Geisterbahn

Am Sonntag, 2. Juli 2006
zwei Mal in Frankfurt
Atilla & Altenburg
“Ein kleiner Abend Glück”
Ein literarisch-musikalisches Programm
Von den Bauernkriegen bis Rosa Luxemburg, von Martin Luther bis Bertolt Brecht …
14 Uhr, Buchhandlung Schutt, Arnsburger Str., Frankfurt-Bornheim
19 Uhr, Andreasgemeinde, Frankfurt-Eschersheim
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Geisterbahn. Tagebuch mit Toten

Freitag, 30. Juni 2006 – Fünfzehnuhrzweiunddreißig, einunddreißigkommaneun Grad.
Heute am Morgen schöne Tour. Gerade wieder am Schreibtisch, als ein Anruf vom „Tagesspiegel“ kommt. Der letzte Satz meines Rennrad-Textes, der am Wochenende erscheint, müsse geändert werden, da Jan Ullrich gerade suspendiert worden sei. Quatsch, oder? Nee, Leute, das ist doch eine Ente …? Von wegen.
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir. Wie könnte man dazu etwas sagen, ohne unter Tränen zu sprechen? Ullrich, Basso, Sevilla, Mancebo, Beloki – alle raus. Mein Gott, was für ein dunkles Loch, welch schwarze Leere.
Nachher werde ich auf den Empfang des „Journal Frankfurt“ gehen, werde mir dort das Spiel ansehen und nach drei Minuten merken, dass ich ganz reflexhaft mal wieder zu den „anderen“ halte. Meine Aufmerksamkeit wird nachlassen, und ich werde nur an die traurigen Tour-Wochen denken, die vor uns liegen. Dann werde ich mich, so oder so, dem Abend entgegen trinken.
Anruf der „Frankfurter Rundschau“, Herr Göpfert. Robert Gernhardt sei am Vormittag gestorben, ob ich mich dazu äußern wolle.
Anruf „Titel, Thesen Temperamente“. Ob ich im Laufe nächster Woche ein kurzes Statement zum neuen Patriotismus abgeben möchte. Was ist denn heute nur los?
Todestag von Lillian Hellman, Schriftstellerin, Kämpferin der spanischen Interbrigaden, Aktivistin gegen McCarthy.
Donnerstag, 29. Juni 2006 – Dreizehnuhracht, vierundzwanzigkommavier.
Gestern während der morgendlichen Runde, die Luft war nass und schwer, lag das gesamte Maintal in dichtem Nebel. Ein Grauen wie für Marthaler gemacht. Und ein Mensch geht um die Ecke …
Abends dann, nach hektischem Tageshinundher, ins Burga. Jürgen sitzt schon da, allein. Dann kommt Stefan, dann Atilla. Schließlich noch Jörg mit Kleincarlos. Lauschig.
Der Text von Peter M. aus der FR wird herumgereicht. Ich lese ihn und bin … erstaunt. Was für eine Emphase und was für eine Wortwahl. Es geht um deutsche Tugenden, und die Rede ist von der Nationalelf als einer „immer heißer laufenden Truppe“, die „bedingungslos in der Orientierung nach vorne“ spiele und getragen werde „von einer wunderbaren Zuneigung zu sich selbst.“ Diese „Truppe“ werde „zu neuen Ufern gepeitscht“ vom „blond-lächelnden, eigensinnig-verbissenen Siegeswillen“ ihres Trainers. Die bescheidenen Tugenden der alten Bundesrepublik seien perdu: „Wer will noch Abwehr sein? … Nun, wo wir Sturm sind, fällt das alles endgültig weg.“
„Dergleichen“, sagt jemand am Nachbartisch, „hätte man bis vor ein paar Wochen höchstens in der ‚Jungen Freiheit’ lesen können.“
Vor sechzehn Jahren erdrosselte sich Johann Unterweger, genannt Jack, in der Haftanstalt von Graz mit seiner Jogginghose, nachdem er zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er hatte in den Jahren zuvor mindestens neun Prostituierte mit deren eigener Unterwäsche erdrosselt.
Mittwoch, 28. Juni 2006 – Vieruhrfünfzehn, siebzehnkommaacht.

Die Frage von gestern hat sich erledigt; das Bild ist verkauft. Wie man so sagt: zum Schleuderpreis.

Aldi annonciert die Angebote der nächsten Woche: Köstlichkeiten aus den USA. Ich stehe vor dem Plakat und will es nicht glauben. Kann es denn sein, dass ein so großes Land kulinarisch ausnahmslos Mist produziert?
„Der Sicherheitsausschuss der Stadt Frankfurt am Main hat mit Stimmenmehrheit den Magistrat beauftragt, ab dem 1. Januar 2007 den ‚Freiwilligen Polizeidienst’ in Frankfurt einzuführen.“ Ich ahne schon jetzt, welche Mischung aus Volltrottel und Galgenstrick einem dann demnächst in blauer Uniform entgegentritt.
Wenigstens hat Zidane zum Schluss noch ein Tor geschossen.
Tot sind Oskar Maria Graf, Paul Dessau und Kurt Raab.

Dienstag, 27. Juni 2006 – Fünfuhrdreiundfünfzig, neunzehnkommaneun. Im Spieler liegt meine Lieblingssinfonie von Mozart: KV 319 in der Aufnahme mit der Camerata Salzburg unter Norrington. Ein schöner, leichter Sommermorgentanz..

Zum Verkauf steht ein Bild, das mir wirklich gut gefällt. Aber der Künstler, lange nachdem er es gemalt hat, wurde von den Nazis gefeiert (war womöglich selbst Nazi) und war auf der Großen Kunstausstellung in München vertreten. – Soll mich das davon abhalten, das Werk zu kaufen? Macht es das Bild schlechter?
Gestern in Seckbach, Melsunger Straße, halbe Stunde auf der Straße auf den Herrn F. gewartet. Der Herr F. kommt nicht. Wahrscheinlich schaut der Herr F. Fußball. Sollen wir den Herrn F. anrufen? Nee, komm, wir fahren einfach wieder und essen lieber Pizza.
Der Bär ist tot.
Montag, 26. Juni 2006 – elfuhrsechzehn, zweiundzwanzigkommanull. Frisch, bedeckt. Anders als gestern, als den ganzen Tag eine stechende, feuchte Hitze herrschte. Mit Atilla ein wenig durch den Taunus und die Wetterau gefahren. Dann zum Volkslauf an der Harheimer Sportanlage, wo Christiane und Arning die Zehnkilometer-Runde absolviert haben. Später nach Niedereschbach, der Schweiß tropft vom Lenker. Dann New Atterberry. Dann nach Dietzenbach zu Silke und Jürgen, wo alle angenehm ermattet in die Stühle sinken, essen, trinken, schwitzen. Schließlich kommt Wind auf, der Himmel verdunkelt sich, die Bäume schütteln sich, die Gardinen wehen, die Deutschlandfahnen schlagen. Wir raffen alles zusammen. Ins Auto. Und auf der 661 zacken die Blitze über den Himmel, es kracht, sieht wunderbar aus, die Skyline, und es beginnt für Stunden zu regnen. Wie neu, die Welt.

Und in diesem Jahr wieder keine Sekunde des Bachmann-Wettbewerbes gesehen. Wahrscheinlich reicht es für ein Leben, wenn man dort mal dabei war.

Todestag von Francisco Pizarro, spanischer Konquistador, Schlächter der Inkas, „das Hauptschwein“, wie Pablo Neruda ihn in seinem „Großen Gesang“ nannte. Tot sind auch Ford Madox Ford, der wunderbare Max Pechstein und Alfred Döblin. Und heute vor neun Jahren erschien der erste „Harry-Potter“-Roman in einer Startauflage von 500 Exemplaren.

Sonntag, 25. Juni 2006 – Sechsuhrsiebenunddreißig, zwanzigkommaein Grad. Himmel: blau.

Gestern gegen 16 Uhr an den Main, um das Spiel der deutschen gegen die schwedische Mannschaft zu sehen. Schwülheiß. Zehntausende Fans sind schon da. Ein Fahnenmeer in Schwarzrotgold. Von der angeblichen neuen deutschen Leichtigkeit ist nichts mehr übrig. Eine nationale Erhebung: charmefrei und schamlos. Auf der Ignatz-Bubis-Brücke zum Hitlergruß gereckte Arme. Es wird gesoffen, gegrölt, gestunken. Und aus zehntausend Mäulern gebellt: Doitschland. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Der Taumel scheint alle erfasst zu haben. Irgendwer hat am Ende verloren. Irgendwer gewonnen. Ich nicht.
Tot sind Georg Philipp Telemann, General Custer und Michel Foucault.
Samstag, 24. Juni 2006 – Siebenuhrachtundvierzig, sechzehnkommadrei Grad.
Blättere gerade die Pressemeldungen der Frankfurter Polizei durch und finde folgende Nachricht vom 16.Juni: „Heute gegen 13.15 Uhr sprang ein 17-Jähriger Schüler aus Ravensburg vom Hochhaus „Maintower“ in der Neuen Mainzer Straße. Der Mann war sofort tot. Ermittlungen ergaben, dass er die Besucherebene etwa gegen 12.00 Uhr erreicht hatte und dann von dort auf die etwa 6 Meter darunter gelegene Plattform gesprungen ist. Vermutlich schon verletzt schleppte er sich nun bis zum Rand der zweiten Plattform und sprang etwa 200 m in die Tiefe. Er kam vor dem Haupteingang des Hochhauses in der Neuen Mainzer Straße zum Liegen. Die Straße musste für etwa eine Stunde gesperrt werden. Drei Zeugen erlitten einen Schock und mussten von einem Notfallseelsorger betreut werden. Über das Motiv des Freitodes liegen hier bis zur Stunde keine Erkenntnisse vor.“
In welches Blatt man auch schaut – Frankfurter Rundschau, FAZ, Süddeutsche, Zeit, Spiegel, Bild – alle machen das Gequatsche vom entspannten, bunten Patriotismus mit. Ein Journalist der Klon des anderen. Keiner will zurückstehen, jeder noch schnell ein Bekenntnis zum neuen Bündnis „Vaterland und Weltoffenheit“ ablegen. Kostet aber auch gar nix. Vor wem wird eigentlich dieser Kotau absolviert, frage ich mich. Was treibt sie an, noch mal dasselbe zu sagen, was schon zehn Redakteure vor ihnen gesagt haben?
Vor vierundachtzig Jahren wurde Walter Rathenau ermordet, was in Teilen der deutschen Bevölkerung mit dem Satz quittiert wurde: „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau“.

Donnerstag, 22. Juni 2006 – Sechsuhrsiebenundvierzig, zwanzigkommafünf.
Gestern Riesenrunde im Burga. Kaufe dort die FR bei einem Schwätzer, der mir auf meinen 5-Euro-Schein nur fünfzig Cent zurückgeben will. „Ha, ha, das war jetz awwä kaa Betruchsversuch.“ Oder doch. Und merke erst zu Hause, dass es ja wieder die Abendausgabe ohne Lokalteil ist. Also kann ich sie eigentlich gleich wegwerfen.
Die junge sächsische PDS-Abgeordnete Julia Bonk hatte eine Idee. Sie wollte jedem, der ihr drei Deutschlandfahnen bringt, ein T-Shirt mit antifaschistischer Parole schenken. Das brachte ihren Genossen, den Vorsitzenden der Linksfraktion.PDS im Landtag, Prof. Dr. Peter Porsch, dermaßen auf, dass er eine Pressemitteilung gegen Bonk veröffentlichen ließ, in der es heißt: „Man kann auch nicht glaubwürdig gegen Fremdenfeindlichkeit auftreten und zugleich die Symbole der eigenen Kultur hassen. Dieser umgekehrte Nationalismus erreicht das Gegenteil von dem, was er als Ziel vorgibt.“ In der Verkommenheit dieser Sprache drückt sich die Verkommenheit des Gedankens aus. Was für eine Partei …
Tot sind Darius Milhaud (Foto), Joseph Losey und Rocky Graziano.
Mittwoch, 21. Juni 2006 – Fünfuhrdreiundvierzig, zweiundzwanzig Grad. Sommeranfang.

Gestern Hausrunde. Um kurz nach sieben auf der Straße, die Luft ist feucht, neblig. Na also. Dann sollte das Verbrechen auf dem Main am späten Abend des 19.Juni geschehen. Und entdeckt wird es dann am frühen Dienstagmorgen, 20.Juni.
Mittags kommt Robinsons „Small Death in Lisbon“, mal sehen.
Ja, ja, ist ja gut. War prima, was die deutsche Mannschaft da gegen Ecuador gespielt hat. Und das schönste an der Begegnung zwischen England und Schweden war der Satz des Kommentators: „Diese Bälle kann man butterweich aus dem Abendhimmel pflücken.“
Todestag hat der expressionistische Schriftsteller Hermann Essig, Großvater von Rolf-Bernhard. Und vor fünf Jahren ist John Lee Hooker gestorben.
Dienstag, 20. Juni 2006 – Fünfuhrsiebenundfünfzig, neunzehnkommaneun.
Gerade fällt mir auf, dass die bloggende Kollegin Anobella, der ich eine geradezu unerwartet freundliche Mail geschrieben hatte, diese nicht einmal abschlägig beantwortet hat. Ah, diese Verrohung aber auch …
Gestern Abend auf dem winzigen Balkon gegenüber: Zwei Frauen, die sich angeregt unterhalten, dabei Sekt trinken, ab und zu ein gurrendes Lachen. Plötzlich kommt Wind auf. Der Himmel wechselt die Farbe: von strahlendblau zu einem dunklen Stahlblau, aber immer noch leuchtend. Der Wind wird stärker und ein kleiner kräftiger Regenguß fällt. Vom Balkon her juchzt es laut, und als ich das nächste Mal schaue, stehen da nur noch die beiden Klappstühle, ein Tischchen und die beiden Sektgläser. In der immer noch offenen Balkontür weht ein weißer Vorhang.
Nachdem nun die Vaterlandsliebe wieder einen Großteil der Hirne und Blätter füllt, will auch der dumpfe Thomas Brussig Tritt fassen und zeigen, dass er das Herz auf dem rechten Fleck trägt. Wie alle Kleingewerbetreibenden muss er darauf achten, dass er bei seiner Kundschaft nicht ins Abseits gerät und stellt seine nationalen Devotionalien ins Schaufenster: „Ich bekenne: Auch ich habe gesungen und die deutschen Farben stundenweise im Gesicht getragen. Vermutlich werde ich es wieder tun. Eine Stimmung hat mich erfasst.“ Alle Mann in Deckung! „Aber dass der Satz ‚Ich bin stolz ein Deutscher zu sein’ nicht mehr automatisch bedeutet ‚Ich bin stolz, ein Rechter zu sein’, ist doch schon mal was.“ Aber was eigentlich? Auf jeden Fall ein Irrtum, womöglich ein folgenschwerer.
Aus einem Aufsatz Theodor W. Adornos zur späten Lyrik Hölderlins: „Das Wort Vaterland selbst jedoch hat in den hundertfünfzig Jahren seit der Niederschrift jener Gedichte zum Schlimmen sich verändert, die Unschuld verloren, die es noch in den Kellerschen Versen ›Ich weiß in meinem Vaterland / Noch manchen Berg, o Liebe‹ mit sich führte. Liebe zum Nahen, Sehnsucht nach der Wärme der Kindheit hat zum Ausschließenden, zum Haß gegen das Andere sich entfaltet, und das ist an dem Wort nicht auszulöschen.“
Tot: Jules de Goncourt, Clara Zetkin, Hans Sachs (aus der Ratesendung „Was bin ich?“) und der fast schon vergessene Erwin Chargaff.
Montag, 19. Juni 2006 – Siebenuhrsechsundvierzig, zweiundzwanzigkommanull.
Am Samstag durch die Wetterau. Auf der Strasse ein Kleintransporter mit der Aufschrift: „Schädlingsbekämpfung und Taubenschutzsysteme.“ Vom Dach flattert die größte denkbare Deutschlandfahne, die ich dieser Tage an einem Auto gesehen habe.
Am Nachmittag mit den Rädern zum Main, wo auf den Großleinwänden das Spiel Iran gegen Portugal läuft. Wirklich eine angenehme Stimmung, zumal schwarz-rot-gold nur ausnahmsweise zu sehen ist.
Und dann, wieder zu Hause, das viereckige Glück im Fernsehen. Zwei Mannschaften spielen gegen einander, die man beide mögen muss, Tschechien gegen Ghana, und es gewinnt die, der man es am wenigsten zugetraut hat. Bislang für mich das spannendste Spiel dieser Meisterschaft.
Sonntag gegen halbzwölf aufs Rad. Die Stadt noch leer. Über die Sachsenhäuser Warte Richtung Süden. Neu-Isenburg, Sprendlingen, Langen, Egelsbach, Darmstadt. Dort dann, in der Innenstadt, folge ich dummerweise den Radweg-Schildern Richtung Pfungstadt, verheddere mich und lande in Griesheim. Egal, durch die Felder sind es auch nur noch sieben Kilometer. Kurz im alten E-Werk vorbeigeschaut, wo Peter Brunner wirbelt und wo schon der Spargelsalat mit Sprossen und Rucola serviert wird. Ins Schwimmbad zum Duschen, bin angekündigt, mein Rad wird im Kassenhäuschen in Verwahrung genommen. Aber die Einzelduschen finde ich nicht, also in den großen Duschraum, wo ich den Inhalt meines Rucksacks ausbreiten kann. Wieder ins E-Werk, der Laden ist voll, das Mikro pfeift, Heiner Boehnke schimpft, dass es auf dieser Welt keine Tontechniker gibt, die eine Lautsprecheranlage einstellen können. Die Justizministerin lächelt, gibt mir die Hand und sagt, wer sie ist. Dann setzt sie sich gegenüber. Eine Jazzband spielt. Darf man jetzt eigentlich schon essen oder nicht? Rundum immer wieder so ein verschämtes Nippen. Lokalpolitiker sprechen. Autorinnen lesen. Mario Derra stellt seine Arbeiten vor, Holzstiche und Lithografien, auf denen Spargelstecherinnen in ihren Bikinis zu sehen sind. Und er erzählt, dass es auf den Strassen der Umgebung, manchmal Unfälle gebe, weil die Autofahrer den hübschen Rumäninnen auf den Spargelfeldern zuschauten, statt auf den Verkehr zu achten. Frau Zypries stellt das Buch vor, ein kleine, überraschend gute Rede. Alles munter, alles gut. Aber wahnsinnig warm. Dann verziehe ich mich hinter den Holzverschlag, ziehe mich aus und um, reiche allen noch die Hand und freue mich, wieder aufs Rad steigen zu dürfen.
Erik Ode ist tot.
Samstag, 17. Juni 2006 – Siebenuhrneunundfünfzig, sechzehnkommadrei.

Gestern in der Wetterau: Überall flattern aus den Fenstern, von den Balkonen schwarzrotgoldene Fahnen; Standarten recken sich von den Autos, als seien die allesamt Staatskarossen. Ein Zeichen der neuen, entspannten Vaterlandsliebe? Hinter den Scheiben dieselben verdrückten Gesichter wie immer. Glaubt denn irgendwer ernsthaft, im Taumel der Nationalfarben würde der Antisemitismus in diesem Land abnehmen, die Türkenhasser weniger, die Kinder seltener geschlagen, die Negerkiller sanfter?
Allein der aus allen Löchern der Journaille kriechende Wunsch, es möge ihn doch jetzt aber unbedingt geben: den unschuldigen, den arglosen, womöglich sogar fremdenfreundlichen Patriotismus, allein dieser Wunsch macht mich schon nervös. Warum? Wofür? Wer braucht ihn, diesen Patriotismus? Und warum soll er so gar nicht entspannt, sondern so unbedingt herbeigeredet werden? Ich kann meine Frau lieben, meine Tochter, meine Eltern, meine Freunde, mein Viertel, vielleicht sogar meine Landschaft. Aber einen Staat? Die Fahne?
In unserem lustigen Forum für die Giessener Allgemeine nennt mich Otto A. Böhmer den „Schlechte-Laune-Onkel“. Ein „Schlechte-Laune-Onkel“ ist jemand, der sich über ein schönes Tor des Gegners freut und keine Nationalfarben braucht, um gute Laune zu haben.
Versöhnen tut dann aber doch der Blick über die Erdbeerfelder, wo zwischendrin der Klatschmohn flammt und die Disteln ihre fetten, violetten Köpfe neigen. Dann bei der Rast kommt ein Feldhase angehoppelt und bleibt keine fünf Meter entfernt im Gras sitzen, kümmert sich nicht um den ruhenden Radler, sondern mümmelt da minutenlang rum. Hat überhaupt keine Angst. Vielleicht ist er blind? Oder taub? Oder tollwütig. Oder er glaubt, dass doch noch alles gut wird. Dass ich ein Mensch bin, der ihm kein Leid zufügt. Dass die Liebe ewig währt. Und dass Jan Ullrich dieses Jahr die Tour gewinnt.
Um sechs dann die Fahrt von Wehrheim über Pfaffenwiesbach nach Kransberg und ein schöner, versonnener Abend auf der Terrasse von Therese und Michael. Und Michael – wie schon vor ein paar Tagen Philipp – empfiehlt ebenfalls dringend, trotz aller Einwände, Robert Wilson zu lesen. Jetzt würde mich allerdings doch mal interessieren, was Dieter Paul Rudolph auszusetzen hat. Ach was, ich kann’s ja selbst lesen.
Heute vor zehn Jahren starb Reinhard Lettau, dessen Buch „Täglicher Faschismus“ uns während der Schulzeit lange munitioniert hat.
Freitag, 16. Juni 2006 – zwölfuhrvierundvierzig, dreiundzwanzigkommazwei Grad.
Wahrscheinlich glaubt alle Welt, man habe einen Vogel, wenn man heute sagt, dass man sich manchmal vorstellt, ein Vogel zu sein. Dabei, so denke ich mir, sollten doch in anderen Zeiten – gestern, als es noch keine Illustrierten, Fernseher und Internet gab, als jede Musik noch selbst gemacht werden musste – solche Fantasien ganz alltäglich gewesen sein. Einfach kurz mit den Flügeln schlagen, abheben und drüberweg über das blühende bunte Elend da unten. Und zum Sterben setzt man sich auf einen Baum und wartet, dass man runterfällt.
„Dauernd sterben, sterben, du nervst mit deinem Sterben, sei verdammt noch mal nicht immer so negativ. Auch dass du dir beim Fußball immer wünschst, die Deutschen mögen verlieren …“ Ja, ist ja schon gut. Ich versuch ja schon zu lächeln.
Tot sind Rogier van der Weyden und Nicholas Ray.

Donnerstag, 15. Juni 2006 – Siebenuhrneunzehn, zweiundzwanzigkommavier.
Gestern ganzen Tag rumgewerkelt, Einkauf, Wohnung, Kochen, Telefonate, Mails etc … Gegen sechs kommt Atilla und installiert die Galerie auf der Homepage. Klappt alles wunderbar. Dann Jürgen, und wir versinken alle gemeinsam vor dem Fernseher. In der neunzigsten Minute schießt die deutsche Mannschaft dann doch noch ihr Tor gegen Polen. Sofort scheint die Stadt zu explodieren.
Am 15. Juni 1990 starb der Schweizer Volksschauspieler Ruedi Walter, kurz nachdem er in dem Kinofilm „Bingo“ mitgespielt hatte, für den Philipp das Drehbuch geschrieben hat.
Mittwoch, 14. Juni 2006 – sechsuhrneunundvierzig, zwanzigkommavier.
Wetterau-Runde.
Abends das Spiel Brasilien gegen Kroatien. Ronaldo beim Stehen zugeschaut.
Wenn jemand ein Buch schreibt, das den Titel trägt: „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“ und dieses Buch uns helfen soll unsere „Leidenschaftspotentiale auf Dauer wach zu halten“, sollte er möglichst nicht den Nachnamen Schnarch tragen. Tut er aber, der David Schnarch.
Heute vor einundachtzig Jahren wurde in Mannheim die Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ eröffnet, die der gesamten Kunstrichtung ihren Namen gab. Heute vor sechsundsechzig Jahren wurde das KZ Auschwitz Birkenau eröffnet. Heute vor sechsundsechzig Jahren ist die Deutsche Wehrmacht in Paris einmarschiert. Heute vor vierundsechzig Jahren begann Anne Frank ihr Tagebuch zu schreiben. Heute vor elf Jahren starb Rory Gallagher, der Sänger mit der traurigsten Stimme der Rockgeschichte.
Dienstag, 13. Juni 2006 – Vieruhrachtundfünfzig, achtzehnkommasieben.

Gestern früh die Hausrunde, dann in den Riederwald, um mich mit Nadine zu treffen. Kurz nach zehn wieder zu Hause.
Am Freitag, am Frankfurter Hauptbahnhof ankommend, war ich verwundert, wie gut mir die neue, bunte Fußballatmosphäre in der Stadt gefiel, von der noch einen Tag zuvor nichts zu spüren gewesen war. Es war, als wollten die vielen lachenden Gesichter der Fremden das Motto der Weltmeisterschaft bestätigen. Seitdem habe ich keines der Spiele verpasst. Allerdings habe ich jedes Mal schon kurz nach dem Abpfiff fast wieder vergessen, wer da wie gegen wen gespielt hat. Ich langweile mich unendlich. Jede Erregung, die ich bei anderen bemerke, kommt mir künstlich, ja, lächerlich vor. Ich nehme sie nur noch als die Simulation einer Erregung wahr. Freude? Zorn? Glück? Alles Lüge! Und auch die Spieler, so sieht es für mich aus, erregen sich nur für die Kameras und die Trainerbank. Auch sie scheinen sich in Wahrheit unendlich zu langweilen. Es ist, als habe der mediale Hype, die Durch- und Durchkommerzialisierung der Veranstaltung sie ausgehöhlt und den letzten Rest an spielerischem Ernst von innen aufgefressen. So lange wurde der Countdown auf das Ereignis zelebriert, bis, als man endlich bei Null angekommen war, tatsächlich nichts mehr da war: Alle Emotionen waren bereits im Vorfeld, in der vermeintlichen Vorfreude aufgebraucht worden.
Heute vor 120 Jahren ertrank der Bayernkönig Ludwig II. im seichten Wasser des Starnberger Sees.
Montag, 12. Juni 2006 – Fünfuhrfünfzehn, sechzehnkommasechs Grad, es ist nicht zu glauben, man kann mit nackten Beinen und im T-Shirt am offenen Fenster sitzen.

Von Schimmel eine Mail: „Was ist mit dem Blog …?“ Und ich dachte schon, es hört sowieso keiner mehr zu.

Ok: Donnerstag mit dem ICE nach Hamburg. Kein schöner Land. Strawinskys „Sacre du printemps“, dann „Petruschka“. In die Gurlittstraße. Da steht schon Piwitt vor dem Hotel Wedina. Kurz anmelden, Schlüssel holen, Tasche wegbringen. Grünes Haus, Zimmer 320. Klasse, ein vierstöckiges Zimmer in Splitlevel-Bauweise. Mit Piwitt an die Alster. Hotel. Dann wieder mit KB an die Alster. Zurück, Moment ausruhen. Kurz vor acht klingelt das Telefon: „Alexander Fest, ich warte hier unten auf Sie …“ Wir gehen ins Cox. Essen, trinken, reden. Viel Wein, spät heim.
Und am Freitag sehr früh aufgewacht. Eine Stunde früher als geplant zum Bahnhof. Auf der Rückfahrt der Rest des Pfungstadt-Krimis. Ins Taxi, die Stadt ist verstopft, aber bunt und gut gelaunt vor lauter Fußballfans, dauert ewig bis ins Nordend. Essen machen für den Abend, alles ins Auto, dann zu Anette und Stephan, wo Christian schon vor dem Beamer sitzt und brüllt: „Beim Fußball werd ich zum Tier …“
Samstag früh zur Deutschen Bibliothek, nach mir kommen Flo, dann Atilla und Ralf und Thomas. Flo erzählt, dass er schon zehn Rennen dieses Jahr gefahren sei. Schöne lange Schleife durch den Taunus: 120 Kilometer Achterbahn. Wieder Fußball, fange schon jetzt an, die Spiele zu verwechseln.
Sonntag kleine Hausrunde, dann noch mal mit dem Mountainbike zum Lohrberg und auf dem Feld Erdbeeren pflücken für den Abend und ein Kilo Spargel kaufen. Nachmittags beim Eis treffen wir Anna und Jan … Fußball.
Obwohl auch Karl Kraus, Arturo Benedetti Michelangeli und Gregory Peck Todestag haben, sei heute mal nur des Dirigenten Hermann Scherchens gedacht, neben dessen vielen großen Verdiensten das kleine nicht vergessen sein soll, dass er das Lied „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ ins Deutsche übersetzt hat. Und den Elias Canetti auf so hässliche Weise portätiert hat.
Aber wer ist schon Scherchen, wo ich doch gerade sehe, dass am Freitag Drafi Deutscher gestorben ist …
Donnerstag, 8. Juni 2006 – Fünfuhrfünfunddreißig, zwölfkommazwei.

Einen Tag vor Anpfiff des ersten Spiels der WM – Deutschland : Costa Rica. Petra Gerster runzelt die Stirn: „Wie geht es denn dem Kapitän der deutschen Mannschaft?“ Oh, oh, er hat das heutige Training nicht durchgestanden. Das ganze Land spricht über Ballacks Wade. Und auf der Pressekonferenz erklärt ein junger Spieler, was er unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ versteht: „Wir müssen Costa Rica weghauen!“ Ab Freitag, 18 Uhr, wird zurückgeschossen. Überall in den Nachrichten nochmals die Warnung an die ausländischen Gäste der WM, in den östlichen Teilen des Landes vorsichtig zu sein und möglichst öffentliche Verkehrsmittel zu meiden.

Ob denn, fragt Paula, wenn siamesische Zwillinge zum Beispiel ins Schwimmbad wollen, sie eine oder zwei Eintirttskarten lösen müssen.

Hingerichtet wurde 1951 in Landsberg Otto Ohlendorf, SS-Gruppenführer, verantwortlich für die Ermordung von 90.000 Juden.

Mittwoch, 7. Juni 2006 – Fünfuhrsiebzehn, zehnkommazwei Grad. Es wird Sommer, man spürt es, man riecht es.

Am Sonntag im Bamberger Dom Pfingstmesse mit fünf Bischöfen. Was für ein fauler Zauber mit diesen Kostümen, dem Weihrauch, dem Bischofsthron, diesem Gewedel, Geraune, Geheule. Und was für eine Hasspredigt: „Das Feuer dieses Tages taucht nicht nur Seinen Namen in helles Licht, es verbrennt auch alles, was Sünde ist, was Unrecht ist, was nicht Kirche ist.“ Damit die Leute ordentlich spenden, wird mehrmals betont, in welche Armut die Bewohner Osteuropas nach 1989 gestürzt sind. Gleichzeitig wird immer wieder Johannes Paul II. für sein Lebenswerk gelobt, den siegreichen Kampf gegen den Kommunismus. Der Kommunismus habe die Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt, die Kirche stelle den Menschen in den Mittelpunkt. Von wegen. Hier wird wieder Demut abverlangt, Keuschheit, Selbstverleugnung. Hätte nicht gedacht, dass es das in dieser Ausprägung noch gibt. Und keiner da, der aufsteht und schreit.
Am Montag dann um kurz vor acht mit dem Schwarzen los. Kalt. Verheddere mich sofort im Hafen- und Gewerbegebiet. Weit und breit niemand zu sehen, den ich nach dem Weg fragen könnte. Aber dann, auf der Treppe eines Geschäftshauses: Ein Berber macht sich gerade tagfein. Er ist freundlich, kennt sich aus, zupft aus fadenscheinigen Taschen eine zerfledderte Karte hervor, kann sie kaum entfalten mit seinen steifen, grindigen Riesenhänden. Er entschuldigt sich, er habe eine Allergie, beschreibt den Weg präzise: Zwischen Kläranlage, Kompostierung und Schrottplätzen hindurch, auf dem Schotterweg ins Ruderal, über die Brücke …. Danke, schönen Tag! Rechts und links flitzen die Kaninchen weg, Enten flattern böse auf, eine Pfingstprozession stolpert müde an der Hauptstraße entlang, aber als ich gerade an dem Zug vorbeifahre , falle ich vor Schreck fast vom Rad, weil genau in diesem Moment die Kapelle anfängt zu spielen. Unterwegs immer wieder Leute, die an irgendwelchen Aufbauten für Gottesdienste im Freien werkeln, Blaskapellen, Flohmärkte. Dann aus dem Maintal heraus ins Hinterland, menschenleer. Nur ab und zu in den Dörfern einzelne Männer um die Fünfzig, die auf der Straße stehen, heraus gefallen offensichtlich aus allem, dem Beruf, den Familien, auch aus dem, was um sie herum als geistige Normalität angesehen wird. Sie rauchen, stehen in Jogginganzügen, starren oder reden mit sich selbst. Und gehen nur widerwillig zur Seite, wenn doch einmal Auto kommt. Von Bischofsheim dann hoch auf die Schwedenschanze, hinunter nach Mosbach, Gersfeld und wieder rauf und runter nach Poppenhausen. Knapp 150 Kilometer.
Gestern wieder an der Galerie gearbeitet.
Todestag von Hölderlin, E.M. Forster, Ida Kerkovius, Henry Miller.
Samstag, 3. Juni 2006 – elfkommazwei. Blauer Himmel.

Paula, wenn sie das Haus verläßt und wir sie zum Ausgang begleiten, besteht darauf, dass die Tür erst geschlossen wird, wenn sie ausser Sichtweite ist. Anders wäre es ihr unangenehm. Wie gut ich das kenne, dieses Gefühl im Rücken, wenn hinter einem vorzeitig der Laden dicht gemacht wird. Eigentlich sollte das in jeder Sammlung von Benimmregeln stehen: Tür erst schließen, wenn Gast um die Ecke.

Anruf von Gina Kehayoff. Sie bittet um meine Mailadresse, da sie mir auf Initiative von Claudius Seidl und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Resolution in Sachen Maxim Biller und „Esra“ schicken möge. Die Mail kommt. Es geht darum, dass Biller von den beiden Frauen, die den Verkauf seines Romans mit Erfolg und womöglich auch mit Gründen durch alle Instanzen haben verbieten lassen, jetzt auch noch auf 100.000 Euro Schadensersatz verklagt werden soll. Ich bin unter wenigen Umständen dafür, dass man die Publikation von Büchern verbieten lassen kann. Ich bin aber dagegen, dass man, wenn einem das gelungen ist, zusätzlich Geld dafür verlangen darf. Gewagt indes der Vergleich der Resolutionäre mit Goethe und Thomas Mann, deren Romane „Die Leiden des jungen Werthers“ und „Buddenbrooks“ unter ähnlichen Umständen ebenfalls nie hätten erscheinen dürfen. Vollends blödsinnig die Sätze: „’Esra’ ist also verboten: erstens, weil die Klägerinnen darin vorkommen. Und zweitens, weil sie es gar nicht sind.“

Sonst? Lange rumgefummelt mit diesem neuen Bildergalerie-Programm, das ich mir runtergeladen habe. Wirkt ziemlich klasse. Strawinskys Ballettmusiken unter Riccardo Chailly. Willard Grant Conspiracy mit „The green, green grass of Slovenia“. Abends noch in RBs Tagebuchroman.

Die Toten des Tages: Georges Bizet, Johann Strauss, Franz Kafka, Roberto Rossellini, Arno Schmidt, dessen Werk man ja bewundern darf, dessen Jünger einem aber schrecklich auf den Zeiger gehen können. Da fällt mir ein, dass seit Jahren die große Ausgabe von Zettels Traum bei mir im Keller liegt. Ich hatte sie für den Filmemacher George dos Reisz auf dessen Bitte bestellt, dann hat er sie nicht bezahlt, hat sich nie wieder bei mir gemeldet, bis eines Tages ein Kripobeamter hier anrief und erzählte, dass er tot in seiner Berliner Wohnung liegend gefunden worden sei.

Freitag, 2. Juni 2006 – Vieruhrzweiundzwanzig, zehnkommadrei. Im Mai. Im Pullover.
Eine Mail von Alex: „… bitte benutze in deinem Tagebuch doch meinen wirklichen Namen, ob das geht?!“ – Aus der Antwort: „Es ist ein dauernder Balanceakt und kann ja leicht auch indiskret werden, das öffentliche Führen eines Tagebuchs. Und manchmal wache ich schwitzend auf und sehe alle, die ich dort je genannt habe, vor meinem Bett versammelt, die Köpfe und Zeigefinger schüttelnd und mir verbietend, sie je überhaupt wieder zu nennen. Umso entlastender, dass Du so unbefangen damit umgehst – also künftig: Alex.“

Seit zwei Jahren empfangen wir das ZDF nur ohne Ton und haben bislang nichts vermisst. Jetzt aber, da die Weltmeisterschaft bevorsteht, will ich das Problem beheben. Ja, sagt man mir, das habe etwas mit den so genannten Tonunterträgern zu tun. Aha. Beim Versuch, diese zu finden und einzustellen, werden auch noch ARD und 3sat zu stummen Sendern. Was heißt jetzt das? Dass ich nie mehr die sonore Stimme von Ernst Grandits hören darf?
Gestern in der Süddeutschen Zeitung Handkes Stellungnahme zu den Vorwürfen gegen ihn. Er erklärt, sachlich, ohne Eifer, gesteht zum wiederholten Mal den Fehler ein, gesagt zu haben, die Serben seien „noch größere Opfer als die Juden.“ Aber der schnaubende Reflex, den inzwischen allein die Nennung von Handkes Namen auslöst, hat wohl weniger mit seinen politischen Positionen zu tun als vielmehr mit ihm selbst: seinem Gesicht, der Art, wie er sich in der Welt bewegt, seiner Weigerung, sich als Dichter und Leser einzufügen in die medialen Geläufigkeiten, stattdessen auf einem anderen Blick und anderen Worten zu beharren.
1882 stirbt Garibaldi. Hingerichtet werden 1948 nach dem Todesurteil im Nürnberger Ärzteprozess die drei Kriegsverbrecher Karl Brandt, Viktor Brack und Wolfram Sievers. Am 2.Juni 1967 wird der Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet. Kurras, zunächst freigesprochen, wird in einem zweiten Prozess zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, das er aber bereits nach einer viermonatigen Haft wieder verlassen darf. 1975 tritt er erneut in den Polizeidienst ein und bezieht ab 1987 Pension.
Donnerstag, 1. Juni 2006 – Neunuhrdreiundfünfzig, neunkommasieben. Wie schön, es regnet.

Der ganze Tag ist auf den Auftritt fokussiert. Für etwas anderes fehlt die Konzentration. Um drei dann die letzte Probe. Klappt alles gut; wie es sein muss: Musik und Text tragen sich wieder gegenseitig. Nochmal kurz nach Hause, dann ins „Klabunt“. Nervös, aufgekratzt. Wir bauen auf, stimmen Gitarre und Sprechmikrofon aufeinander ab. Danach ist wieder endlos Zeit. Rumsitzen, palavern mit dem Wirt, trinken. Martin ist da, den ich zunächst wieder nicht erkenne, der mich darauf aufmerksam macht, dass er sich mir heute zum dritten Mal vorstellt. Himmel, mein Hirn, wie peinlich. Neben ihm am Tresen eine junge Frau, die von ihrem Curry anbietet, dann von ihren Apfelringen. Sie ist die Schwester der Kellnerin, der sie ihre Einkäufe zeigt: ein knappes Top mit Weltmeisterschaftsemblem und, kaum verschämt aus der Tüte gezupft, Unterwäsche und BH. Wohl aus dem Umland; hier, in der Stadt wäre ihr diese frische Arglosigkeit längst ausgetrieben worden.
Es geht gegen neun, aber was ist los, es kommen kaum Leute. Es scheint, als würde „Ein kleiner Abend Glück“ heute unter größter Geheimhaltung stattfinden – im Untergrund, wo er vielleicht auch hingehört. Aber dann trudeln die Freunde alle ein, und sofort lässt die Anspannung ein wenig nach. Selbst Pepper ist aus dem Odenwald angereist und Rascel aus Mannheim. Schon klasse. Und am meisten freut mich, dass Bernemer gekommen ist, den ich im Herbst beim Crossrennen zum letzten Mal gesehen hatte, und der mir seltsamerweise schon den ganzen Tag im Sinn war. Atilla spielt und singt ein paar seiner Stücke, sehr souverän und man merkt, wie wohl er sich dabei fühlt, wie es ihm Spaß macht. Mindestens zwei der Songs müssten, wenn es mit rechten Dingen zuginge, wahrhaftige Hits werden. Kurze Pause, dann unser Programm, klappt alles prima, aber gegen Ende kommt zunehmend Unruhe auf, man merkt, dass die Gäste hier anderes gewohnt sind: Witzigkeiten, Begleitmusik, Easy Listening. Egal, wir waren gut. Schwer erschöpft. Dann schiebt Andreas die alten Alexandra-Schlager in den Spieler. Mir wird wohlig . Am Ende bekommen wir in der Küche noch den sauren Sängerlohn in die Hand gedrückt. Und Jörg, der Gute, fährt mich bis vor die Haustür. Um halbzwei im Bett.
Todestag von Pfarrer Oberlin, in dessen Haus in den Vogesen sich im Winter 1778 der kranke Jakob Michael Reinhold Lenz aufhielt. Eine Episode, die durch Büchners „Lenz“ zu Literatur wurde. Tot ist auch der Kriegsgegner, Armenarzt, wütende Antisemit und großartige Schriftsteller Louis Ferdinand Céline. Und Adolf Eichmann. Und Anna Seghers.