden Mann anzuschauen, der, wie es heißt, einmal sehr witzig und unterhaltsam gewesen sei, jetzt aber am liebsten lächelt und schweigt. Und daneben seine quirlige kleine Frau, die für ihn sieht und redet und ihm immer wieder ihre Hand reicht. Glücklich wirken die beiden, deren schlimmstes Erlebnis die Totgeburt eines ihrer Kinder in den dreißiger Jahren gewesen sei – In den Tagen danach habe er das berühmte Adagio des Aranjuez-Konzertes komponiert. Immer wieder versuchen die Tochter und die Enkelinnen des Alten, ihn zum Dirigieren, zum Singen, zum Geschichten erzählen zu bringen. Es ist, als wolle man einen alten, müden Zirkuspudel noch einmal in die Manege locken. Wie klug und einfühlsam aber Pepe Romero, der den “Maestro“ mit all seinen Depressionen und Krisen zu kennen scheint wie kaum ein anderer. Und der über diese Musik so klug zu reden und sie so zu spielen versteht, dass man künftig jeden mit Verachtung strafen sollte, der sie „gefällig“ nennt. Aber um den Preis welcher Höllengesichte sie zu enstanden sein scheint … Immer wieder seien Rodrigo Dämonen erschienen, und einmal habe er die siebenjährige Tochter von Freunden bei der Hand genommen und sie gebeten mit ihm durchs Haus zu laufen, um die Hexen zu vertreiben, die er dort gesehen habe.
Auf dem Markt Spargel gekauft – zum Preis eines Kalbsfilets. Dann kurz zu Saturn, tatsächlich, sie haben die Rodrigo-Aufnahme mit Romero und Marriner, sogar eine Dreifach-CD. Der Tag ist gerettet.
Den ganzen Nachmittag Bilder und Zeichnungen fotografiert, um sie ins Netz zu stellen.
Todestag haben Shakespeare, Cervantes und der Frauenrechtler Theodor Gottlieb von Hippel. In der Nacht vom 22. auf den 23. März 1945, als die Rote Armee bereits die Außenbezirke von Berlin erreicht hatte, ermordeten die Nazis im Gefängnis Lehrter Straße einige Widerstandskämpfer – unter ihnen: Albrecht Graf von Bernstorff, Rüdiger Schleicher und Klaus Bonhoeffer. Tot sind auch P.L.Travers, die Autorin der Mary Poppins. Und James Earl Ray, der Mörder von Martin Luther King.
Samstag, 22. April 2006 – Fünfuhrzweiunddreißig, vierzehnkommadrei.
Gestern Lauf zum Lohrberg, mühsam. Heute schreien die Achillessehnen.
„Offenbar ist die zeitgenössische Kunst dort angekommen, wo die Avantgarde sie immer haben wollte: mitten im Leben. Und das heißt auch: mitten auf dem Markt“, schreibt Hanno Rauterberg in der „Zeit“. Mein Gott ja, was für ein abgefuckter Begriff von Avantgarde. Und was für ein Leben, das offenbar nur noch denkbar ist als: Geschäftsleben. Als würde die Hausse der zeitgenössischen Kunst nicht weit mehr über diese selbst sagen als über jene Avantgarde, die den Namen noch verdient hatte und in deren Asche man jetzt pisst, damit wenigstens noch ein bisschen Rauch aufsteigt. Jörg Immendorf wird von der „Bild“-Zeitung „geehrt“ und „darf“ die „Bild“-Bibel illustrieren. Freilich, das hätte Matthias Beltz sich schöner nicht ausdenken können.
Hübsch in diesem Zusammenhang auch, wenn es über Samuel Keller, den Leiter der Basler Kunstmesse, heißt, er telefoniere unentwegt mit Sammlern, Galeristen und Sponsoren „und braucht deshalb sein Auge gar nicht, um zu wissen, wohin es mit der Kunst geht. Er hört, welcher Künstler groß wird, welche Galerie im Kommen ist.“ Der Rumor als einziges Kriterium.
Aus den Mitteilungen der Frankfurter Polizei: Obdachloser „angelt“ sich Schnaps aus den Kellern des ehemaligen Polizeipräsidiums. Vergewaltigung nach Zechtour. Sechzehnjähriger überfällt Rentnerin. Mann entblößt sich in der U-Bahn.
Tot sind Eduardo Lalo und die große Jeanne Mammen.
Freitag, 21. April 2006 – Fünfuhrachtundfünfzig, zehnkommafünf.
Gestern 50 Kilometer durch die Wetterau, avec le black.
Wofür überhaupt noch Reflexion, Diskurs in einer Umgebung, wo der „Spiegel“ als „seriös“ gilt? Es ist alles gesagt, was über die Verhältnisse gesagt werden kann. Etwas neu zu bedenken gäbe es erst, wenn es denn etwas Neues gäbe. Bis dahin bleibt den Künstlern nur ihre Funktion als leidlich intelligente Registriermaschinen.
Ludger Menke hat Recht: Anzicken (schönes Wort) ist peinlich und hat zu unterbleiben.
Tot sind: Gesche Gottfried, 1831 enthauptet wegen fünfzehnfachen Mordes. Samuel Langhorne Clemens, besser bekannt als Mark Twain, gestorben 1910. Karl Hass, SS-Offizier, 1998 verurteilt wegen seiner Beteiligung an dem Massaker in den ardeatinischen Höhlen, bei dem 335 Menschen ermordet wurden, gestorben 2005 in einem italienischen Altersheim.
Donnerstag, 20. April 2006 – Sechsuhrzehn, achtkommavier.
Endlich kann ich das kleine Bild von Max Hünten einstellen: „Die Lesende“. Eine Studie, leider undatiert, aber wohl um 1900 entstanden. Der Einfluss von Manet und Liebermann ist deutlich. Hüntens Großvater war der Komponist Franz Hünten, sein Vater der Schlachtenmaler Emil Hünten. Hünten studierte in seiner Geburtsstadt Düsseldorf und an der Académie Julian in Paris. Er wird der Künstlerkolonie Ahrenshoop zugerechnet. Gestorben ist er 1936; eine andere Quelle nennt 1923 als Todesdatum. Es heißt, er habe sich in der zweiten Lebenshälfte in Zingst an der Ostsee niedergelassen. Einige seiner Gemälde sollen im Jagdschloss Granitz hängen. Na ja, viel ist nicht herauszubekommen.
Gestern am Nachmittag 42 km durch die Wetterau. Wunderbar warm, viel Verkehr.
Anruf M. Will sich mit mir treffen, so schnell wie möglich. Was für Entwicklungen …
Doch noch ein Ausflug ins Burga, weil Anne und Bertram aus Indien zurück sind und erzählen, was man weiß: Dass ein unfassbares Elend herrscht, dass die europäischen Fremdarbeiter wie Aristokraten leben, dass es wimmelt und stinkt, dass alles sehr friedlich wirkt … Und drinnen am Tisch sitzen Jürgen und Stephan mit den Jungen.
In einem Literaturforum der Satz: „Ich habe nichts von der Autorin A. gelesen und nichts von dem Autor B. Und ich habe auch nicht vor, von den beiden je etwas zu lesen.“ Freilich, wir haben alle von den Meisten das Meiste nicht gelesen. Aber warum es mit solcher Selbstgerechtigkeit hinausposaunen? Wie viel Dummheit sich in diesem Stolz offenbart.
Tote des Tages: der Autor des „Dracula“ Bram Stoker, der Fotograf August Sander, der Dichter Paul Celan, die Schriftstellerin Elisabeth Hauptmann, der Mediziner und Dirigent Giuseppe Sinopoli und der Sänger Wolle Kriwanek.
Mittwoch, 19. April 2006 – Vieruhrsechsundfünfzig, zehnkommein Grad.
Gründonnerstag: Ankunft in Ziallerns, eine erste kleine Runde mit dem weißen Strada: 35,45 km. Karfreitag dann aber eine ausgedehntere Tour: Wittmund, Esens, Dornum, Norden und zurück. Hundertfünfundzwanzig Kilometer, davon sechzig gegen den Wind. Schnuppertage in Esens, überall diese Fummelläden. Mist, Bananen vergessen und alle Geschäfte geschlossen. Dann aber ein Lichtschimmer aus einem Tchibo-Shop bei Edeka-Neukauf in Dornum. Das Geklapper der Klickpedale auf den Fließen. Alle drehen sich um, glotzen mich an mit reglosen Gesichtern. Nie einen Rennradfahrer gesehen oder was? Zwei Brötchen, kleine Flasche Orangensaft, zwei Euro. Kurze, windgeschützte Pause in einem der aufwänidgen Haltestellenhäuschen aus Holz, die hier überall an den Straßenrändern stehen. Der Himmel: altmeisterlich. Alle sind wieder da: Fasan, Feldhase, Wildentenpärchen und Wiesel. Auf der Straße Froschmatsch, aus dem sich zwei Ärmchen dem Betrachter entgegenstrecken. Ein Rabe landet, schaukelt auf die Beute zu, schnappt sich das Aas und startet schwerfällig. Später: Hundert Meter vor mir liegt ein Fahrrad auf dem Weg. Ein Mann steht unterhalb der Böschung im Graben. Was macht der? Angeln, hier, in dieser Schlammpfütze? Nein, er hat so einen Greifer am Stiel, mit dem er sich die Pfandflaschen aus dem Schlick zieht. Als er mich hört, wendet er sich um, schaut mich an mit einem Gesicht, das für einen Moment zerrissen ist vor Schreck und Scham.
Samstag: Morgens eine Stunde Lauf Richtung Jever, nachmittags 65 km Rad. Sonntag: 52 km. Montag: nichts. Dienstag: wieder daheim, eine Stunde Trittfrequenz auf der Rolle.
Sie haben 58 Mails in Ihrem Postfach. Anruf Eva-Marie, na, das sind ja Nachrichten.
Todestag haben: Ernst Robert Curtius, dessen kleines Proust-Buch einer der klügsten philologischen Texte ist, die ich kenne. Konrad Adenauer. Jochen Ziem. Und Hermine Braunsteiner-Ryan, geboren 1919, Metzgerstochter aus Wien, frommes Katholikenkind, Aufseherin in Ravensbrück und Majdanek, genannt „die Stute“, 1949 verhaftet, 1950 entlassen, taucht unter in Queens, wird 1964 von Simon Wiesenthal entdeckt, später in die Bundesrepublik ausgeliefert und im Majdanek-Prozess wegen Mord, Beihilfe zum Mord und gemeinschaftlichem Mord zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt, 1996 durch Johannes Rau begnadigt.
Donnerstag, 13. April 2006 – Sechsuhreins. Fünfkommadrei Grad. Letzter Eintrag vor der Autobahn.
Gestern früh in den Lidl-Markt, um Powerfix zu kaufen, den „Fahrrad-Werkzeugkoffer 35-teilig“. Dann Steuer, Steuer, Steuer. Endlich fertig. Und weg damit. Weiter einkaufen.
Als ich wieder im Treppenhaus stehe: ein Riesendonnerschlag. Das Gewitter ist ganz in der Nähe. Schließe die Wohnung auf, wo Paula schon weinend in ihrem Zimmer steht und gerade telefonieren will. Dann schauen wir gemeinsam in den Himmel, aus dem es schwer herunterfällt: Kein Schnee, kein Regen, kein Hagel, irgendwas dazwischen. Ein ganz eigenes Bild, nie zuvor gesehen. Schon nach wenigen Minuten sammelt sich das Halbgefrorene auf dem Dach gegenüber und rutscht in die Regenrinne.
Eine Stunde auf den Rollentrainer, Trittfrequenz trainieren. Klamotten aus, alles noch schnell in die Maschine, in die Wanne, auf die Waage, kochen, essen … Erschöpft.
Und dann im Burga eine Riesenrunde, endlich mal wieder, was für ein Anblick, wie schön. Auf was sonst käme es an.
Zuhause noch kurz ins Netz. “Nächtliche Stadt” von Schnarrenberger ist für 1.310 Euro weggegangen. Ein lächerlicher Betrag für einen der Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit. Trotzdem, schön ist das Bild nicht, zu effektvoll. Also kein Bedauern. Viel mehr ärgere ich mich, den kleinen Holzschnitt von Hermann Engel vergessen zu haben.
Tot sind Emil Nolde, Veit Harlan, Felix Graf von Luckner. Und Giorgio Bassani, von dessen „Die Gärten der Finzi Contini“ mir kaum mehr in Erinnerung geblieben ist als der Eindruck einer ausgeprägten Herzensklugkeit.
Mittwoch, 12. April 2006 – Sechsuhrelf, fünfkommafünf.
Gestern früh einstündiger Lauf, Günthersburgpark, um den Friedhof, paar Hunderunden durch den kleinen Wasserpark, an der Autobahn entlang Richtung Seckbach, wieder zurück, kreuz und quer. Geht schon viel leichter als letzte Woche. Kalt, blau, schön.
Der UPS-Mann bringt den Katalog zur Ausstellung „Die 20er Jahre in Karlsruhe.“ Der Kulturamtsleiter Dr. Fath hatte versprochen, dass er versucht, ihn aufzutreiben. Sofort mache ich wieder ein paar überraschende Entdeckungen. Dabei auch Namen von Künstlern, deren Werke gerade für wenig Geld in Auktionen verkauft werden, fast hätte ich geschrieben: verschleudert.
Während ich weiter an der Steuererklärung hocke, läuft nebenbei wieder „Rhythm is it“. Bestimmt ein Film, der nichts Falsches will, der mit großem pädagogischem Ethos seine Sache vertritt. Und wenn es die Franzosen machen, gefällt mir so etwas ja auch – wie in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ oder in Philiberts „Sein und Haben“. Trotzdem bleibe ich dabei: Simon Rattles einfache, mit Emphase vorgetragene Wahrheiten lassen mich jedes Mal den Kopf schütteln. Das ist mir alles zu effektvoll, zu laut, mit zu viel Selbstgewissheit vorgetragen. Kann doch sein, dass die Sache richtig ist, aber der Ton mir nicht passt.
Todestag von Josephine Baker, Joe Louis, Luis Trenker, Rudolf Rolfs.
Dienstag, 11. April 2006 – Fünfuhrdreiundfünfzig, dreikommadrei.
Im Billigsupermarkt eine Frau, die man nur als ‘Dame’ bezeichnen kann. Groß gewachsen, Anfang sechzig, teurer Mantel, Feinstrumpfhosen, Pumps. Vor allem aber eine Dauerwelle wie kunstvoll gemeißelt. Irgendwas ist mit ihr, mir ihrer Haltung, ihrem Gesichtsausdruck. Sie wirkt versteift, sie hält den Kopf so weit erhoben, dass sie den Blicken der anderen Kunden keinesfalls begegnen kann, mit einer knappen Drehung weicht sie der Berührung eines alten Mannes aus. Ihre Nasenflügel beben ein wenig, als habe sie Witterung aufgenommen, wolle aber keinesfalls riechen, was da um sie herum in der Luft liegt. Endlich verstehe ich. Sie schämt sich dafür, hier mit uns einkaufen zu müssen. Alles an ihr sagt: Ich habe Besseres verdient. Alles an ihr nennt uns: Volk.
Helmut Kohl ist neuer Vorsitzender der SPD.
Dritte Folge Cracker, wieder eingeschlafen.
Tot sind Michael Curtiz, Jacques Prévert, Primo Levi, Francis Durbridge.
Montag, 10. April 2006 – Vieruhrzehn, achtkommavier.
Am Samstag den ganzen Tag an der Steuer gesessen, abends zu Stephan und Annette. Adrian K. kommt vorbei. Über Hauptschulen, Integration, Krankenversicherung für Hausmeister, Verelendung, Bürokratie, Hausbau in den USA, Zweit- und Drittjobs … oh je. Und natürlich über Boehlich. Annette will auf jeden Fall zur Beerdigung fahren.
Gestern um 7.45 Uhr kommt Atilla, Räder in den Wagen, nach Eppertshausen.
Im Auto spielt er mir die CD vor mit den vier Auswahlstücken von „Ein kleiner Abend Glück“ – zweite Gitarre, zweite Stimme, eine sagenhaft gute Aufnahmequalität, wirklich toll. Es nervt, dass wir niemanden haben, der den Abend für uns promotet. Na, wer weiß …
110 Kilometer durch Rodgau und Odenwald. Wieder auf dem schwarzen, also ohne Tacho. Wir sind in einer Gruppe mit sieben Fahrern unterwegs. Lockere Tour, gutes Wetter. Aber unterwegs startet plötzlich am Straßenrand ein Schäferhund, hetzt neben uns her, immer weiter, wir beschleunigen, haben Angst, aber der Hund ist immer noch hinter uns, durchquert die nächste Ortschaft, läßt auch nicht von uns ab, als wir ein paar langsamere Fahrer überholen, und gibt erst nach ungefähr sieben Kilometern auf, als wir an einer Abfahrt nochmal die Geschwindigkeit erhöhen können. Als wir zurückkommen, ist das riesige Kuchenbüffet, das dort am Morgen aufgebaut war, bereits völlig leer. Nee, aber Bratwurst und Bier mag ich jetzt auch nicht. Also nach Hause.
Später noch zu Annette und Dirk, Schokoladenfondue, was heißt, ich muss das Obst halt ohne Schokolade essen. Abends ein wenig in „Rhythm is it“ geschaut, gleich geht mir dieser schlichte amerikanische Pädagogenton wieder auf die Nerven, schlafe ein.
Am 10. April 1919 wurde Emiliano Zapato in einen Hinterhalt gelockt und erschossen: “Es mejor morir de pie que vivir de rodillas!” (“Lieber aufrecht sterben, als auf den Knien leben!”)
Samstag, 8. April 2006 – Vieruhrsiebenundzwanzig, siebenkommadrei.
Gestern: Früh die Hausstrecke auf dem Schwarzen, 42 Kilometer. Mühsam, wieder sehr kalt. Aber auf den Feldern sprießt das erste Grün, ein paar Kühe sind schon wieder auf den Weiden, und auf den toten Bäumen sitzen weiter schwarze Vögel.
Wolf Biermann verlässt Kiepenheuer & Witsch, weil es in einem dort erschienenen Buch hieß, es sei still um ihn geworden. Was für ein egomanischer Kleingeist! Als könne man ihm nicht weiß Gott härtere Vorwürfe machen. Und als sei es nicht gerade im Sinne der Autoren, wenn Auseinandersetzungen auch innerhalb eines Hauses stattfinden können. Wie soll es denn auch anders sein, da die größten Buchverlage inzwischen in der Hand von ein paar wenigen Verlegern sind.
Am Mittag klingelt es, Jan steht auf der Treppe, ein wenig unentschlossen, druckst, dann sagt er, dass er sich zu einer Tasse Kaffee einladen wolle. Und wir reden eine hübsche Stunde lang über Kunst, Mickey Mouse, Batman, Flaubert, Cracker, Monk … Plötzlich sagt er, so von unten rauf lächelnd, den Satz: „Man sollte das Fernsehen viel mehr loben“.
Friseur, Einkauf, dann zu Böttgen, Plauderei mit Jörg Müsse. Probiere zuerst die Roeckl-Handschuhe durch. 9,5 passt perfekt, aber entweder sind sie mir zu wenig gepolstert oder zu viel. Entscheide mich für die Specialized BG Comp in XL.
Abends die zweite Folge von Cracker. Aber nach siebzig Minuten mache ich schlapp. Das Ganze hat manchmal so einen blöden Bonnie & Clyde – Touch, der aber völlig unangemessen ist und ganz unglaubwürdig wirkt.
Und den ganzen Tag Gedanken an Boehlich. Martin Lüdkes respektvoller, aufrichtiger Nachruf in der FR klingt so, als habe auch er mal eine Bisswunde davon getragen. Aber wer hätte das nicht, der in Boehlichs Umgebung stand. Hatte er eigentlich irgendwann mal einen Hund? Plötzlich will ich ihn mir gar nicht mehr anders vorstellen als mit einem kleinen Schnauzer.
Todestag von: Melitta Gräfin Schenk von Stauffenberg, Pablo Picasso
Freitag, 7.April 2006 – Vieruhrzweiundvierzig, fünfkommaein Grad.
Was für ein sonniger, kalter, blauer Tag das gestern war. Dann aber ein langes Telefonat mit Rolf-Bernhard über Unerfreuliches.
Schließlich am Mittag die Nachricht, dass Walter Boehlich gestorben ist, (dessen Namen mein blödes Word-Korrekturprogramm nicht kennt und deshalb als Fehler kennzeichnet; bei Goethe zuckt es nicht). Vor Jahren hatte ich Boehlich gefragt, ob wir nicht mal einen Band mit seinen Essays und Kritiken zusammenstellen wollen. Er biß auf seine Pfeife und sagte: „Nein“. – „Also wollen Sie sterben und vergessen werden?“ – Die Antwort: „Ja!“ und ein Lächeln. Sonst nichts.
In den Oeder Weg zu Bicycles, aber der Laden ist weg und keiner, den ich frage, weiß etwas. Umgezogen? Nee, als ich daheim auf die Homepage schaue, sehe ich, dass gar keine Filiale mehr in Frankfurt verzeichnet ist. Also zu Bikemax in die Hanauer Landstrasse, aber wie mich dieser Laden nervt; gleich wieder raus.
Abends noch eine Mail von RB, die auch nichts besser macht. Jetzt ist auch er noch verstrickt in meinen Streit. Und immer noch nichts Neues über „Tage und Nächte“. Was für ein Geschäft …
5:02 Uhr – Gerade will ich diesen Eintrag ins Netz stellen, kommt mal wieder die Meldung: „Die Seite kann nicht aufgerufen werden …“ Oh, da ist sie schon wieder. Und was mach ich jetzt mit dem „Gästebuch“? Schließen wegen Friedhofsruhe? Aber da sind ja zwei neue Beiträge … Am Ende kommt doch noch Bewegung rein …
5:29 – Alles abgestürzt … Alles? Nein, nur das DSL-Modem hängt. Grauenhaft, wie viel Zeit mit diesen technischen Unzulänglichkeiten draufgeht …Und das Bild von der “Lesenden” läßt sich auch nicht hochladen, es erscheint bloß eine leere Fläche mit einem einem kleinen roten X in der Ecke. Und warum? Zu blöd? Ich?
Tot sind Georg Herwegh, Suzanne Valadon, Siegfried Buback, Bruno Apitz, Carl Schmitt, Wolfgang Mattheuer, Max von der Grün. Und Nina von „Nina & Mike“ (einer der Hits des Duos war die deutsche Version von „When I´m Dead And Gone“).
Donnerstag, 6.April 2006 – Sechsuhrsiebenundvierzig, einkommavier Grad, wird Winter.
Von Gestern: Die neuen Bremsen für das Strada sind schon da, baue sie gleich an. Klasse, funktioniert prima. Hat aber doch über eine Stunde gedauert. Dann schnell Kartoffeln schälen, Bohnen aufsetzen, bin im Verzug, es klingelt, aber es ist nicht Paula, sondern der Paketpostbote, er bringt das Bild, die „Lesende Frau“, muss mich zurückhalten, die Verpackung gleich aufzureißen …, dann aber doch. Ist kleiner, als ich dachte, auch blasser. Irgendwas weht beim Essen noch von den Fernsehnachrichten herüber: Gewalt an den Hauptschulen, Streit um die Integration, schlimmster Fall von Vogelgrippe … Dann mit Jürgen W. ins Burga, verabreden, dass wir uns am Montag, das Nishiki anschauen. Dann kommt Jürgen K. Und wir unterhalten uns über Jürgen L. und Jürgen H. Wahrscheinlich kommen die Kopfschmerzen von diesen verwirrend vielen Jürgens. Später Atilla, bringt den Zahnkranzabzieher mit. Ja, er fährt Eppertshausen am Wochenende mit.
Reiche Ernte für den Tod: Raffael, Albrecht Dürer, Sam Sheppard (ein Arzt und Justizopfer, dessen Geschichte die Grundlage für die Richard-Kimble-Filme war), Igor Strawinsky, Stephan Hermlin, Martin Sperr.
Mittwoch, 5. April 2006 – Fünfuhrachtundvierzig, vierkommaeins.
Gestern am Morgen mit dem Schwarzen die Hausstrecke – 42 km durch die Wetterau. Ungewohntes Gefühl, ohne Computer zu fahren, dauernd geht der Blick auf den leeren Lenker. Vielleicht aber auch mal ganz gut, nur auf seinen Körper zu hören und sich nicht von den Zahlen antreiben oder entmutigen zu lassen. Am späten Nachmittag dann noch mal einen Stunde auf die Rolle und Trittfrequenz trainiert.
8:25 Uhr – Eine Stunde kreuz und quer gelaufen: durch den Park, Bornheimer Friedhof etc. Kam mir vor, als sei es die längste Stunde meines Lebens.
Dantons Tod jährt sich zum zweihundertzwölften Mal. Außerdem: Howard Hughes, Kurt Cobain, Allen Ginsberg, Saul Bellow.
Dienstag, 4. April 2006 – Sechsuhrzehn, siebenkomma Null.
Das Paniermehl heißt „Osna“. Was lese ich stattdessen? Osama! Aus dem „Sparkurs“ wird Spartakus, aus den Autorinnen ein Autorennen, aber aus der Autopiste eine Autopsie.
Von Gerhard Steines kommt der Link auf unser neu eingerichtetes Forum. Das will also auch noch bedient werden. So langsam nehmen die Nebensachen einen Achtstundentag ein.
„Denn nichts ist peinlicher als ein Künstler, der sein Werk erklärt“, schrieb der Literaturkritiker Volker Weidermann am 15.Oktober letzten Jahres in der FAZ. Gestern nun im selben Blatt: Volker Weidermann erklärt den Kritikern sein Werk. Viel zu bieten hat er nicht. Und keines seiner Kriterien ist ein literarisches. Abseitigkeit und Unter-sich-bleiben findet er doof, Popularität und Öffentlichkeit findet er gut. Langeweile ist bäh, Leidenschaft ist prima. Gott ja, da ist es wieder, dieses Hauptwort aller Denkfaulen: Leidenschaft. Als würde nicht im Zweifel jede Sauerei reinen Herzens und mit Leidenschaft begangen.
Todestag von Martin-Luther-King und Max Frisch.
Montag, 3. April 2006 – Vieruhrdreizehn, siebenkommavier Grad.
Gestern am Vormittag in der Lutherkirche, wo ich den alten Türken wieder sehe, mit dem ich vor Jahren durchs Viertel geschlendert bin, als er seine Verwandtschaft besuchte. Damals erzählte er mir, dass er mit seinem kleinen Boot in Griechenland Urlaub gemacht habe und in einer Bucht vor Anker gegangen sei, als ein Mann auf ihn zugekommen sei und gefragt habe, ob er Schach spiele. Man habe ihn in die Nachbarbucht geführt und auf eine große Yacht gebracht. Dort habe ihn, den fremden Türken, bereits König Juan Carlos von Spanien erwartet, der dringend einen Mitspieler für seine Schachpartie gesucht habe. Während er mir das erzählte, klappte immer wieder das Gebiss des alten Mannes herunter. Damals hatte er noch schwarzes Haar. Jetzt ist er weiß, sitzt im Rollstuhl und schaut zu, wie eine seiner Enkelinnen getauft wird.
Mit Atilla über Bonames, Kalbach, Oberursel auf den Feldberg. Mühsam, aber gut und nötig. Oben hat sich ein Mountainbiker in dem Glaskasten der Bushaltestelle verschanzt, um sich umzuziehen. Für ein paar Minuten verkriechen wir uns ebenfalls dorthin, dann machen wir uns auf die Abfahrt – eine windige, nasse, kalte Hölle.
Abends beim Zeitung lesen stoße ich auf die kleine Auseinandersetzung um Volker Weidermanns „Lichtjahre – Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur“. Schon die Passagen, die Ulrich Greiner in der “Zeit” zitiert, klingen so debil, dass sie etwas anderes als einen Verriss unmöglich machen. Und der Satz, mit dem sich Maxim bei einem öffentlichen Krawallauftritt über die Kritik an dem Buch beschwert, wirkt auch bloß verlogen. Wie überhaupt das Ganze schon wieder nach so einer inszenierten Mediennummer aussieht. Von wegen Leidenschaft; es ist das reine Kalkül. Mein Gott, riecht das alles schlecht.
9:43 Uhr. Gerade aus der Wetterau zurück, 42 Kilometer mit dem Weißen. Bei einer Gesamtkilometerzahl von 7145 km gibt der teure Ciclomaster seinen Geist auf.
Erschossen wurde vor 124 Jahren Jesse James von einem Mitglied seiner ehemaligen Bande. Hingerichtet wurde vor siebzig Jahren Bruno Richard Hauptmann wegen der Entführung und Ermordung des Sohnes von Charles Lindbergh. Gestorben sind Kurt Weill und Graham Greene
Sonntag, 2. April 2006 – Fünfuhrsechsundfünfzig, achtkommadrei.
Am Freitag um achtzehn Uhr in den ICE. Überfüllt. Auf den Gängen stapeln sich Taschen und Koffer. Dazwischen hocken, liegen, sitzen, stehen, stinken die Leute. Eine Stunde später Ausstieg in Karlsruhe. Rechts das Hotel, vor dem im letzten Jahr die Teambusse der Tour-de-France-Mannschaften standen. Zu Fuß Richtung Innenstadt. Plötzlich das Gekreisch Tausender Kinder. Dann ein Plakat: Ein Privatsender lässt eine Popgruppe auftreten. Das Geschrei der Fans hört sich einstudiert, nachgemacht an: Wir spielen Hysterie. Weiter, Ettlinger Tor, Marktplatz, Hotel Kaiserhof. Nee, für einen Herrn Altenburg ist hier kein Zimmer reserviert. Versuchen wir’s mal mit Seghers. Gut. Kurz aufs Zimmer. Und, was hängt an der Wand? Ein kleiner Monet. Aber weil alles immer noch schlimmer kommen kann, an der anderen: ein großer Dalí. Bin wirklich kurz versucht, ein neues Zimmer zu verlangen. Gehe in den „Raum Baden“, blättere noch ein wenig in der FAZ, stoße auf das „Selbstbildnis im grünen Hemd“ von Christian Schad, eine schauderhafte, winzige Reproduktion, aber was hat das hier zu suchen? Ah, Wolfgang Joop ruft die „Neue Sachlichkeit“ in der Mode aus. Mein Gott, ja, der Mann gilt als Intellektueller unter den Modemachern.
Zwanziguhrzwanzig: Frau Floto vom Kulturamt holt mich ab. Wir gehen in dieses riesige Einkaufszentrum, Rolltreppen hoch, und stehen vor den verschlossenen Türen der Thalia-Buchhandlung. Aber da wartet ja schon Alex mit einem Freund, Matthias; sie sind extra aus Mannheim hergekommen. So, denke ich, jetzt kann nichts mehr passieren. Aber dann stehen wir rum und sollen auf den Filialleiter warten, aber der kommt nicht, hat unten noch zu tun. Ach so, die Lesung ist gar nicht in der Buchhandlung, sondern mitten in der offenen Halle dieser riesigen Mall, die jetzt für die Kunden geschlossen wird. Als nichts passiert, gehen wir schließlich runter. Ein bisschen plaudern mit dem Leiter des Kulturamtes, dabei erfahre ich, dass die Ausstellung „Karlsruhe in den zwanziger Jahren“ gar nicht mehr läuft. So ein Mist.
In der Mitte dieser Halle, erhöht zwischen plätscherndem Wasser eine Art Laufsteg, darauf ein Tisch, ein Stuhl. Ich soll also auf dem Laufsteg lesen? Mikro, Licht? Kommt alles, sagt der freundliche, junge Leiter der Buchhandlung. – Herr Marschall? Wollen Sie vielleicht lieber ein Headset? Hilfe, nein! Ok, fangen wir an. Nette Begrüßung. Ich geh da rauf, setze mich, das mit dem Licht klappt nicht, geht auch so, Hauptsache, ich sehe meinen Text. Aber der Lärm hört nicht auf. Irgendwo wird ein Boden abgeschliffen, Reinigungsgeräte, Geschirrklappern, immer wieder ein piependes Warngeräusch, oben auf den Balustraden Lärm von Jugendlichen. Mein Rücken verkrampft sich. Da wuselt doch irgendwer die ganze Zeit hinter mir rum. Ich merke, dass das Publikum völlig irritiert ist. Niemand kann sich konzentrieren. Was soll ich machen, abbrechen? Vielleicht wären alle erleichtert? Oder sauer? Nee, ich ziehe das jetzt durch. Aber ich spüre überhaupt keinen Reflex von den Leuten, keinen Lacher, nichts, kein Effekt kommt an bei diesem Lärm. Am Ende vollkommen erledigt. Und allen ist das fürchterlich peinlich. Fragen, signieren, eine Flasche Wein in einer hölzernen Schatztruhe.
Raus! Man sollte diese ganzen Scheißeinkaufszentren einfach in die Luft sprengen! Da verkrampfen doch alle drin, werden kleingemacht, nervös. Kundenmelkmaschinen sind diese Gebäude. Terror.
Draußen telefonieren wir mit Christian, der aus dem Odenwald mit dem Fahrrad hergekommen ist, um an einem Aikido-Seminar teilzunehmen. Ich mag gar nicht ausrechnen, wie viele Stunden Sport er heute schon hinter sich hat. Da kommt er schon angeradelt. Freude. Wir suchen uns eine Kneipe, trinken Bier, noch mehr Bier, und langsam, ganz langsam entspanne ich mich ein wenig. Tot ins Bett.
Um acht Uhr Weckruf, duschen, Frühstück. Aus dem Fenster schaue ich auf die Fensterfront eines Polizeireviers, vielleicht ist es das Präsidium. Eine Uniformierte sitzt auf einem Bürostuhl, vor ihr steht mit dem Rücken zu ihr ein Kollege. Sie greift mit beiden Händen in den Gürtel seiner Hose; er läuft los und zieht sie quer durch die Büros. Zurück zum Bahnhof. Plötzlich sehe ich überall Brunnen. In dieser Stadt sprudelt, fließt und plätschert es wirklich überall.
Um 11 Uhr wieder in Frankfurt. Im Bahnhof werden Fahrräder versteigert. Auf der Berger Straße einkaufen. Dann umziehen und aufs Rad. Mit dem Weißen durch die Wetterau. Regen, Wind, Sonne. Auf der steilen Straße zur Ronneburg begegnet mir ein langhaariger Typ, barfuss, in einer langen Mönchskutte. Verrückt. Oben sehe ich dann, dass hier irgendwelche Ritterspiele stattfinden, Zelte, Burgfräulein, fechtende Ritter in schweren Rüstungen, Irrsinn. Nach drei Stunden wieder zu Hause. (Stand des Jahres: 450 Kilometer auf dem Schwarzen, 325 auf der Rolle, 80 auf dem Weißen – 855 Kilometer gesamt, und das am 2.April, schwach, schwach, schwach).
Rufe Atilla an, ob wir morgen fahren. Er ist gerade erst aus der Türkei zurückgekommen. Sein Opa liege im Sterben, aus allen Poren komme Blut, sagt er.
Ein wenig noch in Resnais’ „Das Leben ist ein Chanson“, wie unendlich charmant dieser Film ist, aber ich viel zu müde …
Heute vor achtundfünfzig Jahren wurde der Schriftsteller, Lehrer und Aufklärer Sabahattin Ali an der türkischen Grenze ermordet.
Mittwoch, 19. April 2006 – Vieruhrsechsundfünfzig, zehnkommein Grad.
Sonntag, 23. April 2006 – Sechsuhrsechsundzwanzig, achtkommasieben.
Mittwoch, 26. April 2006 – Fünfzehnuhrfünfunddreißig, achtzehnkommaacht.