Jetzt gibt es Links, die man sich anschauen kann, wenn man rechts auf Links klickt.
Und hier ist es, das schönste Winterbild seit Pieter Bruegel d.Ä.
Es ist das von Harald Schröder fotografierte Cover zur CD „Wenn Winter ist, will Eis ich schlecken“, die gerade bei der Stalburg Theater Tonträgerei erschienen ist.
Versammelt sind die komischsten Texte seit Schuberts „Winterreise“: von Demski, Bernstein, Gernhardt, Knorr, Clausen, Eilert, Stössinger, van Nelsen, Betancurt, Tuschick, Herl und Altenburg. Es lesen Ingid El Sigai und Jo van Nelsen.
Die Herauskommfeier zur CD findet statt am 6. Dezember um 20 Uhr im Theater Stalburg in der Glauburgstraße 80, und das wird die lustigste Party seit Ernst Jüngers Beerdigung. Beziehen kann man das Werk unter 069 / 25 62 77 44 oder im Stalburg Theaterladen, Spohrstr.39 (Frankfurt, Nordend) oder über www.stalburg.de
Donnerstag, 30. November 2006 – Zwölfuhrsechsundzwanzig, neunkommaein Grad. Bedeckt.
Gestern schnell einkaufen, dann in die Spohrstraße zu Herl in den Theaterladen der Stalburg, die Winter-CD abholen. Hui, ist das Cover aber schön geworden. Wieder heim. Mailen. Amazon. Ebay. Kaufen. Bald Weihnachten. Anruf Piwitt. Kochen. Jürgen. Essen. Kulturzeit. Böll war ein CIA-Agent. Burga. Bett. Kryptisch?
Es gibt Sätze, bei denen ich vor Wut gegen die Wand treten möchte. Zum Beispiel: „Das Faszinierende an den italienischen Märkten ist ja gerade die Vielfalt der Farben und Gerüche“. Oder: „Guter Jazz muss für mich so ein relaxtes Grooven haben.“ Oder: „Die Ausleuchtung des Wohnbereichs ist meist eine heikle Sache“. Oder: „Mit dem Hörspiel als Form kann man eigentlich unheimlich viel machen“.
Es gibt Links, die selbst ich nicht anklicke. Zum Beispiel: „Lebendigen Igeln die Pfoten abgeschnitten.“ Oder: „Mutter steckt Baby in die Mikrowelle“. Oder noch schlimmer: „Berlusconi kann Klinik wieder verlassen.“
Es gibt Aufschriften, bei denen man ins Träumen kommt. Zum Beispiel auf der Plane eines Anhängers: „Anhänger-Oase – Vermietung, Verkauf, Reparatur von Anhängern aller Art“. Wie hat man sich eine Welt vorzustellen, für die jemand das Wort „Anhänger-Oase“ erfindet? Eine öde, leere Wüste, alles lechzt, hungert, dürstet nach Anhängern, aber nirgends ist einer zu sehen. Da, endlich, in der Ferne, gerade noch, dass wir den Ort vor Einbruch der Dunkelheit mit unseren erschöpften Autmobilen erreichen …
Lange Totenliste: Oscar Wilde, Fernando Pessoa, Béla Kun, Ernst Lubitsch, Wilhelm Furtwängler, Helmut Horten, Alfred Herrhausen, Hilde Spiel, Ulrich Wildgruber. Und der freundliche Sänger Hans Hartz, den ich oft in seinen Sandalen durch den Aldi-Markt auf der Berger Straße habe schlurfen sehen.
Mittwoch, 29. November 2006 – Vieruhracht, achtkommasechs Grad. Dunkel.
Bin ich eigentlich verrückt? Es ist 04:08 Uhr, ich bin vor zwei Stunden aufgewacht und treibe mich seitdem schon wieder auf den Internetseiten des FBI und der amerikanischen Zeitungen herum. Nebenbei immer mit Google Earth die Schauplätze abscannen, mit Wiki ein wenig Hintergrundmaterial sammeln und mit Leo die fehlenden Worte übersetzen. – „Dad cops plea in girl’s death“. Das versteh ich trotzdem nicht.
Das dritte Opfer der „Black Horse Killings“ von Atlantic County ist identifiziert: Es handelt sich um die 42-jährige Barbara Breidor. — Nachtrag 04:48 Uhr: Gerade kommt die Meldung, dass auch die vierte Frau identifiziert wurde: Es ist Molly Jean Dilts (20). Das Tattoo auf ihrem Bauch hieß also nicht “Yolly” sondern “Molly”. Sie hatte sich am 7.Oktober zum letzten Mal bei ihrer Familie in der Nähe von Pittsburgh gemeldet. Der Zustand ihrer Leiche läßt darauf schließen, dass sie bereits seit Ende Oktober tot ist.
Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag: „Wir sind die Partei von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Schichtendenken bzw. Klassendenken ist und bleibt uns fremd. Das wird es auch in Zukunft nicht geben dürfen. Sonst sind wir keine Volkspartei mehr, liebe Freunde. Das ist die Wahrheit.“ Der einbeinige Bettler vor dem Karstadt und Josef Ackermann – alles dieselbe Soße. Hauptsache Volk, Hauptsache deutsch. Das Protokoll vermerkt: „(Beifall)“.
Tot sind: Puccini, Zeppo Marx, Cary Grant und George Harrison.
Dienstag, 28. November 2006 – sechsuhrnullnull, achtkommaein Grad. Dunkel.
„In der Heiligen Zeit ist der Teufel nicht weit.“ (Jörgs Oma)
In der Kulturzeit singt Ray LaMontagne ein paar seiner depressiven Songs. Dazu ein guter Spruch: “Keine Frage, diesem Mann geht es schlecht. Aber so lange er so schön davon singt, wird es niemanden geben, der ihm helfen will.”
Erinnert sich noch jemand daran, wie in diesem Sommer in fast allen Blättern des Landes der „entspannte Patriotismus“ der Deutschen gefeiert wurde? Hier vier Meldungen vom Wochenende: In Lahr überfielen Skinheads einen 35-jährigen Deutschen tunesischer Abstammung. In Quedlinburg wurde ein 20-Jähriger von einer Gruppe Neonazis zusammengeschlagen. Ebenfalls in Quedlinburg wurde eine junge Frau von Nazis attackiert. Drei Jugendliche wurden in Magdeburg von Rechtsradikalen angegriffen und verletzt. In Halberstadt wurde ein Spätaussiedler von Rechtsextremen mit einem Baseballschläger verprügelt.
„Contagious shooting“ nennt man es in Polizeikreisen, wenn ein Polizist zu schießen beginnt und daraufhin seine Kollegen, ohne die Lage selbst zu überblicken, aber als seien sie angesteckt, ebenfalls das Feuer eröffnen. 50 Mal innerhalb nur einer Minute hat eine Gruppe Polizisten am Samstag im New Yorker Stadtteil Queens auf drei unbewaffnete schwarze Männer geschossen. Sean Bell, der wenige Stunden später heiraten wollte und mit seinen beiden Freunden den Junggesellenabschied gefeiert hatte, verblutete auf dem Weg in die Klinik. Die beiden anderen Männer wurden schwer verletzt. Sie wurden mit Handschellen an ihre Krankenbetten gefesselt. Bislang ist völlig unklar, was ihnen vorgeworfen wird.
Nachtrag: Samstag Gang durch das Atelierfrankfurt, abends „Wilde Erdbeeren“. Sonntag große Ritzelrunde, zuerst mit Atilla, dann Treff an der Deutschen Bibliothek und Richtung Ronneburg, abends zu Naomi und Matthias, dort Sabine und Bertram, der von Hans Weil erzählt.
Wie man einen Text nicht schreibt, kann man sich auf der Seite von Atelierfrankfurt anschauen: Auf Willkommen klicken und lachen! “Entsprechend seiner prozessualen Ausrichtung werden die Inhalte der Projekte …” Und so will man uns Kunst verkaufen.
Tot: Enid Blyton, Fritz von Unruh, Fernand Braudel.
Sonntag, 26. November 2006 – Siebenuhrdreiundfünfzig, elfkommasieben. Bedeckt. Schwere Wolken.
Freitag am Nachmittag mit dem ICE Richtung Köln. Schon am Flughafen verzögert sich die Weiterfahrt um zehn Minuten. Holen wir auch nicht mehr auf. Also verpasse ich am Kölner Hauptbahnhof die S-Bahn und muss stattdessen ein Taxi nach Dellbrück nehmen. Dauert aber viermal so lang. Mist. Schaffe es nicht mehr ins Hotel, also gleich in die große Tischlerei – Manufact. Thomas Winkler, der Buchhändler, freut sich: die Veranstaltung ist Tagestipp im Kölner Stadtanzeiger. Ah, die haben hier einen Corbière-Wein. Achtzig Stühle sind gestellt, aber dann müssen noch Bänke rangeschafft werden. Gernot, Peter, Doris tauchen auf – jetzt kann nichts mehr passieren.
Es spielen Guntram Freytag aus Dresden (Saxofon) und seine Musiker, ein Russe (Gitarre) und ein Österreicher (Bass). Wollen wir uns nicht alle duzen? Doch, sowieso. Am Anfang spielen sie solche Krimi-Witzigkeiten: Miss Marple, Filmmelodien usw. Aber schon während ich die erste Passage aus der „Braut“ lese, baut Guntram Freytag das Programm um, stellt das Saxofon zur Seite und nimmt stattdessen das Akkordeon. Ich fühle mich beim Lesen regelrecht getragen von dieser Musik. Echt ein guter Typ. Er merkt beim Spielen wie mir das gefällt, und einmal lächeln wir uns fast selig an. Bisschen fragen, bisschen antworten. Dann italienisches Restaurant, aber da ist Geschlossene Gesellschaft mit mächtig Tanz. Also paar Häuser weiter. Essen. Spät ins Hotel, heißt „Uhu“.
Morgens mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof, kurzer Blick auf den Dom. Mit mir im Abteil eine Gruppe Frankfurter Kriminalpolizisten, die am Abend zuvor durch die Kölner Kneipen gezogen sind. Sie erzählen von zwei Frauen, die im Lokal „ihre dicken Titten gezeigt und gegenseitig dran genuckelt“ haben. Es hat ihnen gefallen, den Polizisten. „Fährt jemand mit ins PP?“ – „Nee, ich fahr gleich durch nach Hanau.“ – wo sie offensichtlich gerne wohnen.
Inzwischen ist nach Kim Raffo ein zweites Opfer der Morde von Atlantic City – die in der Presse bereits „Black Horse Killings“ genannt werden – identifiziert worden: es ist die 23jährige Tracy Ann Roberts. Janette Brown, eine Bekannte der beiden Frauen, wird in der „Press of Atlantic City“ zitiert: „I think I know exactly who did it but I’m scared to say because he’s still out there.”
Eine 22jährige Frau, ihr 40jähriger Komplize und ein weiterer 53 Jahre alter Mann sind festgenommen worden, weil sie junge Frauen in ein Haus in Garlstedt (Landkreis Osterholz) gelockt und dort geknebelt und gefesselt haben. Eine der Frauen war rund drei Wochen lang in einen Käfig gesperrt und während dieser Zeit immer wieder von den zahlenden „Kunden“ der Verdächtigen vergewaltigt worden.
Tot sind: Eichendorff, Browning, Courths-Mahler, Arnold Zweig, Wim Toelke. Und der bayerische Bombenbauer Johann Lang.
Freitag, 24. November 2006 – Elfuhrsechsunddreißig, zwölfkommaein Grad. Grau.
Obwohl die Polizei sich bemüht hat, sämtliche Spuren, die der Amokläufer Sebastian Bosse im Netz hinterlassen hat, umgehend zu löschen, ist ihr das bislang noch nicht vollständig gelungen. Immerhin lassen sich noch die Einträge des Online-Tagebuchs von „resistantX“ finden, die jetzt zum Gegenstand vieler Kommentare werden. Unter anderem von diesem: „Solltest du wiedergeboren werden und erneut einen Amoklauf durchziehen wollen, deinstalliere doch vorher bitte CounterStrike von deinem Rechner, ja? Das ewige Killerspiele-Gejammer geht mir wahnsinnig auf den Sack.“
Während sich Polizei und Staatsanwaltschaft noch zurückhaltend zeigen, spekulieren die außerbehördlichen Fachleute bereits über die Umstände der vier Frauenmorde von West Atlantic City. Danach gilt es als sicher, dass es sich bei dem Täter um einen Serienmörder handelt, dass er aufgrund seiner Ortskenntnis aus der näheren Umgebung stammt, und dass er mit großer Wahrscheinlichkeit bald wieder zuschlagen wird. Inzwischen wurden alle vier Opfer obduziert, nur bei zweien konnte man die Todesursache feststellen: Eine der Frauen wurde zu Tode stranguliert, die andere ist aus unbekannter Ursache erstickt. Noch immer kennt man nur den Namen Kim Raffos. Eine Frau hofft man aufgrund ihrer drei Tattoos identifizieren zu können: eine Bulldogge auf dem Rücken, ein Playboy-Bunny auf der Schulter und das Wort „Yolly“ um den Nabel herum.
Das Luftbild der Staatsanwaltschaft zeigt die Fundorte der Leichen (vier weiße Punkte auf der Diagonalen).
Über Kim Raffo wurde derweil bekannt, dass sie aus Brooklyn stammte, den Handwerker Hugh Auslander heiratete, mit ihm nach Florida zog und zwei Kinder hatte: eine Tochter (14) und einen Sohn (12). Sie trennte sich von ihrem Mann, ging nach Atlantic City, wurde drogensüchtig und ging auf den Strich. Der Besitzer von „Papa Joe’s Restaurant“, wo sie fast täglich aß, hat sie am letzten Sonntagmorgen gegen 2.30 Uhr in das Auto eines Freiers steigen sehen. Wie er das öfter tat, hat er sich auch diesmal die Autonummer notiert. Er habe das Kennzeichen an die Ermittler weiter gegeben.
Todestag von Diego Rivera, Lee Harvey Oswald und von László József Bíró, dem Erfinder des Kugelschreibers.
Donnerstag, 23. November 2006 – Fünfuhreinunddreißig. Siebenkommanull Grad. Dunkel.
Weil das Kartenmaterial der Staatsanwaltschaft von Atlantic County sehr ungenau ist, dauert es eine halbe Stunde, bis endlich auf Google Earth der Fundort der Leichen geortet ist. Dann habe ich das Satellitenbild. Die Stelle liegt an der Lakes Bay zwischen Atlantic City und Pleasantville, dort, wo Expressway und Black Horse Pike parallel zu einander verlaufen. Eine Gegend, in der vor fünfzig Jahren Familien Urlaub machten, wo sich jetzt aber vor allem Prostituierte und Dealer aufhalten. Dort waren am Montag in einem Abwassergraben hinter einem heruntergekommenen Motel vier Frauenleichen nahe der Bahnlinie gefunden worden. Jedes der Opfer war weiß und hatte blondes Haar; die Frauen waren alle barfuß, lagen auf dem Bauch und waren mit dem Gesicht nach Osten gerichtet. Der Zustand der Leichen weist darauf hin, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten, aber alle im Verlauf der letzten drei Wochen hier abgelegt wurden. Bislang wurde erst eines der Opfer identifiziert: es handelt sich um die 35jährige Kim Raffo, die während der Woche vor ihrem Tod in einer Pension in Atlantic City gemeldet war.
Am Vormittag Anfrage des Fernsehens, ob ich gemeinsam mit Renate Schmidt und Bernhard Bueb an der Sendung „Quergefragt“ teilnehmen möchte. “Geradeausgeantwortet”: nein.
Keine sieben Stunden später: Das „Nachtcafé“ des SWR-Fernsehens bittet um Teilnahme an der Sendung „Erfolgsgeheimnis Disziplin“. Auf jeden Fall dabei: Dr. Bernhard Bueb. Himmel aber auch …
Tot sind: Hanns Johst, der Dramatiker Hitlers und „Barde der SS“, von dem der Satz stammt: „Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning“. Wieland Herzfelde, Kommunist, Publizist, Verleger. Klaus Kinski, Fuchtler. Und Louis Malle, der 1980 den schönen Film „Atlantic City, USA“ drehte.
Mittwoch, 22. November 2006 – Vieruhrdreißig, sechskommaneun. Dunkel. Regnet ja gar nicht.
„I am too lazy to shoot myself.“ (Lord Byron)
Final Cut: Am Abend die Nachricht, dass Robert Altman gestorben ist.
„Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin“, schreibt Sebastian B., der 18jährige Amokläufer von Emsdetten in seinem Abschiedsbrief. Und schließt mit den Worten: „Ich bin weg.“
Dass ein Verbot der sogenannten Killer-Video-Spiele Gewalttaten in der Realität verhindern würde, mag man bezweifeln. Aber welchen Grund gibt es eigentlich, diese Spiele nicht zu verbieten?
In der Nähe einer Gruppe von Motels bei Atlantic City an der Ostküste der USA hat eine Spaziergängerin am Montag die Leiche einer Frau gefunden. Die hinzugerufene Polizei entdeckte drei weitere Leichen. Offenbar wurden die Frauen erschossen. Näheres ist noch nicht bekannt.
Tote: Jack London, John F. Kennedy, Aldous Huxley, Mae West, Erich Fried.
Dienstag, 21. November 2006 – Siebenuhreinunddreißig, neunkommanull. Es dämmert, regnet.
Nicht die geringste Lust, der schweigenden Welt dort draußen etwas mitzuteilen.
Nach Monaten mal wieder über die Zeil. Und reicht für Jahre. Mit all diesem Muff aus Billigshops, Glühwein, gieriggeilen Fressen, Ladenschwengeln, Schnäppchen, Chanel, Woolworth, fettleibiger Provinz, Lautsprechern, Svarowsky, virilen Jungtürken, Dolce & Gabana, Unverschämtheiten, Wetterauer Dummdeutsch.
Dann für anderthalb Stunden in die ganz andere Welt gerettet, in die Schirn, wo die Musikschule ihr Foyerkonzert gibt.
Spiegel: „Die Deutschen müssen das Töten lernen“. Das heißt schon was, einen solchen Satz – und sei es in Anführungszeichen – auf’s Titelblatt zu setzen. Einundsechzig Jahre danach.
Was für eine Liste von Toten: Henry Purcell. Angelo Soliman. Johann Bückler, genannt Schinderhannes. Heinricht von Kleist. Henriette Vogel.
Samstag, 18. November 2006 – Siebzehnuhreins, zwölfkommafünf Grad. Dunkel.
Eine gute Nachricht: Der Gebäudereiniger, ehemalige Berufsboxer und Sohn eines sardischen Eisenbiegers Graciano Rocchigiani muss mal wieder ins Gefängnis.
Noch eine gute Nachricht: Ulrich Boom, Stadtpfarrer im unterfränkischen Miltenberg, hatte am 20. Juli diesen Jahres die Glocken seiner Kirche so lange läuten lassen, bis die Neonazis, die ganz in der Nähe einen Aufmarsch abhielten, ihre Kundgebung entnervt abbrachen. Die Nazis zeigten den Pfarrer daraufhin wegen grober Störung einer genehmigten Versammlung an. Jetzt teilte die Staatsanwaltschaft mit, dass sie das Verfahren eingestellt habe. Der Pfarrer, der in der Lokalpresse bereits als der „Don Camillo von Miltenberg“ bezeichnet worden war, auf die Frage, ob er in einem ähnlichen Fall erneut so handeln würde: „Aufgrund meiner Lebensart vermute ich, dass ich wieder etwas Ähnliches machen würde.“
Heute vor 84 Jahren starb Marcel Proust. Wenn es in der Literatur Heiligsprechungen gäbe und ich der Stellvertreter Goethes auf Erden wäre, ich würde ihn, der auf dem Friedhof Père Lachaise begraben liegt, als Ersten und Einzigen heilig sprechen.
Heute vor 19 Jahren starb Jacques Anquetil, fünfmaliger Sieger der Tour de France. Im Jahr 2004 veröffentlichte seine Tochter Sophie ein Buch, in dem sie enthüllte, dass ihr Vater jahrelang in Bigamie mit seiner Frau Jeanine und seiner Stieftochter Annie gelebt hat. Sophie entstammt der Beziehung zu Annie.
Freitag, 17. November 2006 – Zehnuhrzweiundfünfzig, vierzehnkommdrei. Bedeckt.
Robert erzählt, dass er einmal nach Paris gefahren sei, um dort eine Freundin zu besuchen. Am Haus angekommen, habe er auf einem der Klingelschilder den Namen „Biermann“ gelesen. Da er gewusst habe, dass der Sänger in Paris ein Haus besitze, habe er die Freundin gefragt, ob es sich bei ihrem Vermieter um den deutschen Musiker handele. Den kenne sie zwar nicht, aber in der Tat komme aus einer der Wohnungen gelegentlich der scheppernde Klang einer Gitarre und das Krächzen einer Singstimme. Und eben schaue ich in mein altes Pariser Telefonbuch von 1994, tatsächlich: Dort ist ein Wolf Biermann verzeichnet: 30, rue Samson im 13. Bezirk.
Was ich heute gelernt habe.
1. Dass ein Mensch, der sexuell erregt wird, wenn er sich an anderen reibt – zum Beispiel im Gedränge eines Kaufhauses oder einer U-Bahn – als Frotteur bezeichnet wird.
2. Dass man Kniekehlensex als „albanisch“, Achselhöhlensex als „italienisch“ und Pobackensex als „mongolisch“ bezeichnet.
3. Dass man unter Amputophilen Menschen versteht, die es mögen, wenn ihrem Sexualpartner einzelne Gliedmaßen fehlen.
4. Dass man als Infantophilie die sexuelle Fixierung auf Kleinkinder bis zum sechsten Lebensjahr bezeichnet.
5. Dass man es Dogging nennt, wenn Menschen dadurch erregt werden, auf Parkplätzen oder in Wäldern Sexualverkehr zu haben. Dass ein solches Vorhaben oft im Internet angekündigt wird, um möglichst viele Zuschauer anzulocken. Und dass das Dogging eine aus England kommende Bewegung ist, die weltweit immer mehr Verbreitung findet.
6. Dass es Liebhaber für alles gibt.
Tote des Tages: Rodin, Ringelnatz, Villa-Lobos, Bob Marley, Marianne Bachmeier.
Donnerstag, 16. November 2006 – Achtuhrsechsundfünfzig, neunkommafünf. Schwerer Kopf. Und, Robert, wie geht’s Dir? Sehr sonnig. Die Forsythien blühen.
Auch so eine Idiotengeste: „Ich geb Ihnen mal mein Kärtchen“. Dann wird es lässig zwischen Zeige- und Ringfinger geklemmt und schwebt auf einen zu, so dass man gar nicht anders kann, als es ratlos entgegen nehmen und verlegen bewundern. „Hübsches Design.“ Mmh.
Es scheint Menschen zu geben, die nur aus einem Grund durch die Stadt spazieren: um freundlich zu sein. Sie lächeln unentwegt, sprechen alle paar Meter jemanden an, scheinen endlos Zeit zu haben, wollen sich vielleicht durch ihre Freundlichkeit selbst ein Lächeln ihres Gegenübers einfangen. Nett ist das, wirkt aber manchmal auch ein wenig bestusst, religiös, erlöst.
Biermann im Radio. Selbst wenn man ihn nicht sieht, meint man doch ihn zu sehen: wie er die Augen aufreißt, verschmitzt-verlogen die Lippen spitzt, wie er sich ziert und spreizt und dreht. Alles an diesem Mann ist selbstgerechte Emphase. „Ich kleiner Deutscher …“ Selbst seine behauptete Bescheidenheit: nichts als eitler Hochmut. Und wie er ständig meint, die Welt belehren zu müssen … Still davon! Aber dann dieser Schreck: Er erzählt, dass er seit acht, neun Jahren im Sommer in Banyuls Urlaub macht, dort also wohnt, wohin ich jeden Morgen mit dem Rad fahre. Wenn er mir da begegnete, mein Gott, ich weiß nicht, was ich schreien würde …
† Clark Gable, Lucia Popp, Georges Marchais.
Mittwoch, 15. November 2006 – Siebenuhrfünfundzwanzig, elfkommasechs. Regnet’s? Nee, glaub’ nicht.
Mit dem Rad in die Stadt. Das Gerichtsviertel ist von Polizei umstellt. Keine Ahnung, was da los ist. Lauter Schulklassen vor dem Römer, wollen zur „Lese-Eule“. Und die ewigen Japaner, die einem schon keiner mehr glaubt, die aber immer da sind und denen man ständig durchs Bild läuft. Der riesige Weihnachtsbaum wird gerade aufgestellt. Rein ins Haus. Ist Frau Bee schon da?! Ja, da ist sie doch. Hoch in das winzige Studio. Sechs Minuten fürs Literaturtelefon aufnehmen. Ab 1.Dezember zu hören unter: 069-24246021. Mist, ich werde wirklich krank. Schnell nach Hause.
Auf arte ist es auch nicht besser. Wellness, Chic, Lola, Mode, Trends. „Sich selbst lieb zu haben, das ist ja das Allerwichtigste für eine Frau.“ Uff ja, wie versehrt muss ein Hirn sein, damit es einen solchen Satz zustande bringt. Wirklich, was aus diesem Kasten kommt, ist zu neunundneunzig Prozent Müll. Aber wie wichtigwichtig sie alle sind, die Senderleute, die Anstaltsnasen. Und was das alles kostet, wie viel Geld, Zeit, Kraft, Phantasie. Was man damit alles machen könnte …
Nachrichten: Gegen Armin Meiwes, den sogenannten Kannibalen von Rotenburg, wird vor dem Landgericht Frankfurt verhandelt. Deshalb also vorhin dort die Polizei. Aber vor was haben die Angst? Dass Meiwes abhaut, dass er gelyncht wird, dass er zubeißt?
Heute denken wir mal nur an den Pferdezüchter und Schauspieler Jean Gabin, dessen Asche über dem Atlantik verstreut wurde. Ach nein, und an Mohamed Choukri.
Dienstag, 14. November 2006 – Zwölfuhrsiebenunddreißig, fünfzehnkommazwei Grad. Trüb, regnerisch.
Werde ich eigentlich beobachtet aus dem Haus gegenüber? Liest da vielleicht sogar jemand mit? Oder bin nur ich derjenige, der immerzu glotzen muss? Der jedes Mal den Hals reckt, wenn irgendwo in einem Zimmer eine Lampe eingeschaltet wird, eine Gardine sich bewegt. Und der dann mitschreibt?
Im Autoradio. Erst kündigt die Moderatorin von HR 2 eine Besprechung des neuen Films von Andy Warhol an … ähh, nein, Woody Allen, sagt sie. Dann liest jemand im penetrantesten österreichischen Dialekt einen der unsäglichen Mozart-Briefe an das Bäsele … Und das ist es nun, was der Welt gefällt: das selbstverliebte, Zoten reißende Genie. Nach fünfzehn Sekunden schalte ich ab. Werd mir doch meinen Mozart nicht verderben lassen, schon gar nicht von ihm selbst.
Tote des Tages: Jean Paul, Hegel, Manuel de Falla, Tony Richardson („Mademoiselle“ mit Jeanne Moreau, Foto).
Montag, 13. November 2006 – Zehnuhracht, achtkommanull. Trübe.
Gestern Regen. Schnelle Wolken. Blaue Flecken am Himmel. Schwere Greifer auf den braunen Äckern. Plötzlich Sonne und für einen Moment, jetzt, Mitte November, eine fast österliche Stimmung. Und unten glitzert in der Nässe silbern die Stadt.
Am Abend nach der Lesung im Kronenhof eine freundliche Dame: Ich sei ja wohl ein Zyniker, sagt sie, jedenfalls könne sie, mein Tagebuch lesend, zu keinem anderen Schluss kommen. Wie nur kann man diesen Irrtum ausräumen? Zynisch sind die Redakteure von „Bild“, die auf ihrer Titelseite mit gespielter Empörung verkünden: „Axel Schulz – Schwester arbeitet im Puff“ und uns eine Seite weiter Nacktfotos der neuen „Ausziehbildenden“ zeigen. Zynisch bin nicht ich, der das aufschreibt.
Tote: Vittorio de Sica („Fahrraddiebe“, Foto), Rudolf Schock, Karin Brandauer.
Samstag, 11. November 2006 – Fünfzehnuhrsechsundvierzig, achtkommaeins. Trübe.
“Kurzecks lange Kurve” – mit diesem charmanten Betreff kam gestern um 16.59 Uhr eine Mail von Jörg Erb aus dem Rheingau:
„Lieber Matthias, dass du so plötzlich beim Kartoffelschälen an Kurzeck denkst, mag daran liegen, dass ich gestern sowohl an dich als auch an ihn und seinen „Kirschkern im März“ dachte. Susanne, ich und Hund waren die letzten zwei Oktoberwochen in Uzès, haben Kurzeck dort in einem Restaurant gesehen. Von Günter Kämpf, bei dem wir wohnten, habe ich mir den Kirschkern ausgeliehen, aber nicht zu Ende lesen können. Gestern fiel mir das dann ein.
Und du? Deine Geisterbahn lese ich fast immer. Fällt aber oft schwer, weil mir scheint, du bist ganz abgeschnitten, einsam mit deinen Themen, rufst aber ganz laut ins Dunkel…
Hast du mit Attila noch mal über das Hörbuch gesprochen? Ist das noch ein Thema? Ich freue mich, wenn ihr euch meldet.
Grüße, Jörg“
Heute tot: Alfred Brehm („Beiträge zur Vögelkunde“), Alf Brustellin, Yassir Arafat
Freitag, 10. November 2006 – Fünfuhrachtundfünfzig, sechskommaein Grad. Dunkel.
Anderthalb Stunden auf dem Rollentrainer. Der Kampf um den Winterpokal ist eröffnet und schon verloren.
Mail von Cyril, er sei auf dem Weg nach Frankfurt. Na prima, können wir uns treffen. Neue Mail: Nee, jetzt sei er schon wieder auf dem Weg nach München. Ja, aber wenn er von München wieder zurück fahre … Nein, dann müsse er rasch nach Moskau …
Was sind das bloß für seltsame Schaltungen im Hirn. Stehe in der Küche, schäle Kartoffeln, denke an den morgigen Einkauf, und plötzlich – flash! – sehe ich mich zurückversetzt an jenen Sommersonntagmorgen in Uzès, als vollkommen unerwartet Peter Kurzeck im weißen Hemd und mit geschultertem Jackett dort über den schönen Marktplatz schlendert. Und ich ihn nicht anspreche, weil mir sein Name entfallen ist …
Der Suhrkamp Verlag erfährt aus der Zeitung, dass er jetzt zwei neue Besitzer hat. Die Schweizer Familie Reinhart, die seit Anfang der 50er Jahre beteiligt war, will nicht mehr. Stattdessen steigen nun ein: Claus Grossner und Hans Barlach, der als Medieninvestor bezeichnet wird. Und man fragt sich, ob das wirklich ein ordentlicher Lehrberuf ist.
Am 10.November 1944 wird der sechzehnjährige Barthel Schink (Foto, Mitte) – Edelweißpirat, Mitglied der Ehrenfelder Gruppe – von den Nazis in der Hüttenstraße in Köln-Ehrenfeld öffentlich am Galgen hingerichtet.
Donnerstag, 9. November 2006 – Elfuhrzweiundfünfzig, zwölfkommazwei. Bedeckt.
Mit der Absicht, sich durch einen Sprung in die Tiefe das Leben zu nehmen, ist am Montag gegen elf Uhr vormittags eine junge Frau auf eine Terrasse im 16.Stock des Rathauses von Lörrach gestiegen. Während Polizei und Rettungskräfte versuchten, die Frau von ihrem Vorhaben abzubringen, wurde sie von einer Gruppe Jugendlicher durch laute Zurufe ermuntert: „Es wird langweilig“ und „Spring doch endlich“. Als darauf hin einige in der Nähe stehende Obdachlose, die Jugendlichen verbal attackierten – „Haltet die Schnauze!“ – kam es zu einer Massenschlägerei, die erst durch den Einsatz von 35 Polizeibeamten beendet werden konnte. Sechs von ihnen wurden bei dem Einsatz verletzt. Gegen 16 Uhr konnte ein Polizeipsychologe die Frau überzeugen, die Terrasse zu verlassen.
Peter Gauweiler (CSU) und die Selbstjustiz. Angesichts des Versagens der Gefängniswärter, die nicht verhindert hatten, dass der Angeklagte Mario M. gestern auf das Dach des Dresdner Gefängnisses klettern konnte, dürfe sich “niemand wundern, dass im Volk Gedanken an Selbsthilfe aufkommen.”
Von Klaus Modick eine erbitterte Mail über den gestrigen „Geisterbahn“-Eintrag zur Oldenburg-Reise.
Heute vor 53 Jahren wurde in Kassel die erste Fußgängerzone in einer deutschen Stadt eröffnet.
Tot: Robert Blum, Apollinaire, Dylan Thomas, Charles de Gaulle, Holger Meins, Yves Montand. Und gerade die Nachricht, dass Markus Wolf letzte Nacht gestorben ist.
Mittwoch, 8. November 2006 – Fünfuhrachtundvierzig, vierkommafünf. Dunkel
Am Montag mit dem Zug nach Oldenburg. Unterwegs Rostropowitsch mit Schumanns Cellokonzert gehört und in Bernd Schroeders „Hau“ gelesen.
“Wir bitten die Verzögerung zu entschuldigen; es befinden sich Kinder auf der Strecke”
Taxi zum Hotel. Der Fahrer spricht nicht. Nicht guten Abend, nicht danke, nicht auf Wiedersehen. So ist Oldenburg.
Hier müsste ein Zimmer auf den Namen Altenburg reserviert sein. – “Ha, darauf fall ich nicht noch mal rein.” – Wie bitte? – “Herr Schroeder hat auch schon nach Herrn Altenburg gefragt, aber hier ist für keinen Herrn Altenburg reserviert; wenn Sie das bitte ausfüllen würden, Herr Seghers.” – Ja, lustig.
Mit Schroeder und Modick im Hotelrestaurant. Dann rüber in den Kunstverein: „Verbrechen, die sich lohnen – Der Kriminalroman zwischen Kunst und Kommerz“. Schroeder sagt, dass „Hau“ ja gar kein Krimi sei. Ich wiederum bestehe darauf, dass Krimis keine Kunst sind. Na ja. Interessiert eh keinen. Sind sowieso nur zwanzig Leute gekommen. Und dafür fahren zwei Autoren durch halb Deutschland und verlieren zwei Arbeitstage …
Dienstag. Taxi zum Bahnhof. Der Fahrer redet die ganze Zeit auf mich ein. Er ist Tamile. So ist Oldenburg. Auf der Rückfahrt Rostropowitsch mit Dvoraks Cellokonzert und weiter in Bernd Schroeders „Hau“. “Wegen dringend nötiger Reparaturarbeiten wird sich die Weiterfahrt um cirka dreißig Minuten verzögern; wir bitten um Ihr Verständnis.”
Vor einhundertundneunzehn Jahren starb jung, aber in Frieden der Zahnarzt, Spieler und Revolverheld John Henry “Doc” Holliday.
Montag, 6. November 2006 – Sechsuhreinundzwanzig, achtkommasechs. Dunkel.
In der Alten Oper. Saint-Saens’ Cellokonzert und Tschaikowskis Rococo-Variationen mit Johannes Moser. Sehr gekonnt, sehr brav, sehr schön, zu schön. Und Bachs Allemande aus der Suite No.1 spielt er auch, als sei es Tschaikowski. Mit rein äußerlicher Innigkeit – wenn es so etwas gibt. Den Leuten gefällt’s.
Nazi-Spam aus dem Gästebuch löschen, noch mal in die Mails schauen, essen, kurz in den „Tatort“ gucken, aber nee, was ist denn das für ein Mist, lieber doch nicht, also dem jungen Joachim Kaiser auf BRalpha zuhören, oh Gott, nein, auch nicht auszuhalten. Aber bisschen Fernsehen wär schon schön. Aber was denn? Wollen wir warten, bis Gerhard Schröder bei Christiansen auftritt? Bist Du jetzt völlig verblödet? Hey, war ein Witz, okay?
Suchbegriffe heute Morgen um 5:52 Uhr: Singer Sargent, Joaquin Sorolla, Karl Hau, Thies Grebenstein, Kriminalroman, Untersuchungsrichter, Durchsuchung.
Tot: Tschaikowski, Luhman, Pit Krüger.
Sonntag, 5. November 2006 – Vierzehnuhrzweiundfünfzig, zehnkommaeins. Grau.
Ein Wort, das in seiner Idiotie kaum zu überbieten ist: Antifa-Solidemo.
Samstag: Deichsels „König Arthur“ im Schauspiel, Ralf Küsters Gingold-Film auf DVD, dann Hape Kerkeling im Fernsehen. Und noch ein wenig Schroeders „Hau“ im Bett. Darüber eingeschlafen.
Bei dem „Braunen Haus“ kann es sich nur um das Gebäude in der Gutleutstr. 8-14 handeln. Es nannte sich auch „Gauhaus der NDSAP“. Heute befindet sich das Hessische Landesinstitut für Pädagogik darin. Aber dass dort auch die KPD mal residiert haben soll …?
Seltsam, ausgerechnet in einem Interview mit Peter Gingold finde ich eine Stunde später die Lösung. Das „Braune Haus“ war nach 1945 KPD-Zentrale, nicht in den 20er Jahren: „In Frankfurt habe ich mich zuerst bei der Landesleitung der KPD-Hessen gemeldet, im ehemaligen Haus der NSDAP in der Gutleutstraße. Der Vorsitzende Walter Fisch erwartete mich …“
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hörte eine Frau bedrohliche Geräusche und Hilferufe aus der Parterrewohnung ihrer Eltern in der Fuldaer Straße 34 in Bad Soden-Salmünster. Aus Angst verbarrikadierte sie sich mit ihrer Tochter in der Wohnung im ersten Stock und rief die Polizei an. Gegen 2.10 Uhr wurde der Notruf registriert. Die wenige Augenblicke später eintreffenden Beamten fanden den 74jährigen Rentner Otto L. und seine 72jährige Frau blutüberströmt im Eingangsbereich ihrer Wohnung liegen. Ein herbeigerufener Notarzt konnte nur noch den Tod der beiden alten Leute feststellen. Beide Leichen wiesen zahlreiche schwere Kopfverletzungen auf. Bei der sofort eingeleiteten Großfahndung durchsuchten die Polizisten auch ein Kleingartengelände in der Nähe des Bahnhofs von Salmünster. Dort nahmen sie in einer Laube zwei deutschstämmige junge Männer (21 und 27 Jahre alt) aus Kasachstan fest. Beide trugen blutverschmierte Kleidung. Bei sich hatten sie eine Eisenstange, die sie offenbar als Einbruchswerkzeug benutzt und mit der sie dann, als sie überrascht worden waren, das Ehepaar erschlagen hatten. Einer der beiden Täter habe in derselben Straße wie die beiden Opfer gewohnt. In einigen Meldungen heißt es sogar, er habe in einer Mitwohnung gelebt, die der Familie L. gehörte.
Tot: Angelika Kauffmann, Wladimir Horowitz, Yitzhak Rabin.
Samstag, 4. November 2006 – Einundzwanziguhrvierundfünfzig, neunkommaein Grad. Vollmond.
Erst eine Runde durch den Park, dann weiter auf den Lohrberg. Die Büsche und Bäume schon luftig, überall Durchblicke. Vor den Mündern weiße Luft. Zitterkalt. Die Hunde zerren an den Leinen, wollen zurück ins Warme. Ein Obdachloser auf Wanderschaft, freundlich. Radfahrer mit Schals vor den Gesichtern. Wippende Kaninchen flüchten ins Unterholz. Und oben dann der Blick weit über die sonnigdunstige Stadt. Eine Stunde, vier Minuten. Brötchen.
Spuren verwischen!
Abends in Großen-Buseck, Katholische Gemeindebibliothek. Freundlicher, angenehmer geht es eigentlich nicht. Hat ja auch Gerd Steines vermittelt. Ein älterer Herr fragt mich, ob ich das „Braune Haus“ in Frankfurt kenne. Nee, nie gehört. Erst KPD-Zentrale, dann NSDAP-Hauptquartier, am Anfang der Gutleutstraße. Ist mir echt peinlich, werde sofort nachschauen.
Oft macht es Mühe, sich in einem neuen Blog zurechtzufinden. Fremde Begriffe, fremde Namen, fremde Scherze. Und das Bedürfnis der wenigen Eingeweihten nach augenzwinkerndem Einverständnis, also nach Ausgrenzung. Es genügt ihnen, mit den drei, vier Stammgästen ein paar Zauberworte auszutauschen. Kaum hat man diese Hürden überwunden, stellt man fest: Es war mal wieder nicht der Mühe wert.
Tot sind: Adam Lux, Mendelssohn-Bartholdy, Gustav Schwab, Fauré, Jacques Tati.
Freitag, 3. November 2006 – Neunuhrfünfzig, fünfkommadrei Grad. Sonnig.
Auf die Frage, ob sie ihren Mann noch liebe, antwortet T. ungerührt: „Wir sind ein gutes Team.“
Auf „Evas-Geschenke.de“ gibt es: das Doof des Tages.
Ein Tagebuch ist ein Alletage-Buch, das heißt, man hat sich für jeden Tag zu schämen, an welchem man seinem Journal keine Zuwendung schenkt. Wenn ich ein Internet-Tagebuch entdecke, das mich interessiert, dann aber feststelle, dass es über Wochen keine neuen Einträge enthält, erlahmt meine Aufmerksamkeit – wie bei einer Tageszeitung, die nicht täglich erscheint. Ich beginne, dem Autor zu misstrauen. Eine gewisse Notwendigkeit, ein gewisses nervöses Verhältnis zur Welt, zum Alltag gehören schon dazu.
Ein Manko vieler Blogs ist auch, dass deren Verfasser ihre Vorgänger nicht kennen. Sie wissen nichts von dem Jahrhunderte alten Genre des Tagebuchs und dessen formaler Vielfalt. Sie kennen nicht Samuel Pepys, nicht Kafka, nicht Cesare Pavese, nicht Knut Hamsun, nicht Sandor Marai, nicht Max Frisch, nicht Hermann Peter Piwitt – um nur die persönlichen Lieblinge zu nennen.
Wer Tagebuch schreibt, hat das Bedürfnis, seine Gedanken, Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle durch Sprache haltbar zu machen. Seltsam allerdings, dass ein dreihundert Jahre altes Tagebuch wie das von Pepys, das gar nicht für die Öffentlichkeit oder die Nachwelt bestimmt war, heute noch interessanter und unterhaltsamer zu lesen ist als die meisten Blogs, die doch nach Publikum geradezu gieren. Warum ist es Pepys gelungen, seinen Alltag mitteilbar zu machen, zu objektivieren? Warum gelingt das den Bloggern fast nie?
Auch ein Kommentar zum Thema Tagebuch: Wer die „Krambude seines Herzens andern zur Schau stellt“ ist ein „Gaukler“ (J.G.Herder in den „Briefen zur Beförderung der Humanität“).
Und Jules Renard: „Nein, nein! Ich bin wie alle, und wenn es mir gelingt, mich im Spiegel genau festzuhalten, werde ich fast die ganze Menschheit sehen.“
Besorgen: Catherine Pozzis Tagebuch „Paul Valéry – Glück, Dämon, Verrückter“. Ennio Flaiano „Nächtliches Tagebuch“, Alfred Kantorowicz: „Deutsches Tagebuch“. Aber auch John Grishams „The Innocent Man“ – schon, weil der Roman von Kathrin Fischer empfohlen wird.
Tot: Georg Trakl, Henri Matisse, Thomas Brasch, dessen „Vor den Vätern sterben die Söhne“ ich gleich mal wieder aus dem Regal ziehen werde. (Bild: Filmplakat zu Braschs „Domino“ mit Katharina Thalbach)
Donnerstag, 2. November 2006 – Siebenuhrachtzehn, zweikommazwei Grad. Der Himmel, ganz oben: rot getüpfelt.
Die Sprache, ganz unten: „Know How Sharing für sozialdemokratische Webmaster“. Meine Güte, ja, das wird ihnen auch nichts nützen.
Dass ich die meisten Tagebücher im Netz nicht lesen mag, liegt nicht nur an deren Präsentation, am Design, der wirren Typographie, den vielen Verweisen, sondern auch an der Sprache, die flüssig nur noch zu lesen ist von den Angehörigen der jeweiligen Szene, in welcher der Autor sich bewegt. Eine wohltuende Ausnahme sind Andrea Dieners „Reisenotizen aus der Realität“ . Häufiger vorbeischauen werde ich künftig sicher auch bei „Chuzpe – das härteste jüdische Blog zwischen Tel Aviv und New York“. Und auf „Rebellmarkt“ findet sich der folgende deutliche Satz: „Wer ficken will, muss nett sein. Wer Leser will, muss erzählen.“
Nachtrag zu Dienstag. Dort, beim Empfang im Römer, ein Anwalt, der unter seinem Jackett einen Schal um die Hüften gebunden hatte. Und die Ansicht vertrat, Jan Ullrich sei selbst Schuld. Nicht, weil er gedopt habe, sondern weil er sich dabei habe erwischen lassen. Wenn man sich seine Hilfsmittel über einen Kassenarzt besorge, bei dem andere Kassenpatienten ein- und ausgehen, müsse man sich nicht wundern, wenn man im Wartezimmer gesehen werde. Wer so viel Geld verdiene wie der deutsche Radprofi, der müsse sich schon exklusiv betreuen lassen.
Tote am 2.November: 1975 wird der Schriftsteller und Filmemacher Pier Paolo Pasolini am Strand von Ostia mehrmals von einem Auto überrollt. 1979 stirbt der Bankräuber Jacques René Mesrine an der Porte de Clignancourt im Kugelhagel der Polizei. 2004 wird der Filmemacher Theo van Gogh in der Amsterdamer Linnaeusstraat ermordet.
Mittwoch, 1. November 2006 – Achtuhrsiebenunddreißig, achtkommazwei Grad.
Im Oktober zum ersten Mal über 10.000 Passagiere in der Geisterbahn.
Lese, dass Peter Gingold – Frankfurter Jude, Kommunist, Widerstandskämpfer – am Samstag gestorben ist. Im März haben wir noch seinen 90.Geburtstag gefeiert. Beigesetzt wird er neben seiner Frau Ettie in Paris. Und gerade schickt mir Schimmel die Einladung zur Trauerfeier. Dann sehe ich, dass erst kürzlich ein Film über Gingold gedreht wurde – von Ralf Küster, einem jungen Bremer Regisseur. Ich google, finde seine Mailadresse, schreibe ihm, und schon wenig später ist die Antwort da.
Abends mit dem Rad in die dunkle Stadt, vorne und hinten die Flickerlichter. Dann, auf halber Strecke: Mist, ich habe die Einladung vergessen. Also zurück. Um kurz nach sieben am Römer. Chr. wartet schon. Der Empfang bei der Oberbürgermeisterin hat bereits begonnen. Wir schleichen in den Kaisersaal. Petra Roth redet. Ich schaue mich um. Das sind wir also, die „100 Frankfurter Köpfe“. Erkenne Frank Wolff, Arno Lustiger, und Simone Plitzko, diese Modedesignerin mit dem seltsamen BH, die am Montag schon bei der Pressekonferenz war. Ist das nicht, oh Gott, ja, Peter Zingler. Und wo ist Michi Herl? Da kommt er rein, das Haar frisch onduliert, und nennt mich lautlos: „Petze“. Kameras, Küsschenküsschen, grüne Soße, Rindswurst. Aber erst Mal die hundert Bücher signieren. Ok, geschafft. Gibt’s hier keinen Rotwein? Nee. Gehen wir noch in die „Sansibar“ zum Barolo-Club? Ach was, komm, ich bin müde. Aber dann stellt uns Norbert Rojan noch eine junge Frau vor, unprätentiös, nett, offen – es ist Anna Satvary, die Juniorchefin von Gref-Völsing. Na also, hat sich der Abend gelohnt. Aber wirklich gerne kennen gelernt hätte ich Bettina von Bethmann und Nadine von Mauthner. Verpasst.
Drei Soldaten der Lettow-Vorbeck-Kaserne in Bad Segeberg haben ihre Beteiligung an den Totenschändungen in Afghanistan zugegeben. Verglichen allerdings mit dem, was der Namensgeber ihrer Kaserne getan hat, ist das Vergehen dieser drei Idioten nicht anders als lächerlich zu nennen.
Im Juli 2003 wurde in einem Wald bei Eisenach die Leiche eines unbekannten jungen Mannes entdeckt. Erst zwei Jahre später, als die Angehörigen ihn endlich als vermisst meldeten, konnte der Mann identifiziert werden. Es handelte sich um einen 29-jährigen aus Grebenstein bei Kassel, der als „leicht geistig behindert“ galt. Heute nun beginnt vor dem Landgericht Kassel der Prozess gegen ein Ehepaar aus demselben Ort, das den jungen Mann über ein halbes Jahr wie einen Sklaven gehalten haben soll. Das Opfer wurde misshandelt, ihm wurde immer weniger zu essen gegeben. Man vermutet, dass die Täter es auf die Sozialhilfe ihres „Gefangenen“ abgesehen hatten. Anfang Juli 2003 sei dieser nochmals mit einem Hocker so stark geschlagen worden, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Die Eheleute beschlossen, den wehrlosen Mann mithilfe eines befreundeten Paares in Thüringen auszusetzen. Auf der Fahrt dorthin, so wird vermutet, ist er bereits gestorben.
Tot am 1.November: Alfred Jarry, Ezra Pound und Hoimar von Ditfurth.
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