Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman
Dienstag, 30. Januar 2007 – Fünfuhrsechsundvierzig, Sechskommasechs Grad. Dunkel.
Ein Irrsinn besonderer Art ist die T-Net-Box, ein virtueller Anrufbeantworter, den ich nie bestellt habe, der nun aber statt meiner ans Telefon geht – selbst, wenn ich es nicht will. Ich bin zu Hause, das Telefon klingelt, ich gehe ran, aber nein, die T-Net-Box ist schneller. Kurz darauf klingelt es wieder. Ich hechte wieder zum Apparat, nehme ab, melde mich, höre dann aber nur die freundliche Automatenstimme: “Guten Tag! Es liegen neue Nachrichten für Sie vor …”
Eine Viertelstunde lang suche ich im Netz nach einer Bedienungsanleitung für das Ding. Als ich sie endlich gefunden habe, versuche ich, über eine lange Menüführung diesen Dienst abzuschalten. Aber als ich glaube, alles geschafft zu haben, werde ich aufgefordert zur Bestätigung meine Geheimnummer einzugegen. Doch ich habe keine Geheimnummer, denn ich habe diesen Service ja nie gewollt. Also nochmal das Ganze …, aber nein, ich lande immer wieder an derselben Stelle. Schließlich gebe ich entnervt auf, und versuche über eine Hotline Hilfe zu bekommen. Eine weitere Viertelstunde lang hänge ich in der Warteschleife – von Anfang an mit der immer selben sedierenden Melodie und dem Versprechen ruhiggestellt, der nächste freie Mitarbeiter sei für mich da. Endlich meldet sich Herr Kausch. “Herr Kausch, ich will diesen Scheiß loswerden.” – “Okay, wird gemacht.” – “Und ab wann? Wann hört das auf?” – “Ab sofort. Ich gebe Ihre Löschung ein, dann bekommen Sie ab sofort keine Nachrichten der T-Net-Box mehr.” – “Prima, danke!”.
Ich lege auf, bin erschöpft, aber zufrieden.
Zehn Minuten später läutet das Telefon. Ich nehme ab. “Guten Tag! Es liegen neue Nachrichten für Sie vor …”
Heute hat Gene Hackman Geburtstag (Plakat zu The Conversation).
Montag, 29. Januar 2007 – Sechsuhreinundzwanzig, fünfkommaneun. Hört sich an, als ob es regnet. Was hört sich so an? Das Schlurren der Autoreifen …
Es gibt so eine Sorte junger Väter – wenn die in der Öffentlichkeit mit ihren Kindern spricht, spricht sie immer zur Welt. Alles, was diese Männer tun, tun sie demonstrativ. Als müssten sie ihrer Umgebung unentwegt zeigen, welch gute Väter sie doch abgeben. “Guck mal, Lennart, das musst du dir unbedingt ansehen …” Es hat geklappt: Alle, außer dem kleinen Lennart, drehen die Köpfe.
Meldungen, die man liebt: In Kuala Lumpur verspeist eine sieben Meter lange Riesenpython elf Wachhunde.
Oder diese hier: Die Supermarktkette Lidl konnte von den 300.000 Eintrittskarten für die Comeback-Tournee des Schlagersängers Heino weniger als 10.000 Stück verkaufen.
In der SZ ein Interview mit der Kinderpflegerin Alexandra Reisch-Zimmerling aus dem oberbayerischen Trostberg, die im Herbst 1979 für zwei Monate als Haushaltshilfe auf Picktons Schweinefarm in Port Coquitlam gearbeitet hat. Am liebsten würde ich sofort nach Bayern fahren, um mit der Frau zu reden und sie zu bitten, sich an jede Sekunde dieser acht Wochen zu erinnern.
Am Niddaufer ist ein schwerverletzter Radfahrer gefunden worden. Man hat ihn ins Krankenhaus gebracht und erst dort festgestellt, dass er ein Projektil im Kopf hat. Kurze Zeit später war der junge Mann tot. Seine Identität ist noch ungeklärt. Mehr als 50 Polizisten haben die Umgebung abgesucht.
Todestag von Janet Frame.
Freitag, 26. Januar 2007 – Vieruhrsiebenundzwanzig, minus vierkommazwei. Dunkel. Sterne.
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Robert Pickton lacht, als man ihm vorhält, seine Freundin Lynn Ellingsen habe ausgesagt, sie habe gesehen, wie Pickton eine Frauenleiche, die an einem Haken hing, gehäutet habe.
Inspector Adam äußert gegenüber Pickton, die Polizei habe mit Prostituierten gesprochen, die auf seiner Farm gewesen seien. Pickton habe die Frauen beim Sex nicht einmal angesehen.
Todestag von Géricault.
Donnerstag, 25. Januar 2007 – Elfuhrdrei, nullkommasechs Grad. Sonne, blau.
Dritter Tag des Pickton-Prozesses. Die Nachrichten werden spärlicher. Ein Großteil der internationalen Presse ist bereits abgereist.
Das Gewehr, sagt Pickton, habe er gebraucht, um Wildschweine zu jagen. Den Dildo, sagt Pickton, habe er am Gewehrlauf als Schalldämpfer angebracht.
Ein Bekannter Robert Picktons, Andy Bellwood, hat der Polizei gegenüber im Februar 2002 über ein Gespräch mit dem Beschuldigten berichtet. Darin habe Pickton gesagt, er töte Frauen von hinten, lasse sie ausbluten und verfüttere sie an seine Schweine.
Ein anderer Bekannter, Scott Chubb, gab zu Protokoll: Pickton habe ihm die Methode erläutert, wie man am besten eine drogensüchtige Prostituierte los werde. Man müsse ihr Scheibenwischerflüssigkeit in die Venen injizieren, dann halte man ihren Tod für die Folge einer Überdosis Heroin.
Der israelische Präsident Moshe Katsav bestreitet die Vorwürfe, er habe eine Mitarbeiterin vergewaltigt und andere sexuell belästigt. Er werde sich gegen diese Anschuldigungen mit aller Kraft wehren, sagte er, und “koste es einen Weltkrieg”.
Todestag des ungarischen Gitarristen Attila Zoller.
Mittwoch, 24. Januar 2007 – Fünfuhrsiebenundzwanzig, minus zweikommavier.Dunkel.
In Vancouver ist es kurz vor halbneun abends (neun Grad, bewölkt). Der Prozesstag ist längst zu Ende. Als Erstes die Nachrichten auf Global TV. Den Geschworenen und den Angehörigen der Opfer hat man das Video der Vernehmung von Pickton (Foto) vorgespielt, das kurz nach seiner Festnahme vor knapp fünf Jahren aufgenommen wurde. Auf die Frage, was er dazu sage, dass gegen ihn im Zusammenhang mit dem Verschwinden von 50 Prostituierten ermittelt werde, antwortete der Schweinefarmer: “Hogwash! … I’m just a working guy … I’m just a pig man.” Später allerdings: “I’m a bad dude.”
Gerate auf eine Seite (Orato.com), wo eine ehemalige Prostituierte von einem Besuch auf der Farm berichtet. Sie sei dort von Pickton und seiner Freundin erwartet worden. Es hätten Berge von Kokain auf dem Tisch des Wohnwagens gelegen. Sie glaube nicht, dass Pickton die Frauen willentlich umgebracht habe. Sie glaube, dass sie an den Drogen gestorben seien, die er ihnen gegeben habe – und dass er die Leichen dann habe beseitigen müssen. Auf derselben Seite berichten zwei andere Prostituierte als akkreditierte Prozessbeobachterinnen. Eine der beiden, Trisha Baptie, ist sich ebenfalls unsicher über den Umfang von Picktons Schuld. Die Vertreter der Anklage müssten sie erst überzeugen …
Auf den anderen Sendern auch nicht mehr …
Todestag von Ted Bundy.
Dienstag, 23. Januar 2007 – Neunuhrdreiundzwanzig, minus einskommadrei. Der Winter.
Gestern erster Tag des Pickton-Prozesses. Versuche alles mitzukriegen, was die kanadischen News-Stationen bringen. Auf dem Monitor ist ein kleiner Wecker eingeblendet, auf dem ich ablesen kann, wie viel Uhr es gerade in Vancouver ist. Stöpsle ständig hin und her zwischen dem Windows-Notebook und dem Apple. Jeder Sender füttert einen anderen Player. Dann ruckeln und stoppen die Streams. Das viel zu kleine Bild hält an, zerfällt in Pixel, der Ton läuft weiter – oder auch nicht. Das alles ist vollkommene Steinzeit.
Trotzdem, alles, was ich zu sehen und zu hören bekomme, brennt sich sofort ein. Ständig warnen die Sender ihre Zuschauer mit Inserts: “Disturbing Content” … “Horrific Details”. Pickton sitzt im Gerichtssaal in einem Käfig aus kugelsicherem Glas. Anklageerhebung. Er habe die Frauen “getötet, geschlachtet und entsorgt”. Zwei gespaltene Frauenköpfe in einer Gefriertruhe. Hände. Teile von Füßen. Ein Kieferknochen mit Zähnen im Schweinetrog. Ein Gewehr mit einem aufgeschraubten Dildo … Gleich zu Beginn veröffentlicht die Anklage eine Sensation: Einem in die Untersuchungshaft eingeschleusten Undercover-Polizisten habe Robert Willie Pickton 49 Morde gestanden. Dabei hatte er noch im Dezember auf “nicht schuldig” plädiert. Es soll ein elfstündiges Video dieses Gesprächs geben. Einen Mord mehr hätte er gerne noch begehen wollen, habe er gesagt. Aber er sei am Ende zu schlampig geworden – too sloppy.
Bin ich ein Bad-News-Junkie?
Chr. kommt vom Arzt. Der hat ihr einen kleinen Zeitungsausschnitt mitgegeben: die Leserbriefe zu dem FR-Interview. Christian Platen aus Nauheim schimpft, ich sei bloß neidisch, sei bloß deshalb gegen die Großkonzerne und Banken, weil es bei mir nur zum Schriftsteller gereicht habe.
Cyril schickt das Foto, das ich am Freitag mit seiner Kamera von ihm gemacht habe. Ich baue es unter dem 19. Januar ein.
Pierre Bourdieu ist tot.
Montag, 22. Januar 2007 – Achtuhrneun, vierkommanull. Bedeckt.
Heute beginnt die öffentliche Hauptverhandlung gegen Robert Pickton. 350 Journalisten sind akkreditiert. Ab sofort schaue ich nur noch Kanadisches Fernsehen. Was ist eigentlich mit der “Zeit”? Die haben nie auf mein Angebot reagiert, eine große Darstellung des Falles zu schreiben. Auch gut.
Am Samstag “Brinkmanns Zorn” im Malsehn. Eigentlich dachte ich, mit Rolf Dieter Brinkmann nun wirklich durch zu sein. Aber das Stakkato seiner Texte verfängt sofort wieder. Eine Literatur, die sich um Literatur nicht schert. Der Film zeigt, wie weit wir von dieser schönen Rohheit entfernt sind. Wie gut sie tut, wie nötig sie mal wieder wäre. Alles beiseite räumen und wieder anfangen zu registrieren. Sagen, was ist. Dass mal wieder jemand die Brocken einsammelt. Ohne auf den Betrieb, auf das Feuilleton, auf die Jurys, auf die Kritiker, auf die Preise zu schielen.
Gräßlich allerdings die Jünger, die Epigonen, die Fans, die mit dem Brinkmann-Duktus durch die Welt laufen.
Vorgestern und gestern jeweils zwei Stunden durch die Wetterau. Aber dauernd Ärger mit den Laufrädern: Speichen locker, Schläuche defekt, Nabe klackert. Trotzdem gut.
Vor zwölf Jahren starben am selben Tag Telly Savalas und Jean-Louis Barrault.
Samstag, 20. Januar 2007 – Sechsuhrfünfzig, zwölfkommaacht Grad.
Was die Leserinnen von “Brigitte” gerade in ihrem Forum “Liebe und Persönlichkeit” diskutieren: “Du willst immer nur ficken!”, “Wie werde ich zum Fickhasen?”, “Wie weit / hoch spritzt Mann?”, “Onanierende Männer turnen mich an”, “Beim Sex Schlagadern abdrücken”, “Zeigen in der Öffentlichkeit”, “Mein Liebster lehnt Pornos ab”, “Nackthandwerker”, “Rasiert zum Frauenarzt”, “Analverkehr / Microklist”, “Riesige Brüste”, “Verhüten mit dem Verhütungscomputer”.
Todestag hat Audrey Hepburn (Filmfoto aus “Breakfast at Tiffany’s”), die im April 2006 von den Leserinnen und Lesern des Magazins “New Woman” zur schönsten Frau aller Zeiten gewählt wurde. Passend dazu die Meldung, dass das amerikanische Juwelierunternehmen die Billigkundschaft aus den Läden drängen will und stattdessen wieder auf Millionäre und Milliardäre setzt.
Freitag, 19. Januar 2007 – Achtuhrachtundzwanzig, zehnkommavier. Regen. Der Sturm ist weg.
Nachdem wir ein halbes Jahr nichts von einander gehört haben, ruft Cyril gestern Mittag vom Fahrrad aus an. Ausgerechnet während sein Namensvetter Kyrill über Europa fegt. Oh, sagt C., ich muss mal kurz rechts ranfahren; hier stürzen gerade Äste auf die Straße. Um vier ist er da. Er erzählt aus Moskau, wo er am Puschkin-Institut war und für seinen Film über Michail Chodorkowskij recherchiert hat; wir backen Waffeln, reden über Frankfurt und Berlin, über die gemeinsamen Bekannten und über das, was wir ganz bestimmt vielleicht alles zusammen machen werden. Wie schön.
Irgendwann gehe ich kurz in die Küche und höre aus dem Wohnzimmer plötzlich einen Riesenkrach. Der Sturm Kyrill hat die innere Abdeckung des Rolladens aus der Verankerung gedrückt und genau dorthin stürzen lassen, wo ich bis vor zwei Minuten saß. Nix passiert.
Eine Nonne, vor einem H&M-Plakat, die ihren Lieblingswitz erzählt.
Überhaupt: Witze erzählen. Jemand, der immer wieder ansetzt, aber immer wieder die Pointe vergißt oder zu früh erzählt …
Heute hätte Kenneth Lee Boyd Geburtstag. Er wurde am 2. Dezember 2005 als eintausendster Mensch nach Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA hingerichtet.
Donnerstag, 18. Januar 2007 – Vieruhrsiebenundvierzig, zehnkommavier. Es regnet. Und angesagt ist schwerer Sturm … Fünfuhrvier: Da ist wieder das Moped.
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Um es mit den Kollegen des Stalburg Theaters zu sagen: Och nö!
Es wird angenommen, dass der hochverschuldete 33-jährige Enkel der Rentnerin den Doppelmord in der Nordendstraße begangen hat. Er wurde am Dienstagnachmittag festgenommen. Vermutlich hat er die beiden alten Leute bereits am 9.Januar erschlagen. An diesem Tag hat er mit der EC-Karte seiner Großmutter 1500 Euro abgehoben und ist dabei von der Überwachungskamera gefilmt worden. In der Wohnung der Frau lag eine aufgeschlagene Zeitung mit demselben Datum.
Todestag hat der bayerische Dichter, Maler und Heimatforscher mit dem schönen Namen Luitpold Schuhwerk.
Mittwoch, 17. Januar 2007 – Fünfuhrneun, sechskommasieben. Da draußen knattert seit zehn Minuten ein Moped durch die Dunkelheit. Fährt, hält an, fährt weiter, kommt zurück … verschwindet. Nee, da ist es wieder. Vielleicht ein Sperrmüllplünderer, der zwischendurch seine Beute in Sicherheit bringt.
Die Arbeit nimmt zu; die Wahrnehmung lässt nach.
Gestern Morgen kurz am Tatort in der Nordendstraße. Aber es ist schon nichts mehr zu sehen. Nur ein paar schwarz gekleidete Reporter lungern mit ihren Riesenobjektiven im Eingang herum. Inzwischen gibt es Hinweise, dass die Tat bereits einige Tage vor ihrer Entdeckung begangen wurde.
Gerate auf die Seite von Radio Neue Hoffnung, wo Bruder Friedrich Vogel einen Vortrag hält mit dem Titel: “Christsein, echt scharf!”
“Let’s do it”, das sollen die letzten Worte des Raubmörders Gary Gilmore gewesen sein, bevor das Todesurteil am 17. Januar 1977 vollstreckt wurde. Gilmore hatte sich für den Tod durch Erschießen entschieden, da ihm dies die Möglichkeit gebe, in Anmut und Würde zu sterben – “with grace and dignity”.
Dienstag, 16. Januar 2007 – Zehnuhrzweiunddreißig, vierkommaneun. Bedeckt.
Aus der Nachbarschaft: Nachdem sie ihre Mutter längere Zeit nicht erreicht hatte, machte sich eine Frankfurterin gestern Abend auf den Weg in die Nordendstraße 57, um nach dem Rechten zu sehen. Dort fand sie die Leiche des 78-jährigen Lebensgefährten der Mutter. Als die alarmierte Polizei kurz darauf das Haus durchsuchte, wurde im Keller auch die 83-jährige Mutter tot aufgefunden. Beide Leichen wiesen Kopfverletzungen auf. Sowohl der Kellerraum als auch die Wohnung waren von außen verschlossen.
Kate Moss hat Geburtstag.
Montag. 15. Januar 2007 – Neunuhrdreißig, zweikommaacht Grad. Froh, bei dem schönen Wetter gestern die lange Ausfahrt gemacht zu haben. Heute eine Stunde Rolle.
Es gibt Männer, die auf eine spezielle Art behindert sind: Sie können nur in Männerritualen denken. Für sie gibt es nur Macht oder Unterwerfung. Gleichzeitig unterstellen sie all ihren Geschlechtsgenossen, die Welt ebenfalls auf diese beiden Kategorien zu reduzieren. Sich vorzustellen, dass jemand anders tickt als sie selbst, dafür fehlt ihnen die Phantasie.
Wie gestern, als mir in der Günthersburgallee dieses Pärchen entgegen kam. Er drehte den Kopf zu mir und taxierte mich mit einem schnellen, aber geradezu brachialen Blick. Dann begriff ich, dass ihn nur interessierte, wie ich auf seine Frau reagiere. Für ihn ist jeder andere Mann ein Konkurrent (muss also getötet werden) oder ein Schlappschwanz (kann also zur Seite geschoben werden).
Wirklich, es gibt Blicke, die grenzen an Körperverletzung.
Franz Fühmann und Martin Luther King haben Geburtstag. Sind aber tot.
Samstag, 13. Januar 2007 – Fünfuhrfünfzehn, elfkommaacht. Der Wind hat nachgelassen.
Von Jochen eine Mail, dass wir uns unbedingt “Brinkmanns Zorn” von Harald Bergmann anschauen sollen. Ich klickere mich so durch die Informationen, gerate an ein Foto der Mühle in Longkamp. Und will sofort dorthin.
Kurz hintereinander zwei tolle SZ-Feuilletons: Am Mittwoch die Seite über Norrington. Und nun der Text über die Umerziehungsmaßnahmen der Amerikaner kurz nach dem Krieg. Als sie Chaplins “Great Dictator” in den Berliner Kinos eingesetzt haben, um zu testen, wie das deutsche Publikum darauf reagiert.
Dort auch die Information: An keiner Stelle in den ersten Aufführungen der “Dreigroschenoper” nach 1945 hat das Publikum mit solch johlender Zustimmung reagiert wie bei dem Satz: “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral”. Was ja auch nur heißen kann, dass der Spruch schon immer etwas großmäulig-wohlfeil war.
Immer wieder die Iggy-Pop-Stücke aus dem Soundtrack von Arizona Dream.
Nicht ganz klar, warum mir C. kommentarlos ihre neue Mail-Adresse schickt. Noch weniger, dass sie mir auch noch die von Mario Adorf weiter gibt.
Joyce ist tot.
Freitag, 12. Januar 2007 – Achtuhrsiebzehn, achtkommavier. Sehr, sehr windig.
Harald Schröder sagt, er habe im Frankfurter Stadtwald einen Hirschen gesehen.
Finden Sie das Tier!
Donnerstag, 11. Januar 2007 – Achtuhrsechsundvierzig, sechskommafünf.
“Papa!” – Ja? – “Ich hab die ganze Nacht schlecht geträumt” – Na, bestimmt nicht die ganze Nacht – “Doch. Und den Rest der Zeit war ich wach.”
Gestern Lauf in den Abend. Schwerfällig. Unterwegs Lutz auf dem Bianchi. Der Lohrberg ist leer und dunkel. Unten glitzert die Stadt. Sieht dramatisch amerikanisch aus. Hinter dem Bornheimer Friedhof schwirren die Fledermäuse.
Die Achillessehnen sind wieder hinüber. Durch die Glauburgstraße Richtung Stalburg gehumpelt. Dort schön gedröhnt mit Demski, Herl und später Jamal. Darf ich nicht drüber schreiben, vor allem nicht, dass hier Dornfelder aus Wassergläsern getrunken wird. Auf dem Heimweg Wind, klarer Himmel, extraviele Sterne, dazwischen Wolken, die man Wölkchen nennen möchte. Einer dieser Abende, für die es sich lohnt, dass wieder Abend wird.
Im sächsischen Glauchau hat ein Mann versucht, mit einer Armbrust eine Bank zu überfallen. Allerdings war die Armbrust nicht geladen. Der Mann, der selbst Kunde der Bank war, hatte in der Vergangenheit mehrmals versucht, sich dort alte Reichsmarkscheine wechseln zu lassen. Auch bei dem versuchten Überfall trug er einen ganzen Sack dieser Scheine bei sich.
Todestag von Heinz Renner, der 1949 den ersten Ordnungsruf im Deutschen Bundestag erhielt. Der Kommunist Renner war Mitglied des Parlamentarischen Rates, Oberbürgermeister von Essen, Sozialminister und Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen.
Mittwoch, 10. Januar 2007 – Vierzehnuhrachtunddreißig. Ist nicht wahr, oder … dreizehnkommadrei Grad.
Gestern den ganzen Tag in Hermann Langbeins Auschwitz-Buch und auf den Shoa- und Deathcamp-Seiten. Auch wenn ich nur mit zusammengekniffenen Augen lese, weil ich ja nur nach bestimmten Informationen suche, stoße ich unentwegt auf Berichte so ungeheuerlicher Einzelheiten, dass ich manchmal minutenlang wie erstarrt am Schreibtisch sitze.
Beim Versuch, einen Kinderwagen zu stehlen, ist in Hamburg ein 23-jähriger Mann festgenommen worden. Den Polizisten gegenüber gab er spontan zu, dass er sich spezialisiert habe auf hochwertige Kinderwagen – nur solche würden von seinem Hehler abgenommen -, und dass er sich damit seinen Lebensunterhalt verdiene.
Kurze Zeit bin ich versucht, den ganzen Satz mit Kino-Aushangfotos von “So sind die Tage und der Mond” zu kaufen. Gibt’s gerade bei ebay für € 32,90. Kommt bestimmt so schnell nicht wieder. Und ein Filmplakat gibt’s auch. Da es doch immer noch mein Lieblingsfilm ist …
Schöner Zufall. Gerade kommt auch noch die letzte der dicken Kassetten mit Lelouch-Filmen. Und da ist er dabei. Kleiner Jubel.
Todestag des Malers Robert Sterl. Nie gehört. Gilt neben Liebermann, Slevogt und Corinth als einer der Hauptvertreter des deutschen Impressionismus. Bisschen im Netz rumgeklickert, alles hochinteressant. Unbedingt weiter kümmern!
Dienstag, 9. Januar 2007 – Einuhrneunundvierzig, zehnkommaein Grad. Wird jeden Morgen früher.
Treffen mit Melanie Ruprecht am Goetheturm. Sie schreibt über die “Braut im Schnee”. Mist, der Turm ist geschlossen. Fahren wir also zum alten Oberräder Bahnhof. Mist, da kommt so ein Springerstiefeltyp mit Kampfköter. Fahren wir als in die Schwanheimer Dünen. Mist, muss es denn gerade jetzt wieder anfangen zu regnen. Und nun? Ins Lesecafé? Mist, schon zu spät.
Am 27. September 2002 wurde Jakob von Metzler von dem Jurastudenten Magnus Gäfgen entführt und ermordet. Der inzwischen rechtskräftig verurteilte Mörder bemüht sich seit einiger Zeit, mit Hilfe seines Anwalts eine Stiftung für jugendliche Gewaltopfer ins Leben zu rufen. Für die Sendung “Kulturzeit” ein Anlass, in einem großen Beitrag über den Fall zu berichten, ohne etwas Neues mitteilen zu können. Da man möglichst spektakuläre Bilder zeigen will, von dem Mord selbst aber keine hat, stellt man die Tat nach. Ausgiebig wird eine lebensgroßen Puppe gezeigt, der mit schwarzem Klebeband der Mund verschlossen wird, um so den Erstickungstod des Opfers zu illustrieren. “Schon die Simulation mit einer Puppe ist kaum auszuhalten”, sagt der Kommentator. So ähnlich haben auch die “Schulmädchenreports” funktioniert. “Ist das nicht abscheulich, die Mädchen sind ja nackt. Sollen wir’s euch noch mal zeigen?”
Im kalifornischen San Diego steht dieser Tage eine 33jährige Frau vor Gericht. Sie soll ihren Mann mit Arsen getötet haben, weil sie dessen Lebensversicherung dafür verwenden wollte, sich neue Brustimplantate machen zu lassen: “Woman Accused of Killing Husband for Boob Job.”
Heute wäre Rio Reiser 56 Jahre alt geworden.
Montag, 8. Januar 2007 – Zweiuhrneunzehn, sechskommaneun Grad. Mit Herzrasen aufgewacht. Rundum in den Häusern gehen nach und nach die letzen Lichter aus.
Gestern zwei Stunden durch die Wetterau. Klare Sicht, schwere Wolken, dazwischen blauer Himmel. Fast österlich warm. In Obererlenbach gibt es einen Holzweg und ein Auto der Firma Egon Vögler. In Petterweil erst die Schwengelgasse, dann Am Dicken Turm und dann die Pfarrer-Fick-Straße. Nein, stimmt gar nicht, der Mann hieß Flick. Und der Schinkenweg ist nur ein Schlinkenweg. Aber ich bin heute auf seltsame Aufschriften programmiert. Und freue mich, wieder an diesem Schild vorbei zu kommen: Geist – Außenliegend 4.
Zu Hause dann die ersten anderthalb Stunden der Langfassung von “La Belle Noiseuse” geschaut. Aber ich kann Piccoli noch immer nicht leiden und finde die Béart noch immer nicht so attraktiv, wie der Rest der Welt es offensichtlich tut. Einer dieser französischen Filme, die alle Informationen in das gesprochene Wort verlegen.
Gene Hackman in Arthur Penn’s “Night Moves” (1975): “Ich hab mal einen Film von Rohmer gesehen. Das war, als würde man der Farbe beim Trocknen zuschauen.”
Später auf Video ein Interview mit David Lynch, der seinen neuen Film mit einer Sony-Digicam aufgenommen hat. Beim Gespräch flattert er unentwegt mit den Fingern seiner erhobenen Rechten. Und im Ärmel seines Jacketts ist ein riesiges Loch.
Dann ins Bett und noch ein wenig in Grishams “Innocent Man”. Und wieder nach vier Seiten drüber eingeschlafen.
Geburtstag haben heute: José Ferrer, Elvis Presley, Shirley Bassey, David Bowie.
Samstag, 6. Januar 2007 – Sechsuhrfünfzehn, neunkommanull. Dämmert es schon oder ist das noch der Mond?
Manchmal erinnere ich mich an etwas, das nie geschehen ist.
Telefon.
“Ja?”
“Hast du schon gesehen? Die Braut im Schnee ist auf Platz achtzehn bei den Taschenbuch-Bestsellern eingestiegen?”
“Und deshalb weckst du mich?”
“Leg Dich wieder hin! Arschloch!”
“Ja.”
Beim Aufräumen des Kellers einen dicken Plastikbeutel voller alter Audiokassettengefunden. Bevor ich ihn in den Müll werfe, fische ich mir eine heraus – Joe Cockers “Sheffield Steel” von 1982 – lege sie ein und merke, dass ich nach über zwanzig Jahren noch fast alle Texte auswendig kann.
Plötzlich der ebenso deutliche wie seltsame Wunsch, an die Lahn zu fahren.
Tote: Charlotte von Stein (Freundin), Tina Modotti (Fotografin), Gertrud Eysoldt (Schauspielerin, Porträtzeichnung aus “Die Aktion”).
Freitag, 5.Januar 2007 – Zehnuhrvierundzwanzig, achtkommazwei. Bedeckt.
Im brandenburgischen Falkenhagen befindet sich in der Ernst-Thälmann-Straße das “Bestattungshaus Möse”. Da gibt es nichts zu lachen. Witzig wird es erst, wenn man den Werbeslogan des Unternehmens liest: “Wir bürgen mit unserem Namen”.
Christoph Schlingensief wird gerne als unverbesserlicher Provokateur, als enfant terrible und als ewiger Krawallmacher bezeichnet. Dieser Christoph Schlingensief plane, so wird jetzt vermeldet, einen Aufsehen erregenden mehrtägigen Talkshow-Marathon in der Berliner Akademie der Künste. Mitwirken werden: der Aktionskünstler Hermann Nitsch, der Maler Markus Lüpertz, Fernsehpfarrer Jürgen Fliege, der Chorleiter Gotthilf Fischer, die Schauspielerin Katja Riemann und der sogenannte Plakatkünstler Klaus Staeck, der zugleich Präsident jener Akademie ist. Eine Gästeliste, als habe sie der Medienberater der Deutschen Bischofskonferenz zusammengestellt.
Fast täglich lese ich aus dem Augenwinkel Nachrichten über Britney Spears. Heute zum Beispiel, dass sie mit Paris Hilton befreundet sei, dass sie die letzten Wochen viele Nächte lang gefeiert, dass sie zu wenig geschlafen und zu viel Alkohol getrunken habe und dass ihre Eltern ernsthaft besorgt seien. Das alles lese ich. Aber, offen gestanden, weiß ich nicht mal so genau, wer diese Britney Spears eigentlich ist.
Abends die ORF-Dokumentation über und mit Natascha Kampusch. Die Sensation ist der Banalität gewichen.
Vor sechs Jahren sind am selben Tag gestorben: Bernhard Wicki (Foto aus seinem Film “Die Eroberung der Zitadelle”) und Diether Krebs.
Donnerstag, 4. Januar 2007 – Elfuhrneunundfünfzig, achtkommazwei Grad. Aber ich friere, als wären es nur siebenkommaneun. Und schon wieder kein heißes Wasser.
Der Finanzreferent der CSU in Taufkirchen wurde verhaftet, weil er im November vergangenen Jahres zweimal den selben Drogeriemarkt in München überfallen hat.
Mehr aus aller Welt:
“Helge Schneider findet seinen Hitler-Film doof”
“Jugendliche misshandeln Obdachlosen in Hannover”
“So ludert Britney ins neue Jahr”
“Schüler in USA offenbar von Klassenkamerad erschossen”
“Jüdisches Mahnmal in Moabit beschmiert”
“Kleider und Requisiten von Whitney Houston werden versteigert”
“Gefangener schlüpft mit Pflanzenöl durch Zellengitter”
Was ist denn wieder los? Warum kann ich Stefans Lachs-Film jetzt nicht sehen? Hab doch alle Updates für Quicktime heruntergeladen …
Ja, Camus ist auch schon wieder tot.
Mittwoch, 3. Januar 2007 – Siebenuhrzwanzig, sechskommaein Grad.
Auf Spiegel online ein Bericht über den erfolgreichen Dildohersteller Fun Factory. Ich will auf die Internetseite … geht nicht, total überlastet.
Gestern endlich Michael Hanekes “Caché” gesehen. Eine unglaublich spannende Geschichte, dramaturgisch gut gebaut, und von den besten französischen Schauspielern umgesetzt. Aber wie habe ich diesen Film gehasst. Wie obszön und terroristisch Hanekes Ansatz ist. So schockartig wie der Regisseur den Zuschauer mit seinen Gewaltszenen konfrontiert, wird der Film selbst zum Gewaltakt. Und die Geschichte ließ sich nur deshalb mit so vielen Rätseln anreichern, weil Haneke sich um deren Lösung herumdrückt. Er nutzt alle Attraktionen eines Thrillers, verweigert aber die Erklärung und behauptet dann im Interview, das habe ihn ja gar nicht interessiert. Und das politische Tabu – die Ermordung von 200 Algeriern durch die Pariser Polizei im Oktober 1961 – setzt er lediglich als Spekulationsobjekt ein, um seine Story moralisch aufzupumpen. Feigheit und Lüge sind zwei zentrale Themen des Films. Aber “Caché” ist leider selbst: feige und verlogen.
Tot: Der belgische Radrennfahrer Lucien Buysse, Sieger der Tour de France von 1926. Und der niederländische Bierbrauer Alfred Heineken, dessen Nachname mich in Paris einmal zur Verzweiflung gebracht hat, als ich partout nicht verstanden habe, welche Biersorte mir die Kellnerin anbieten wollte: Önnekö.
Dienstag, 2. Januar 2007 – Siebenuhrzwölf, vierkommafünf Grad. Regen.
Na, sooo neu fühlt sich das Neue Jahr nun auch wieder nicht an.
Gestern zweistündige Ausfahrt durch die Wetterau und den Randtaunus. Sehr windig, sehr regnerisch. Umgestürzte Plakatwände, Bäume, Toilettenhäuschen, Müllcontainer. Überall auf den Straßen liegen Äste, Scherben, aufgeplatzte Feuerwerkskörper und dieser braune Brei aus aufgeweichter Pappe. Manchmal dramatisch schöne Momente, wenn die Sonne durch die schnell ziehenden Wolken stößt und dann unverhofft die Skyline zu leuchten beginnt.
“Ricardo, nein. Ricardo, du bleibst hier.” Aber Ricardo kümmert sich einen Scheißdreck um das, was Frauchen beim Neujahrsnachmittagsspaziergang gerne hätte. Ricardo startet, kommt schief, aber eilig auf mich zu gehechelt, springt an mir hoch, wedelt mit dem Schwanz, knurrt, bellt, leckt mich an den Stellen, spürt meine stumme Panik, wird immer frecher. Frauchen bleibt einfach stehen, wo sie stand und schüttelt mit dem Kopf. Ricardo ist ein fetter, kleiner Spitz mit einer fetten, roten Zunge. Ricardo macht weiter. Dann endlich: “Der tut nichts. Der ist noch jung. Der ist nur sehr aufdringlich. Der muss noch viel lernen.” Das sagt sie mir jetzt, da ich bereits gestorben bin vor Angst.
Na klar, und schon kursiert im Internet ein Video, dass die Hinrichtung Saddams vollständig zeigt. Was hilft da eigentlich noch ein Bilderverbot?
“Die Stadt und die Liebe”:
Eine Frau, schütter bekleidet, schüttelt die Betten am Fenster aus, schaut herunter, lächelt.
Die vermoosten Stämme der Bäume an der Bergener Buswendestelle im glühenden Spätnachmittagslicht.
Heftiger Wind, Regen. Ein Schaukasten des Naturschutzbundes: Der Kleiber – Vogel des Jahres 2006.
Gymnastik, Jazzgymnastik.
Himmel & Hölle
Badewanne
Putzen
Im Hörfunkstudio / Im Club
Ein Mädchen, 10 Jahre, erzählt mit großem Ernst und kleiner Verlegenheit von seiner Liebe.
Seilspringen
Jogger im Park
Tot ist die Wagner-Sängerin Therese Malten (deren Wohnhaus in Dresden heute eine schöne Pension ist), die viele Jahre mit der Philosophin und Pessimistin Helene von Druskowitz zusammenlebte, welche allen Frauen riet, ein homosexuelles Leben zu führen, um so “das Aussterben des menschlichen Geschlechts” voranzutreiben.