Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Ein Roman
Samstag, 30. September 2006 – Sechsuhreins, fünfzehnkommafünf. Dunkel, kühl.
Gesternabend die zweite DVD von Julian Breams „Guitarra – Die Geschichte der klassischen Gitarre in Spanien.“ So schön sind die Bilder, die Musik, die Gesichter und Landschaften, so anregend, dass gleich wieder der Gedanke kommt, das Liebesprojekt voranzutreiben.
Gruß nach La Coruña: Da ist sie, die „elastische“ Aufnahme von Brahms’ Dritter. Gespielt vom Cleveland Orchestra unter Christoph von Dohnányi. Fertiggestellt wurde die Sinfonie, wie Christian Martin Schmidt schreibt, in „Wiesbaden, Geisbergstraße 19 bei Frau von Dewitz, wo Brahms den Sommer 1883 verbrachte“.
„Bild“: “Schon wieder hübsches Mädchen verschwunden” – Wie sich in einer kurzen Schlagzeile, allein durch das Adjektiv, die ganze Obszönität dieses Blattes offenbart.
Gelungene Formulierung: „Sie sah Lewin an wie etwas, das die Katze ins Haus geschleppt hatte“. Gefunden in Leif GW Perssons Kriminalroman „Die Profiteure“.
Stoße auf einen Artikel über die jetzt aus den USA ausgewiesene ehemalige KZ-Aufseherin Elfriede Rinkel im „Telegraph“. Verwandten und Freunden habe sie erzählt, sie kehre nach Deutschland zurück, weil sie Schwierigkeiten mit ihrer Wohnung in San Francisco habe. Sie lebe jetzt bei ihrer Schwester in Viersen. Die deutschen Behörden hätten viel zu tun, würden sie niedrige Ränge wie Elfriede Rinkel juristisch verfolgen, wird der Leiter des israelischen Büros des Simon-Wiesenthal-Centers in der englischsprachigen Ausgabe des “Spiegel” zitiert: „Germany is full of people like her.“ Und gerade noch einen längeren Text im „San Francisco Chronicle“ vom 20. September entdeckt.
Aus den „Ereignismeldungen UDSSR der Sicherheitspolizei und des SD“ über das Massaker von Babij Jar am 29. und 30. September 1941: „In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und 2 Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30.9. 33771 Juden exekutiert. (…) Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfälle haben sich nicht ergeben Die gegen die Juden durchgeführte ‚Umsiedlungsmaßnahme’ hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden.“
Tot sind Elizabeth Stride und Catharine Eddowes, zwei Frauen, die in derselben Septembernacht des Jahres 1888 in London ermordet wurden. Die Taten werden Jack the Ripper zugeschrieben. Außerdem: James Dean, Simone Signoret.
Freitag, 29. September 2006 – Fünfuhrfünfzehn, fünfzehnkommafünf. Dunkel.
Bestellt: Aufnahmen von Brahms’ Dritter unter Klemperer und Dohnanyi.
Auf Spiegel-online die Schlagzeile: „Afrikanische Schicksale: Warum eine Familie nicht zu Kerner durfte.“ Was auch immer das Schicksal dieser Familie sein mag, etwas Gutes hat es jedenfalls.
1. Bei einem Treffen von Natascha Kampusch mit ihrem Vater Ludwig Koch in der Wiener Innenstadt wurden die beiden von einem spanischen Kamerateam erkannt und angeblich bedrängt. Es kam zu einer Schlägerei. Einer der Journalisten und Ludwig Koch wurden angezeigt. 2. Die Tatortarbeit im Haus des Entführers Wolfgang Priklopil in der Heinestraße 60 in Strasshof ist beendet. 3. Natascha Kampusch soll möglicherweise in New York zur „Woman of the Year“ gekürt werden.
Statt Kindermode lese ich Kindermorde. Das kommt davon.
Tote: Émile Zola, Wilhelm Leuschner (in Plötzensee ermordet), Helmut Qualtinger.
Donnerstag, 28. September 2006 – Zehnuhrsiebzehn, fünfzehnkommaneun Grad. Sonnig, frisch.
Das neue, alte Auto ist ein Mazda 626 Kombi. Damit über Land, zuerst nach Dietzenbach, dann nach Groß-Umstadt. Jürgen und Jürgen sind dabei. Und ich schon deshalb: entspannt. Lesung bei Pro-Buch. Netter Buchhändler, nettes Publikum. Aber wie man den Tiefdruck spürt, der auf diesen kleinen Läden lastet. Wie sie in den Schwitzkasten genommen werden von den Großen der Branche, die ihnen kaum mehr Luft zum Atmen lassen.
Estefania Küster, die Exfrau von Dieter Bohlen: „Mein Sohn hat die Schönheit von Dieter.“ Die was, bitte?
Lieben Sie Brahms? Dann wäre ich dankbar für einen Hinweis auf eine dynamische, durchhörbare, elastische Aufnahme der 3.Sinfonie. Das Gästebuch freut sich.
Über den Feldern Abendnebel. Dann, zwischen den Bäumen, ein überraschender Blick auf die Silhouette der Hochhäuser. Der Himmel bereits dämmerig, nur unten, hinter der Skyline das späte Leuchten der Sonne. Eine Krähe am Straßenrand nascht von einem toten Igel. Ein Autofahrer hupt. Der Radfahrer flucht. Der Vogel erhebt sich. Schwerfällig.
Tot sind: Melville, Rudolf Caracciola (Autorennfahrer, der wie später sein kindlicher Bewunderer Franz Josef Degenhardt Karratsch genannt wurde. Caracciola starb 1959 an einem Leberleiden in einer Kasseler Klinik, liegt aber begraben in Castagnola, wo er die Jahre seines Exils verbrachte), Harpo Marx, Breton, Dos Passos, Elia Kazan.
Mittwoch, 27. September 2006 – Fünfuhrneunzehn, siebzehnkommadrei Grad. Wenn das mal kein erholsamer Schlaf war …
Ah, „Katharina von irgendwo“ ist wieder da. Ein leises Zittern im Gästebuch. Wie nett.
Bekannt wird dieser Tage der Fall einer 27-jährigen Ungarin, die von ihrem Vater, einem Gefängniswärter, dreizehn Jahre lang in der gemeinsamen Wohnung eingesperrt und immer wieder vor den Augen der schwerkranken Mutter vergewaltigt wurde. Als der Vater kürzlich starb hat die Mutter, die inzwischen ebenfalls verstorben ist, endlich die Polizei benachrichtigen können. Die 27-jährige ist nach Aussagen der Behörden schwersttraumatisiert. Sie habe graues Haar und eine vollkommen weiße Haut.
Das brasilianische Justizministerium meldet, dass im letzten Jahr in dem lateinamerikanischen Land 55.000 (fünfundfünfzigtausend) Menschen einem Tötungsdelikt zum Opfer fielen. Das sind mehr Todesopfer als in den letzten drei Jahren im Irak.
Stosse auf die Geschichte von Witold Pilecki, von dem es heißt, er sei der einzige bekannte Mensch, der sich freiwillig in die Gefangenschaft des Lagers Auschwitz begeben habe. Muss unbedingt auch hier nachlesen.
Tot sind Degas, Maillol und Karlheinz Köpcke.
Dienstag, 26. September 2006 – Zweiuhreinundfünfzig, achtzehnkommanull. Regen.
Was für ein Rhythmus sich da gerade wieder einschleicht. Gesternabend um halbzehn völlig erschöpft eingeschlafen, schaue ich jetzt, um halbdrei, wieder auf die Uhr und bin sofort hellwach.
Der Tod ist wieder nah. Aber das ist er wohl von nun an immer.
Am Sonntagabend hat ein Spaziergänger am Rande eines Wäldchens in der Nähe von Annaberg (Erzgebirge) einen Müllbeutel mit Leichenteilen gefunden. Die hinzugezogene Polizei entdeckte drei weitere Säcke. Bislang ist in den Meldungen von „zwei Beinen“ die Rede, die man entdeckt habe, man wisse jedoch noch nicht, ob sie von einem Mann oder von einer Frau stammten. Man gehe jedoch davon aus, dass sie „zu einer Person“ gehörten. Ja, Himmel …
Manfred Nowak, Sonderberichterstatter der UN für Folter, erklärte in Genf, dass „die Situation, was die Folter im Irak betrifft, völlig außer Kontrolle ist“. Nach Einschätzung vieler Beobachter werde derzeit dort schlimmer gefoltert als zu Zeiten Saddam Husseins. 1500 Gewaltopfer wurden allein im August in die Leichenschauhäuser von Bagdad gebracht – die meisten Menschen waren gefoltert und erschossen worden.
Am Sonntag auf der Ausstellungseröffnung im Museum Giersch (mit Werken von Marie-Louise von Motesiczky) nach fünfzehn Jahren den Bildhauer Clemens Strugalla wiedergetroffen. Und jetzt auf seiner Website.
Todestag: Levi Strauss, August Macke, Hermann Löns, Walter Benjamin, Béla Bartok, Anna Magnani (Bild), Alberto Moravia, Baden Powell de Aquino, Robert Palmer.
Freitag, 22. September 2006 – Dreiuhrsechsunddreißig, achtzehnkommaein Grad.
Die vor wenigen Tagen aus den USA ausgewiesene ehemalige KZ-Aufseherin Elfriede Lina Rinkel wurde 1922 in Leipzig als Elfriede Huth geboren. Nach dem Krieg soll sie einige Zeit in Deutschland gewohnt haben, dann in die USA ausgewandert sein, wo sie den Juden Fred William Rinkel geheiratet habe, der in der großen jüdischen Loge B’nai B’rith aktiv gewesen sei. Er ist im Januar dieses Jahres gestorben. Es heißt, Elfriede Lina Rinkel sei nach Deutschland zurückgekehrt.
In Stolpen-Heeselicht am Rande der Sächsischen Schweiz ist eine 33-jährige Frau im Haus ihrer Eltern verhungert und verdurstet. Als einem Verwandten beim Besuch in dem Haus Verwesungsgeruch aufgefallen war, hatte er die Polizei benachrichtigt. Die Leiche wurde unter einem Müllberg gefunden. In der Öffentlichkeit galt die Frau seit zehn Jahren als vermisst. Ein ehemaliger Mitschüler erzählt, immer wenn er den Vater gefragt habe, habe er zur Antwort bekommen, sie sei in Bayern arbeiten und komme selten heim. Der Vater ist Ortsvorsteher der Gemeinde.
Atilla hat ein neues Gitarrenstück geschrieben, und schickt es per Mail. Ah, sehr schön, sehr ruhig. Wär’ wirklich etwas für unser Programm. Jetzt muss mir nur noch ein Text einfallen.
Lektüre: Immer noch häppchenweise Tim Krabbés „Das Rennen“. Saul Friedländer „Wenn die Erinnerung kommt“. Leif GW Persson: „Die Profiteure“. Und mit einem Auge schon mal in Pierre Assoulines „Lutetias Geheimnisse“ geschaut.
Und endlich mal wieder ein Laut von Olaf. Wir verabreden uns für die Messe.
Tot sind Alessandro Manzoni, Victor Hugo, Jules Renard, Ernst Toller, Klaus Mann und Margaret Rutherford.
Donnerstag, 21. September 2006 – Sechsuhrneun, vierzehnkommasechs. Frisch, dunkel.
Sehr geehrte T-Online-Software, ich benötige nicht Ihr Programm „High-Speed für lahme Rechner“, ich will nicht den Lotto-Jackpot knacken, ich möchte nicht „Fragen beantworten und Preise abräumen“, ich brauche keine „Familienplanungs-Tipps“, ich brauche nicht Ihre Klingeltöne und nicht Ihre „Prepaid-Aufladung“, vor allem aber möchte ich künftig verschont werden mit den dusseligen Anrufen Ihrer dusseligen Callcenter, die mir alle naselang neue Tarife aufschwatzen wollen, die dann doch nie umgesetzt werden, weil alles, was man denen sagt, im großen T-Online-Sumpf versinkt und ich nur Arbeit damit habe. Guten Tag!
Dieser Tage geistert eine Meldung durch die Medien, wonach Gelegenheitstrinker im Durchschnitt mehr verdienen als Abstinenzler. Vielleicht sollte man auch mal untersuchen, ob sich das Einkommen gelegenheitstrinkender Waschmaschinenbesitzer signifikant unterscheidet vom Einkommen jener Säufer, die es noch mit der Hand machen. Uhh, my brain …
Todestag von Arthur Schopenhauer, an dessen Grab ich immer mal wieder vorbeikomme, von Otto Grotewohl und von Florence Griffith Joyner.
Mittwoch, 20. September 2006 – Fünfuhrelf, dreizehnkommavier Grad. Dunkel. Gestern zwei Stunden gelaufen. Anderthalb Stunden locker, letzte halbe Stunde mit Regenfässern anstelle der Beine. Heute Muskelkater, Schmerzen im rechten Knie. Selbst Schuld.
Google sagt: „Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage – ‚Elfriede Rinkel’ – übereinstimmenden Dokumente gefunden“. Elfriede Rinkel, 83 Jahre alt, lebte seit 1959 in den USA. Jetzt wurde sie von einem amerikanischen Gericht aufgefordert, das Land bis Ende September zu verlassen, da bekannt geworden war, dass sie von Juni 1944 bis April 1945 als Aufseherin im KZ Ravensbrück gearbeitet hatte. Sie ist, wie es heißt, nach Deutschland zurückgekehrt.
Wieso jemand durch die Eingabe der Suchworte „Ballack Penis“ auf diese Seite hier gerät, ist mir auch ein Rätsel.
Was für eine bescheuerte Formulierung: „Tokios Börse schließt behauptet.“
Viele Tote: Heinrich Hoffmann („Struwwelpeter“), Theodor Fontane, Max Slevogt, Albrecht Höhler (Zuhälter, Mitglied des Rotfrontkämpferbundes, erschoss Horst Wessel, wurde später von SA-Leuten ermordet), General von Lüttwitz, Emma Zimmer (Oberaufseherin im KZ Ravensbrück, hingerichtet), Jean Sibelius, Jim Croce, Willy Millowitsch („Zum Auszug des Sarges spielte die Domorgel eine Improvisation in Moll über seinen erfolgreichen Song ‚Ich ben ne kölsche Jong’“), Karl-Eduard von Schnitzler, Simon Wiesenthal.
Dienstag, 19. September 2006 – Vieruhrneunzehn, siebzehnkommanull Grad. Vom Regen aufgewacht. Und von den Gespenstern.
Versuche mich einzuwählen … „Es ist keine Verbindung möglich. Oft ist ein Reset Ihres Modems nötig.“ Ja, schön, aber wie oft denn noch? Viermal gebootet, hat nichts genutzt. Noch ein Viertelstündchen gewartet, hat was genutzt. Lag nämlich an T-Online und nicht an mir.
Nochmal zum Thema Abstraktion: In der Münchner Neuen Pinakothek gibt es ein Bild von Max Liebermann aus dem Jahr 1912 mit dem Titel: „Holländische Landschaft“. Hier ist die Ablösung der Farbe vom Gegenstand bereits fast vollständig erreicht. Was ja heißt, dass gerade die bekennenden Realisten, wenn sie ihr Material ernst nehmen, auf die Konventionen der Abbildung keine Rücksicht nehmen dürfen.
Während der „Stern“ seine Serie bringt „Der Aufstieg Amerikas“, konstatiert zur gleichen Zeit der „Spiegel“: „Niedergang der USA – Das Kraftzentrum schwächelt“. Was ist jetzt das? Idiotie? Verwirrung? Pluralismus? Oder einfach: Journalismus?
Todestag hat Jacobus Morenga, über den Uwe Timm seinen wunderbaren Roman geschrieben hat, der wiederum von Egon Günther verfilmt wurde.
Montag, 18. September 2006 – Vieruhrfünfundfünfzig, neunzehnkommafünf Grad. Dunkel.
Von Jürgen der Hinweis, dass im Pariser Hotel Lutetia noch immer einmal im Monat kostenlos eine Mahlzeit für die ehemaligen Deportierten ausgegeben wird.
Ausfahrt ab Goldstein mit Atilla, Flo und Peleton. Feucht, warm. Nach 100 Kilometern – Flo fast ausnahmslos im Wind – habe ich Mühe, nicht abreißen zu lassen. Kann die letzten zwanzig Kilometer nur noch um Gnade betteln. Und kurz vor dem Ziel wieder dieser fette, verbissene Drängler, den wir aber gottlob noch stehen lassen. Am Ende: 140 km in einem Schnitt von 31,5 km/h. Rest des Tages: soignieren!
Im Spiegel ein Interview mit Neo Rauch. Scheint ein ganz guter Typ zu sein. Auch wie er sich sofort dagegen wehrt, dass fast ausschließlich von ihrem Marktwert gesprochen wird, wenn von Kunst die Rede ist. „Mir ist ein gutes abstraktes Bild tausendmal lieber als ein schlechtes figuratives … Dennoch halte ich die figurative Malerei inzwischen für das Nonplusultra“.
Todestag von Jimi Hendrix und Russ Meyer. Und gerade sehe ich, dass Anna Netrebko und Lance Armstrong am selben Tag geboren wurden.
Samstag, 16. September 2006 – Zehnuhrsiebzehn, zwanzigkommafünf. Sonnig.
Denkbar nun auch diese Meldung: „Papst Benedikt löst mit Plädoyer gegen religiöse Gewalt dritten Weltkrieg aus.“ Auch er ein Teil von jener Kraft …
Erste Panne in der medialen Inszenierung der Natascha Kampusch: Hatte man erst vor wenigen Tagen einen Bericht des „stern“, wonach Kampusch noch im letzten Winter mit ihrem Entführer einen Skiausflug gemacht habe, heftig dementiert, gaben die Anwälte diesen Umstand jetzt zu. Man habe über diesen Ausflug geschwiegen aus Angst, die Wahrheit könne die „Entführung verharmlosen“.
„Bild“: „Schock-Bericht der Weltbank – Deutschland sozialistischer als China!“
Tot sind Victor Jara, Marc Bolan und Maria Callas. Und genau ein Jahr ist es her, wir hatten Aufnahme in Daun in der Eifel, als Martin Lüdke in das italienische Lokal kam und sagte: Hast du schon gehört, der Waechter ist heute gestorben.
Freitag, 15. September 2006– Neunuhrdreiundvierzig, neunzehnkommavier. Sonnig.
Auf der Seite des BKA mit ungeklärten Morden findet man auch den Fall der neun Männer, die zwischen dem 9.September 2000 und dem 6.April 2006 erschossen wurden. Alle Opfer waren Geschäftsleute und kamen aus Südosteuropa. Acht der Männer waren türkischstämmig, einer kam aus Griechenland. Alle Morde wurden mit derselben Waffe ausgeführt. Alle Opfer wurden in ihren Geschäften während der Öffnungszeiten getötet. Das ist schon alles, was an Gemeinsamkeiten erkennbar ist. Die Männer scheinen sich untereinander nicht gekannt zu haben. Auch beruflich gab es offensichtlich keinerlei Querverbindungen. Zwei arbeiteten in einem Imbiss, zwei als Obst- und Gemüsehändler, einer war Inhaber eines Blumenhandels, einer Schneider, einer hatte einen kleinen Schlüsseldienst, ein anderer besaß ein Kiosk und einer betrieb ein Internetcafé. Drei Morde fanden in Nürnberg statt, zwei in München, einer in Hamburg, einer in Dortmund, einer in Rostock, der letzte in Kassel. Brauchbare Zeugenaussagen gibt es nicht. Ein Motiv für die Morde ist bis heute nicht erkennbar. Bundesweit wurden fünf Sonderkommissionen gebildet. Allein die Kasseler SoKo umfasst 35 Mitarbeiter. Verwertbare Spuren scheint es nicht zu geben. Ging man bislang davon aus, dass die Opfer möglicherweise in kriminelle Machenschaften verwickelt waren, zieht man nun auch in Betracht, dass es sich bei dem Mörder um einen Einzeltäter handeln könnte, der nicht dem kriminellen Milieu entstammt. Alles, was man hat, ist ein Täterprofil, das ebenso hilflos wie allgemein und nichtssagend ist.
Auch das kann noch zur Meldung werden: „Der Papst flog wieder heim.“
Wie angenehm das ist, wenn mal jemand anruft, der gar nichts will. Außer: mal anrufen und freundlich sein. Na ja, zu oft darf auch das nicht passieren.
Tote: Thomas Wolfe, Wolfgang Abendroth, Sergio Ortega.
Donnerstag, 14. September 2006 – Sechsuhrfünfundvierzig, siebzehnkommasieben.
Über einem Acker sechs groß gewachsene Gabelweihen. Das Laub färbt sich braun, die ersten Blätter fallen, Eicheln ploppen auf den Boden. Und überall diese riesigen Libellen oder was das ist. Mal nachgucken … Wahrscheinlich die Braune Mosaikjungfer („Die räuberischen Larven leben in den verschiedensten Gewässern“).
Bild: „Sie sehen aus wie sündig-süße Engel. Und rocken wie die Ferkelchen“. Die Rede ist von vier jungen Frauen, die als Musikerinnen arbeiten.
In Sonchamp bei Versailles haben drei Internatsschülerinnen eine Mitschülerin mit brennenden Zigaretten gefoltert und mit einem Kleiderbügel vergewaltigt.
Im Landkreis Celle haben fünf Jugendliche zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren eine vierzehnjährige Mitschülerin vergewaltigt.
In Frankfurt an der Oder haben zwei Jugendliche einen Obdachlosen ermordet.
Auf freenet die Meldung, dass der ehemalige Betreiber eines Reiterhofes wegen sexuellen Missbrauchs in fast 500 Fällen zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Und der Kommentar eines Lesers: „Reißt diesem perversen Dreckschwein die Eier ab , steckt sie ihm in sein Maul laßt sie ihn auffressen und schmeißt das Schwein hinterher in einer Papierfabrik in den Hacker . Dieses Steuergeld kann sich Deutschland sparen und muß es nicht vergeuden . Einen schönen Gruß die Flsch.52“
Nur für mich: Samstag gefahren, Sonntag gelaufen, Montag Pause, Dienstag gelaufen, Mittwoch gefahren. Heute: laufen.
Tot sind James Fenimore Cooper, Hugo Ball, Isadora Duncan, F.C. Weiskopf, Grace Kelly
Dienstag, 12. September 2006 – Sechsuhrfünfunddreißig, siebzehnkommaneun.
Im „Spiegel“ ein Artikel über die perfekte mediale Inszenierung Natascha Kampuschs und ihrer Geschichte. Das wäre natürlich ein Ding, wenn der ganze Fall K. ein reiner Fake wäre, eine gigantische, acht Jahre währende Luftnummer, um am Ende viel Geld zu verdienen – eingeweiht vier, fünf Leute. Aber der Täter, der sich unter den Zug geworfen hat, wie würde der in dieses Spiel passen? Vielleicht ein Selbstmordwilliger, angeheuert bei einer Sterbehilfeorganisation und bezahlt dafür, sich in die Inszenierung einbinden zu lassen. Ahh, was für eine herrliche Verschwörungstheorie.
Der Papst beklagt einen „Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht“. Aber ob es uns oder der alten Nebelmaschine passt: Das vermeintlich Heilige verspotten zu dürfen, ist ein Freiheitsrecht. Und Benedikt fordert seine Missionare auf, das Soziale wieder stärker an die Verkündigung zu binden, was ja nur heißen kann, dass es demnächst erst Brot geben soll, wenn zuvor das Glaubensbekenntnis abgelegt wurde.
Im frühmorgendlichen leeren Park in der Ferne ein schmaler, junger Mann im schwarzen Anzug. Er hält ein weißes Heft in der Hand, geht – gemessenen Schrittes, wie man wohl sagen würde – auf und ab. Ein Pfarrer, denke ich, der sich auf seine Predigt vorbereitet. Als ich näher komme, sehe ich, dass es ein Asiat ist und höre, dass er unter großen Mühen immer wieder versucht, das Wort „Schreib…tisch“ auszusprechen.
Todestag von Christian Dietrich Grabbe, Anthony Perkins, Johnny Cash.
Sonntag, 10. September 2006 – Siebenuhreins, dreizehnkommaacht.
Traum: Ich habe Durst. Wir haben es eilig. Wir stehen an einer Haltestelle und warten auf die Straßenbahn. Hinter uns die große verglaste Bahnhofshalle mit Geschäften und Verkaufsständen. Was ist denn jetzt, wann kommt die Bahn denn endlich? Noch vier Minuten? Dann trink ich schnell noch’n Spezi. Also gehe ich rein, bestelle mein Getränk, aber es dauert und dauert, bis mich endlich jemand bedient. Als draußen die Bahn bereits vorfährt, reicht man mir ein Glas, das nur zu einem Drittel mit dem Gemisch aus Cola und Limonade gefüllt ist. Ich trinke es in einem Zug aus und stürze los, um die Straßenbahn noch zu erreichen. Aber was ist los? Ich komme nicht voran, meine Füße rutschen auf den glatten, weißen Bodenfliesen immer wieder weg. Ich laufe auf der Stelle. Bevor ich weiß, wie es ausgeht, wache ich auf.
In Österreich macht man sich angesichts des Falls Natascha Kampusch bereits Gedanken über das Schulwesen. Da habe man auf der einen Seite, eine eloquente, gebildete Frau, die acht Jahre eingesperrt und ohne Kontakt zur Schule gewesen sei. Und andererseits habe man reihenweise Schulabgänger, die nahezu kommunikationsunfähig und an denen die Unterrichtsinhalte so gut wie spurlos vorüber gegangen seien.
Todestag haben der Architekt Ernst May, der Schauspieler Lorne Greene (Ben Cartwright aus „Bonanza“), der Musiker Peter Tosh (ermordet), die schwedische Außenministerin Anna Lindh (ermordet).
Samstag, 9. September 2006 – Vieruhrneununddreißig, vierzehnkommanull Grad. Dunkel.
Der Entführer Natascha Kampuschs ist auf einem nicht näher bezeichneten Friedhof „im Süden von Wien“ unter falschem Namen beigesetzt worden. Sein Grabstein wird ebenfalls nicht seinen richtigen Namen tragen. Natascha Kampusch hatte zuvor das gerichtsmedizinische Institut besucht, wo der Leichnam ihres Entführers lag. Dort hatte man sie mit dem Sarg allein gelassen, damit sie Gelegenheit habe, sich zu verabschieden. An der Beisetzung nahm sie nicht teil.
Gestern Almodovars „Live Flesh“. In einem Interview sagt der Regisseur, er glaube nicht an das Schicksal, aber in diesem Film nehme es unabwendbar seinen Lauf. Das Drehbuch – nach einem Roman von Ruth Rendell – ist perfekt, ab einem bestimmten Punkt zu amerikanisch perfekt. Da wird dann – als Elena mit Victor schläft – die Psychologie zu Gunsten der Dramaturgie aufgegeben.
Tot sind Toulouse-Lautrec, Mao, Jacques Lacan, Yilmaz Güney.
Freitag, 8. September 2006 – Neunuhrfünfundvierzig, sechzehnkommafünf. Bedeckt.
Eigentlich seltsam, dass mich das Interview mit Natasch Kampusch, das vorgestern ausgestrahlt wurde, nicht wirklich interessiert hat. Und dass es mir peinlich war, gestern in den Nachrichten dann doch ein paar Ausschnitte daraus zu sehen. Es war mir peinlich, ich war enttäuscht und habe zugleich jede Geste, jedes Mienenspiel geradezu gierig registriert.
In einem Darmstädter Krankenhaus hat ein 37-jähriger seine 27-jährige Kollegin, mit der er sich das Büro teilte, mit neun Hammerschlägen getötet und die Leiche dann im Garten des elterlichen Hauses vergraben.
„Bild macht den Fleischtest“: „Diana war geil und geizig“.
Tote des Tages: Richard Strauss, Jean Seberg, Leni Riefenstahl.
Donnerstag, 7. September 2006 – Zehnuhrzweiunddreißig, einundzwanzigkommadrei. Sonnig. Verschnupft.
Dass es in Israel aus guten Gründen keine einhellige Zustimmung für den Einsatz deutscher Truppen im Nahen Osten gibt, kann man auf der Seite des jüdischen Online-Dienstes hagalil nachlesen. Dass im Land der Täter der Fraktionsvorsitzende der so genannten Linkspartei einen solchen Einsatz vehement ablehnt mit der Begründung, dieser erhöhe die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland, zeigt, wie verkommen Oskar Lafontaine und seine Partei sind. Und wenn derselbe Mann glaubt verbreiten zu müssen, „dass nicht nur das Attentat auf das World Trade Center und Selbstmordattentate … Terrorismus“ sind, „sondern auch die Kriegsführung im Nahen Osten“ (sprich: der Einsatz der israelischen Armee gegen die Hisbollah), dann ahnt man, wie mit dem Existenzrecht Israels verfahren würde, wenn er und seinesgleichen hier das Sagen hätten.
Sollte man sich vielleicht mal abgewöhnen, das Wort „komplett“. Es hat so einen knallenden, vorlauten Klang.
Ch. erzählt, dass es inzwischen auf der Erde mehr Übergewichtige als Untergewichtige gebe. Und das, obwohl eine Milliarde Menschen hungern.
Tot: Paul Zech, Wilhelm Pieck, Karen Blixen.
Mittwoch, 6. September 2006 – Siebenuhrdreiundfünfzig, siebezehnkommasechs. Gutes Wetter, Halsschmerzen, kein Sport.
Mail von A., ob ich einen Beitrag für die FR zur Lage des Landes seit 1989 schreiben möchte. Uff …, was soll ich sagen, ich falle mir doch dauernd selbst ins Wort. Paar Mails hin und her, dann einigen wir uns auf ein Gespräch. Ist beweglicher, konfliktreicher.
Als ein siebenundvierzigjähriger Mann aus dem Frankfurter Ostend am Freitag nicht an seiner Arbeitsstelle erschien, baten Kollegen einen Nachbarn, nach dem Rechten zu sehen. Die Wohnungstür des Mannes stand offen. Der Nachbar fand die gefesselte Leiche seines Mitbewohners, die mit über siebzig Messerstichen versehen war. Noch am Freitagabend wurde ein achtzehnjähriger Mann festgenommen, am Montag ein vermutlich an der Tat beteiligter Sechzehnjähriger. Beide stammen aus Wiesbaden. Die mutmaßlichen Täter und das Opfer hatten sich über einen Homosexuellen-Chat im Netz kennen gelernt.
Tot sind: Crazy Horse (Häuptling, hinterrücks in der Haft von einem Soldaten ermordet), Hanns Eisler (Komponist, dessen Gespräche mit Hans Bunge „Fragen Sie mehr über Brecht“ unbedingt mal wieder aufgelegt werden sollten), Akira Kurosawa (Regisseur).
Dienstag, 5. September 2006 – Fünfuhrvierundvierzig, siebzehnkommaneun.
In Venedig ist der neue Film von Alain Resnais vorgestellt worden: „Coeurs – Private Fears in Public Places“. Und eigentlich möchte ich mich jetzt ins Bett legen und warten, bis er hier in die Kinos kommt.
Aus der Werkstatt. Strikt verboten sind eigentlich solche Formulierungen: „Sie hatte schöne Beine.“ Zu unspezifisch, zu geläufig, nichts sagend. Aber was ist damit: „Der Alte warf einen kurzen Blick auf die schönen Beine der Frau, dann dachte er an den Tod“? Ist hier das „schön“ erlaubt? Jedes andere Adjektiv wäre gesucht. Machte man den Kontrast nicht kleiner, wenn man das „schön“ einfach wegließe? Oder wäre die Wirkung sogar größer? „Der Alte warf einen kurzen Blick auf die Beine der Frau, dann dachte er an den Tod“.
Schrilles Gelächter in der Nacht, als ich auf den Buchtitel aus dem Droemer Knaur Verlag stoße: „Vollweib pur“ von Christine Neubauer. „Mein Weg zur Wohlfühl-Figur“. Gott, ja …
Sehe erst jetzt, dass Andrea M., die Hauptbelastungszeugin im Saarbrücker Prozess um den verschwundenen Jungen Pascal, bereits Ende August alle belastenden Aussagen widerrufen hat. Weder sei Pascal in der Tosa-Klause wiederholt missbraucht noch sei er am 30. September 2001 ermordet worden. Nichts davon sei passiert. Aber wie kann man so etwas erfinden …? Und dreieinhalb Jahre lang vor Gericht behaupten? Und: Heißt das, der Junge ist nur verschwunden? Seine Mutter war im Juni vorigen Jahres im Alter von 46 Jahren gestorben. Nur zwei Wochen später kam sein Vater bei einer Schlägerei ums Leben.
Im Tode vereint: Pieter Bruegel d.Ä., Choderlos de Laclos, Gert Fröbe, Beppo Brehm, Georg Solti, Mutter Teresa.
Montag, 4. September 2006 – Fünfuhrsiebenundfünfzig, neunzehnkommasieben.
Ein Stück besonders perfiden Journalismus bietet uns das FAZ.net mit Harald Stauns offenem Brief, der mit den Worten beginnt: „Sehr geehrte Frau Kampusch“. Vielleicht war Natascha Kampusch nicht gut beraten, ausgerechnete diese Form zu wählen, sich die „sehr geehrte Weltöffentlichkeit“ vom Hals zu halten, immerhin war es nachvollziehbar: Schließlich konnte sie sich nicht an jedes einzelne Exemplar der ihr nachstellenden Meute wenden. Harald Staun hat nur einen Grund, einen offenen Brief an das Entführungsopfer zu schreiben, den dieses vielleicht nie lesen wird: seine eigene Niedertracht.
Zum ersten Mal wirklich von einer Interpretation Claudio Abbados begeistert: Mahlers Sinfonie Nr. 6 mit dem Luzern Festival Orchester.
Nachhaltig in Erinnerung bleibt von Peter Winnens „Post aus Alpe d’Huez“ vor allem seine Charakterisierung des Radsports als eine Mischung aus „Stumpfsinn und Hingabe“. Und die Mahnung der Trainer an die Fahrer, entweder auf dem Rad zu trainieren oder aber sich den Rest des Tages hinzulegen, zu „soignieren“! Nun Tim Krabbés „Das Rennen“. Ich habe nie ein besseres Sportbuch gelesen.
Todestag haben Edvard Grieg, Albert Schweitzer, Georges Simenon und der überaus feine Richard Hey.
Freitag, 1. September 2006 – Dreizehnuhrsechsundzwanzig, zwanzigkommaneun, sonnig.
Gestern „Toto der Held“. Nicht mein Ding. Nicht diese Schwarze-Serie-Ästhetik, nicht diese kalkulierte, seelenlose Dramaturgie, die abläuft wie ein Uhrwerk, und nicht der Regisseur mit seinen vielen fummeligen Karteikärtchen. Aber tolle Schauspieler.
Wenn der Markt seinen Mann nicht mehr nähren will, streckt sich der freie Geistesarbeiter nach den Brotkörben, heißt: nach der Macht. In der Hoffnung, dass durch Ergebenheitsadressen wieder ein wenig Geld in die Kasse kommt. Und sei es ein Honorar vom „Spiegel“. Dort fand ich gestern in der aktuellen Ausgabe einen Beitrag des Liedermachers und Schriftstellers Thommie Bayer, den ich vor Jahren auf einer Party bei Axel H. kennenlernte. In seinem Text, einem offenen Brief an Angela Merkel, outet sich Bayer als Parteigänger der jetzigen Kanzlerin und berichtet, dass ihn dieses Bekenntnis bereits einen Teil seines Freundeskreises gekostet habe. Nun scheint ihn das so sehr zu schmerzen, dass er – statt in sich – in die Offensive geht und der Kanzlerin vorwirft, ihr sozialpolitisches Rollback nicht konsequent genug zu verfolgen: „Ich habe was riskiert, damit Sie gewählt werden, und jetzt sind Sie gewählt, und Sie riskieren nichts.“ Gott, was für ein verkommenes Muckertum, was für eine verbogene Kreatur! „Judas ohne Silberlinge“ hätte Carl von Ossietzky zu einer solchen Figur gesagt.
Tot: Jacques Thibaud, Albert Speer, Fritz Cremer.