Geisterbahn

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Ein Roman

Donnerstag, 31. August 2006 – Zwölfuhrneunzehn, sechzehnkommafünf Grad. Endlich wieder Sonne.

„Volver“, der neue Film von Almodovar. Was für ein wunderbares Eingangsbild: Wie all die lachenden Frauen auf dem Friedhof während eines heftigen Sturms die Grabsteine schrubben. Die Geschichte mit dem Mord, dem Missbrauch an Mutter und Tochter – all das interessiert mich nicht. Nicht mal kapiert hab ich es, weil ich solchen Verwicklungen eh nicht folgen kann. Macht aber nichts, da man so viel zu gucken, zu lachen und mit zu fühlen hat. Grotesk, schrill, skurril ist das oft – und dennoch nimmt kaum ein anderer Regisseur seine Figuren, seine Bilder so ernst. Und lässt alle Geläufigkeiten außen vor.

Michael erzählt, dass Tanja als neue Sachbuchchefin bei Dumont anfängt. Und dass Helmut Krausser irgendwo seinen endgültigen Abschied vom Schreiben verkündet habe. Wühle eine halbe Stunde im Netz, finde aber nichts dergleichen.

Gerade den Wortlaut der Erklärung Natascha Kampuschs gefunden. Der Brief beginnt mit den Worten: „Sehr geehrte Journalisten, Reporter, sehr geehrte Weltöffentlichkeit!“

Ganz gewiss in die Hölle kommt der Erfinder des Wortes: Business-Schuhe.

Todestag hat der vergessene große Kleinschriftsteller Theodor Lessing. Am 1.März 1933 war er mit seiner Familie aus Deutschland nach Marienbad geflohen. Dort spürten ihn nationalsozialistische Attentäter auf und schossen am 30.August 1933 auf ihn durch das Fenster seines Arbeitszimmers. Lessing starb einen Tag später.

Mittwoch, 30. August 2006 – Zehnuhrsiebenundfünfzig, fünfzehnkommafünf Grad.

Günnewig Hotel Chemnitzer Hof, das “erste Haus am Platz”. Statt „Futtern wie bei Muttern“ heißt es hier „Tafeln wie bei Hofe“. Man reicht mir das Gästebuch, wo ich mich irgendwo hinter Angela Merkel, Milva, Guido Westerwelle, Gregor Gysi, Peter Schreier, Oskar Lafontaine, Bernhard Brink und The Slade eintragen soll. In den Lounges ist alles wie vor 17 Jahren. Die tonangebenden Kriegsgewinnler sprechen fränkisch, kölsch, und schwäbisch. Die daneben hockenden Heloten – sie heißen nunmehr „Abschnittsleiter“ und „Department Manager“ – nicken zu häufig und lachen zu laut. Auf ostdeutsch. Und draußen schlurft die übergewichtige Armut vorbei.

Es gibt Landstriche, vielleicht ganze Länder, in denen die Menschen gemeiner aussehen als andernorts. Die Gemeinsten, Hässlichsten in solchen Gegenden sind auffälligerweise jene, die dort als die Schönen gelten.

Bei Dietmar Ecker, dem PR-Berater des Entführungsopfers Natascha Kampusch, sind über 70 Anfragen nach Interviews und Fotos eingegangen. Er werde diese Anfragen der internationalen Medien sammeln und dann mit seiner Kundin darüber sprechen.

Todestag hat Henri Barbusse.

Montag, 28. August 2006 – Elfuhrdreißig, sechzehnkommaacht. Bedeckt.

Nach acht Jahren Gefangenschaft gefragt, was sie sich wünsche, verlangte Natascha Kampusch: ein Handy.

Heute nun hat in Wien der Psychiater Prof. Max Friedrich einen Brief der achtzehnjährigen Frau verlesen, in dem es über ihren Entführer heißt: „Er war nicht mein Gebieter, obwohl er das wollte. Ich war gleich stark. Er hat mich symbolisch gesprochen auf Händen getragen und mit Füßen getreten.“ Sie habe, schreibt Natascha Kampusch, nicht das Gefühl, dass ihr etwas entgangen sei. Zumindest habe sie unter den gegebenen Umständen „nicht mit dem Rauchen begonnen“ und „keine falschen Freunde kennen gelernt.“

Todestag von John Huston, Michael Ende und Peter Hacks.

Freitag, 25. August 2006 – Sechsuhrelf, fünfzehnkommafünf. Frisch.

Der Entführer, der Natascha Kampusch über acht Jahre im Verlies einer umgebauten Garage festgehalten hatte, hat sich am Nordbahnhof in Wien-Leopoldstadt das Leben genommen, indem er sich vor einen Schnellzug geworfen hat. Im Haus des arbeitslosen Nachrichtentechnikers wurde der Reisepass des Mädchens gefunden, das zum Zeitpunkt ihrer Entführung zehn Jahre alt war. Der Pass befand sich damals im Schulranzen, da Natascha mit ihrem Vater gelegentlich nach Ungarn fuhr. Der Täter war bereits wenige Wochen nach der Entführung einmal ins Visier der Ermittler geraten, als nach einem weißen Kastenwagen gefahndet wurde, den eine Zeugin am Tatort gesehen haben wollte. Weil der Halter angab, lediglich Bauschutt zu transportieren, sah man keine Handhabe für weitergehende Untersuchungen. Das Fahrzeug befand sich bis zuletzt im Besitz des Täters.

Ob ich denn nun mitmachen wolle bei dem Projekt „100 Frankfurter Köpfe“, zu dem man mir bereits Ende Juli die Unterlagen geschickt habe. Der Termin für den Empfang bei der Oberbürgermeisterin im Kaisersaal stehe schließlich schon fest. Aber was für ein Projekt? Ich habe nie solche Unterlagen bekommen … Ahh doch, pardon, hier, auf dem Stapel mit der Werbepost …

Tote: Friedrich Nietzsche, Leo Perutz, Truman Capote, Reinhard Libuda, Georg Thomalla und Peter Glotz.

Donnerstag, 24. August 2006 – Vieruhrzweiundzwanzig, siebzehnkommafünf Grad.

Irgendwo im Netz diesen Satz von Maxim Gorki gefunden: „Nach manchem Gespräch mit einem Menschen hat man das Verlangen, einen Hund zu streicheln, einem Affen zuzunicken und vor einem Elefanten den Hut zu ziehen.“

In einem Garten in der Nähe von Wien ist gestern gegen Mittag eine junge Frau aufgetaucht, die sich der Polizei als Natascha Kampusch vorgestellt hat. Die jetzt Achtzehnjährige war im März 1998 auf ihrem Schulweg verschleppt worden und seitdem verschwunden geblieben. Gefahndet wird nach einem 44-jährigen Nachrichtentechniker, der Natascha Kampusch offensichtlich entführt und in seinem Haus acht Jahre lang gefangen gehalten hatte.

Magnus Gäfgen, der Mörder Jakob von Metzlers, wollte aus dem Gefängnis heraus eine Stiftung für misshandelte Kinder gründen. Das Ansinnen wurde von der Aufsichtsbehörde mit der Begründung abgelehnt, die geplante “Magnus-Gäfgen-Stiftung” verstosse gegen das Anstandsgefühl und die guten Sitten.

Mit der „Bartholomäusnacht“ begann in Paris in der Nacht vom 23. auf den 24.August 1572 das Massaker an den Hugenotten, in dessen Verlauf in verschiedenen französischen Städten zwischen 5.000 und 100.000 Menschen umgebracht wurden.

Mittwoch, 23. August 2006 – Achtuhrdreiundfünfzig, fünzehnkommafünf. Sonnig.

Gestern am Morgen Muskelkater vom Lauf am Vortag. Also eine Stunde Rolle. Dabei die Lesung von Mary Poppins. Dort der schöne Satz: „Don’t you know that everybody’s got a Fairyland of their own.” Aber seine eigene Hölle hat auch jeder. Die Nachrichten werden nicht besser.

Um zwanzig Uhr zu J. Ein schöner, trauter, trauriger Abend.

Und tot ist der Schauspieler Rodolfo Alfonso Raffaello Piero Filiberto Guglielmi di Valentina d’Antoguolla, genannt Rudolph Valentino.

Dienstag, 22. August 2006 – Achtuhrsieben, sechzehnkommazwei. Ein Hauch von Herbst. Und um mich rum alles voll mit Tod.

Kann ja sein, dass sie das nun ist: die große, die längst überfällige, die very big Abräume. Grass weg! Walser? Weg! Handke? Weg damit! Was also bleibt? Nee, nee, bestimmt nicht die jungen Plappermäulchen. Aber was für eine Freude: Piwitts kleiner Roman war schon in der Post: „Jahre unter euch“. Und Degenhardts neues Album mit dem Titel „Dämmerung“ soll ebenfalls bereits auf dem Markt sein. Wie lange musste man auf beides warten! Was für eine Auslese! Gegen jede Zeile dieser beiden vermickern die „Debatten“ um die abgeräumten Großschriftsteller zum inhaltsleeren Smalltalk.

Im Feuilleton der SZ ein interessanter Artikel von Alex Rühle über Bombay. Und dort am Schluss die ganz und gar unsinnige Formulierung: „klammheimlicher kultureller Penisneid“, obwohl es einfach „heimlicher Neid“ hätte heißen können.

Tote: Nikolaus Lenau, Ignazio Silone, Jindrich Polák (der Regisseur des „Pan Tau“).

Montag, 21. August 2006 – Sechsuhrdreiundzwanzig, sechzehnkommanull.

„Sie haben 121 neue Mails“. Und einen riesigen Berg von Behelligungspost. Die Beantwortung wird Tage brauchen. Und Wochen von Arbeit nach sich ziehen. Das Telefon klingelt sofort und zerrt mich in den Strudel So geht es nicht mehr. Irgendwas muss sich ändern. Gründlich. Grundsätzlich. Wahrscheinlich wird die Geisterbahn das erste Opfer.

Tot ist außer Chamisso, Trotzki und Bubi Scholz auch der Südtiroler Dichter Norbert C. Kaser, dessen Grab auf dem Friedhof von Bruneck ich vor … ich weiß nicht wie vielen Jahren besuchte.