Geisterbahn

Jan Seghers liest aus “Die Braut im Schnee”
Eppstein, Sonntag, 22. April 2007, 18 Uhr, auf Burg Eppstein
Darmstadt, Montag, 23. April 2007, 20 Uhr, Central-Station, Im Carée
Frankfurt, Freitag, 25. Mai 2007, 20 Uhr, Luthergemeinde, Martin-Luther-Platz (Nordend)

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman

Montag, 30. April 2007 – Vieruhrachtundvierzig, elfkommasechs.

Nervöses Rumgezackere in den Kunstangeboten. Orlik, Pechstein, eine wirklich schöne Liebermann-Lithografie. Mehrmals auf dem Sprung, dann wieder Rückzieher. Nee, schnell wieder vergessen! Wo soll man das alles hinhängen? – Muss ja gar nicht alles hängen. – Nee, muss man aber auch nicht alles haben. – Aber eine Schönheit ziehen lassen, einfach so …

Dann doch: Eine kleine Gouache von Kurt Lauber. Fünfziger Jahre. Zwei weibliche Akte am Strand. Expressionismus in die Abstraktion getrieben. Kurz vor Auktionsende bietet noch ein Amerikaner mit.

Gestern von Praunheim aus auf den Feldberg, dann Oberhöchstädter Weg zu W. und H.

Tot ist Édouard Manet, den ich, wenn ich nur einen nennen dürfte, nennen würde. Damit es mal gesagt ist.

Freitag 27. April 2007 – Vieruhrsechsundzwanzig, siebzehnkommaacht.

12:37 Uhr: Gerade die Meldung, dass Rostropowitsch gestorben ist.

170 Kugeln in neun Minuten hat Cho Seung-Hui im Hörsaalgebäude von Blacksburg verschossen.

Gott, ist das langweilig, Recht zu haben.

Für das deutsche Fernsehspiel fehlt mir das entscheidende Gen.

Jedesmal diese bodenlose Wut, wenn jemand nicht gut findet, was ich gut finde, weil es gut ist.

Peter-Jürgen Boock war Fürsorgezögling im Beiserhaus in Rengshausen, 15 km entfernt von Atzelrode, wo Achim Meiwes bis zu seiner Verhaftung wohnte.

Ein langes Interview mit der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker und zwei Links auf ihre Musik.

Kleines Glück. Bei ebay gibt’s die viel gelobte, aber äußerst rare Aufnahme der beiden ersten Sinfonien von Prokofiev unter Dimitri Kitaenko für € 13,50. Dieselbe Aufnahme wird bei amazon gebraucht für fast 50 Euro gehandelt.

Tot ist Carlos Castaneda, der mich vor fünfunddreißig Jahren entschieden zu viel Zeit gekostet hat.

Donnerstag, 26.4.2007 – Vieruhrsechsundfünfzig, sechzehnkommacht.

ADAC-Motorwelt: “Die neue Lust am Cabrio”.
Welt online: “Die neue Lust am Geldausgeben”.
amazon.de: “Die neue Lust der Frauen. Vom entspannten Umgang mit der Pornographie”.
stern.de: “Die neue Lust am Frivolen”.
mens health: “Neue Lust am alten Job”.
zeit.de: “Die neue Lust aufs Krankenhaus”.
Maggi Kochstudio: “Die neue Lust am Kochen!”
Gartentechnik.de: “Die neue Lust an Schrebergärten”.
abendblatt.de: “Die neue Lust auf Familie.”
St. Maria-Frieden: “Neue Lust am Essen für Patienten mit Schluckbeschwerden”.
viviano.de: “Hormonpflaster für neue Lust”.
ONEtoOne: “Die neue Lust am Alten”.
hr-online: “Die neue Lust am Hören”.
hr-online: “Die neue Lust am Zuhören”.
lernzeit.de: “Die neue Lust am Trivialen”.
Gudrun Markmann: “Die neue Lust am Führen”.
graswurzel.net: “Die neue Lust an der Fahne”.
Focus.de: “Die neue Lust am Nationalstolz”.
Cregg: “Die neue Lust am Ei”.
sexspielzeug-finden.de: “Die neue Lust an der Angst”.
rtl.de: “Die neue Lust am Ekligen”.
tidenet.de: “Die neue Lust am Altern”.
hitflip.de: “Die neue Lust am Jüngerwerden.”
faz.net: “Die neue Lust an schmutzigen Worten”.
Zukunftsinstitut: “Die neue Lust am deutschen Wort”.
bimbel.de: “Die neue Lust am Bein”.
Fahrzeugbau Heinz Böse: “Die neue Lust am Laster”.
VW Crafter: “Die neue Lust auf Last”.
elektro-herbert: “Die neue Lust am warmen Wasser”.
homesolute: “Die neue Lust am Lümmeln”.
Jusos Heilbronn: “Die neue Lust der Jusos”.
Sven Papcke: “Die neue Lust auf Ungleichheit”.
Friseur Erichsen: “Die neue Lust auf Luxus”.
anders-besser-leben.de: “Die neue Lust an der Askese”.
Herder Verlag: “Die neue Lust für Gott zu streiten.”
lust-auf-genuss.de: “Die neue Lust auf Sauerkraut”.
swissmom: “Die neue Lust in der Schwangerschaft”.
gulli:board: “Die neue Lust am Saugen.”
Geisterbahn: “Die neue Lust auf Lustlosigkeit”.

Tot ist Hubert Selby.

Mittwoch, 25. April 2007 – Vieruhrsiebenundvierzig, siebzehnkommanull. Dunkel …, aber wahrscheinlich ist es um vieruhrsiebenundvierzig immer dunkel.

Von Peter Brunner kommt dieser Hinweis: “Also – Josef Dietrich hatte sicher zahlreiche Sympathisanten, ein S t a a t s b e g r ä b n i s hatte er nicht. Das ist – WIKIPEDIA weiß das – ein durchaus formaler Akt, und das Innenministerium zählt auf, wer eins hatte.
Ich denke, da war der eine oder andere Nazi darunter, aber schon die Alliierten hätten einen offiziellen Akt für einen in Nürnberg Verurteilten nicht geduldet. (Was uns dann auch wieder viel zu denken gibt)
Also: Vor dem Einsatz der Waffe der Kritik bedürfen wir immer der Kritik der Waffen…!”
Warum macht mich dieser RAF-Hype so misstrauisch? Wer muss da eigentlich was mit wem ausmachen? Es bleibt der Verdacht, es gehe allein darum, dass das Bürgertum seine aus dem Tritt geratenen Sprösslinge heim ins Reich holen will – um endlich Frieden mit sich zu schließen. So wäre ein Gnadenerlass eben auch ein Akt der Selbstgerechtigkeit. Und damit ein zweiter Sieg.
Aber nein, ich will das alles nicht bedenken; es geht mich nichts an. Wie es die Linke auch damals nur insofern etwas anging, als jede Aktion der RAF immer der Gegenseite genutzt hat. Die Entdifferenzierung war gelungen; die Bevölkerung hat nicht mehr unterschieden: “Es war doch einer von euch, der da hinten auf dem Motorrad gesessen hat”, sagte ein Onkel nach dem Attentat auf Buback.

Ginger Rogers ist tot.

Dienstag, 24. April 2007 – Siebenuhrneunundzwanzig, achtzehn Grad. Bedeckt.

“Words are things”, hat Lord Byron geschrieben. In nächster Zeit mal ausprobieren, diesen Gedanken.

Mag ja sein, dass es Geisteskranke unter allen Umständen gab, gibt und geben wird. Die Frage ist nur, was die Umstände aus ihnen machen? Hätte in einer weniger individualfixierten, waffenverrückten, aufstiegsorientierten Gesellschaft als der amerikanischen – sagen wir auf Sardinien im 19.Jahrhundert – aus Cho Seung Hui nicht auch ein harmlos-bestusster Ziegenhirt werden können? Und warum fragt sich das niemand?

Gestern Lesung in der Centralstation, Darmstadt. Riesiges Backsteingebäude, das ehemalige Hauptdepot der Straßenbahn. Sieben Buchhandlungen haben sich – gegen die Übermacht von Habel und Thalia – zusammen getan: Die Gewerkschaft der Einzelnen, so muss es sein. Und Brigitte ist wirklich gekommen; ich freue mich riesig. 160 Leute. Alles rund. Hinterher esse ich meinen Nachbarn die Tapas weg, weil ich irgendwas nicht richtig kapiert habe. Kurz nach Mitternacht zu Hause. Tot.

Am 24. April 1966 starb Josef Dietrich – Fleischer, Polizist und Befehlshaber der Leibstandarte Adolf Hitler, fanatischer Nazi bis zu seinem Tod. An seiner Beerdigung auf dem Neuen Friedhof Ludwigsburg nahmen 7000 Menschen teil. Es handelte sich um ein Staatsbegräbnis. Ministerpräsident von Baden-Württemberg war damals Kurt Georg Kiesinger, der im selben Jahr Bundeskanzler wurde.

Montag, 23. April 2007 – Siebenuhrachtunddreißig, zwölfkommasechs. Hell. Wird wieder warm.

Gestern bei Beltz am Grab. Dann bei Heinz-Herbert Karry vorbeigekommen. Dann an einem Grabstein, unter dem gemeinsam die Familien Kalbfleisch und Bauch liegen.

Fünf Mal die Röhrborngasse hoch. Ein Dicker in Jogginghose und Schlabber-T-Shirt steht auf seinem Balkon. Als ich zum dritten Mal vorbeikomme, schüttelt er noch den Kopf. Beim vierten Mal schimpft er: “So ein Idiot, bei dieser Hitze …” Beim fünften Mal ist er verschwunden.

Abends in der Kemenate auf Burg Eppstein. Das Wetter, diese Landschaft, die Mauern, die Leute … Allein, das Wort Kemenate zu schreiben … Darf ja auch mal irgendwas rundum schön sein.

Zweiunddreißigster Todestag von Rolf-Dieter Brinkmann.

Sonntag, 22. April 2007 – Fünfuhrachtundzwanzig, neunkommanull. Dunkel.

Hinter dem Gefängnis in Preungesheim, wieder mal im Ruderal. Zwischen den alten Mietskasernen und einem Neubaugebiet ein asphaltierter Weg, für Autos unpassierbar gemacht, mithin für wertlos erachtet. Ein kleines Müllparadies. An den Rändern Brombeerhecken, Brennnesseln, Holunder. Falter schaukeln, Blüten fallen schräg, schwarzrote Käfer auf dem Boden, der mit Abfällen bedeckt ist. Leuchtend weiße Eimer mit Farbresten, Plastiksäcke, aus denen alte Tapetenreste quellen, Scherben, Hundescheiße. Auch benutzte Präservative, hier, wo man allenfalls im Stehen vögeln kann. Warum auch nicht.
Dann ein Feldhase von rechts, macht Halt, lauert, kippt auf die Hinterläufe, stellt die Ohren auf, lauscht. Was will er hier, an diesem verkommenen Ort in der Stadt? Was will ich hier? Im Dreck in der Sonne?

Eine halbe Stunde später in der Wetterau: Petterweil, Stadt Karben. Wie oft bin ich schon an diesem Stein vorbei gekommen, der in dem lichten Hain gegenüber dem Friedhof steht. Ein Kriegerdenkmal, dachte ich, was sonst.
Gestern bleibe ich zum ersten Mal stehen und lese: “Hier sprach zum Volke Robert Blum”. Geboren 1807 in Köln, Revolutionär, Demokrat, Mitglied der Nationalversammlung von 1848, in Wien von den Kaiserlichen zum Tode verurteilt und erschossen.
Wieder zu Hause erfahre ich, dass dieses Dorf sich etwas zugute hält auf seine widerständige Tradition: Nest der Aufständischen schon in den Bauernkriegen, Schwerpunkt der Hexenverfolgungen, in Vormärz und 48er Revolution Heimstatt und Zuflucht der Demokraten. Und sehr viel später dann, als Zeichen gegen die Eingemeindung, die umgestalteten Ortsschilder: “Peterweil statt Karben”.

Aber der Titel dieses Celan-Gedichtes ist doch wirklich schön, oder: “Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt”.

Vor fünf Jahren starb Linda Lovelace.

Freitag, 20. April 2007 – Fünfuhrneunzehn, elfkommaein Grad. Dunkel. Seit einer halben Stunde wieder das dröhnende Gewummer des Subwoofers aus der Wohnung über uns.

Dass Michael Moore ein verdächtig großmäuliger Medienmann ist, hat jeder, der es merken wollte, merken können. Dass er die Wahrheit allzu oft an die Pointe verkauft, hat ihm jetzt seine kanadische Kollegin Debbie Melnyk in einem Dokumentarfilm nachgewiesen. Damit dürfte dieser Fall erledigt sein. Und die Ahnung zur Gewissheit werden: Dass die Methoden der Schurken nicht geeignet sind, die Schurken zu entlarven. Eine linke Bildzeitung kann es nicht geben.

In der Galerie Sperl eine Ausstellung des nahezu vergessenen Bernhard Klein, eines Mitbegründers der “Novembergruppe”.
Und gerade wird ein Großteil seiner Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen bei ebay verkauft.

“Was als ‘Die moderne Kunst’ nach 1945, ehemals von Europa ausgegangen, als eine Rückwelle von Übersee zu uns zurückkehrte, nachdem Amerika daraus ein imponierendes Riesen-Brillant-Feuerwerk der abstrakten Malerei veranstaltete, nahm seinen Anschluss nicht bei etwa 1930, sondern bei den expressionistisch-abstrakten Grundlagen der Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Die Auswirkung der 20er Jahre müsste, wenn überhaupt, noch erst kommen.” Bernhard Klein, 1966

Heute vor 16 Jahren verbrannte Steve Marriott in seinem Haus in Essex.

Donnerstag, 19. April 2007 – Vieruhrfünf, achtkommafünf. Dunkel.

“Man darf die Mehrheit nicht mit der Wahrheit verwechseln”, soll Jean Cocteau gesagt haben.

Gestern in der Frankfurter Rundschau ein Interview von Peter mit dem Medienwissenschaftler Joseph Vogl zum Phänomen “Amok” – der einzige Text, der nicht in das immer gleiche haltlose Gestammel einstimmt. Ansonsten: auf CNN, Foxnews etc. nur ein Schwall von Tränen, verwackelten Bildern, falschen Tönen, falschen Fragen, Spekulationen. Die Fernsehsender sind schnell – ansonsten sind sie: nichts.

Sehr geehrte Christine Adelhardt, ARD-Auslandskorrespondentin in Washington! Der Schütze von Blacksburg hatte möglicherweise psychische Probleme; “psychologische Probleme” – auch wenn Sie es noch so oft wiederholen – hatte er nicht.

Doch, es gibt den heiligen Mittwoch noch.

Tot ist George Gordon Noel Byron, 6. Baron Byron of Rochdale, genannt: Lord.

Mittwoch, 18. April 2007 – Sechsuhrzehn, neunkommasieben. Dämmerig.

Bergtraining in Bergen. Komme dreimal mit Mühe die Röhrborngasse hoch. Das war’s dann aber schon. Muss noch werden.

An der Ampel neben mir ein junger Mann, ebenfalls auf dem Rad, kopfschüttelnd. In der Nähe eine Gruppe Schülerinnen. Ich frage den Mann, was los ist. “Ach, die Mädscher! Die mache misch ganz dorschenanner.”

Den ganzen Tag die Nachrichten über den Amoklauf von Blacksburg – Spiegel online, CNN, Foxnews … Spektakulär ist nur die Zahl der Opfer. Ansonsten dasselbe Muster wie immer. Ein Langweiler gibt sich den letzten Kick.

Todestag von Christian Hofmann von Hofmannswaldau: “Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand”.

Dienstag, 17. April 2007 – Dreiuhrachtundzwanzig, sechzehnkommanull Grad. Dunkel.

Jetzt also doch: Knut ist tot.

Die verspätete Todesanzeige aus der deutschsprachigen Ausgabe des norwegischen Dagens Aftenbladet vom 17. April 1952.

Montag, 16.April 2007 – Sechsuhrvierzehn, sechzehnkommanull. Dämmerig.

Gestern um 8.30 Uhr an der Deutschen Bibliothek. Atilla kommt, sonst niemand. Ein Frühling wie Sommer. Über Heddernheim, Praunheim, Niederursel aus der Stadt. In Oberursel: eine U-Bahn hupt uns an. Der Fahrer ruft irgendwas durch sein Mikrofon: verkehrswidriges Verhalten … Stimmt. Feldberg hoch. Runter ins Tal bis Schmitten. Hoch nach Seelenberg, na ja, die ganze alte Hügelrunde: Glashütten, Schlossborn, Ruppertshain, Königstein, und wieder auf den Feldberg. Reichlich PS-Faschisten unterwegs. In Glashütten Überfall auf die Tankstelle: Cola Lemon light, Laugenstangen, Lakritz, Hauptsache “L”. Der letzte Anstieg hört nicht auf. Wenn Ati nicht wäre, würde ich umkehren. Aber so: Geschafft. Kurz glücklich. Muskeln schreien. Hundert Kilometer. 1770 Höhenmeter.

Abends bei Rainer und Annika. Käse, Salami, Brot Wein. Wie schön, wie entspannt. Zwei Mitbewohner sind da. Er hat einen Film über den Mordfall “Tristan” gemacht; sie bildet Flugbegleiterinnen für die Condor aus. Muss man dabei was vorführen? Wär das was für den Film? Eine Stewardess, die Trockenübungen macht?

Heute vor einem Jahr starb Schnuckenack Reinhardt.

Sonntag, 15. April 2007 – Sechsuhrachtundfünfzig, fünfzehnkommazwei Grad. Hell.

Nicht vergessen: diesen deutsche Morgen am Karfreitag. Alles sah nach Caspar-David Friedrich aus. Hinter uns der Mond, vor uns die aufgehende Sonne. Im Lahntal der Nebel, die Kirchtürme und Zinnen, die daraus auftauchen und einmal auf einem kleinen Hügel ein mächtiges Gipfelkreuz, das dann doch ein Strommast ist. Und an den Rändern der Autobahn im Zwielicht lange nicht zu erkennen, ob das helle Glitzern in den Büschen nun Rauhreif ist oder ob es die Blüten des Weißdorn sind.

Nicht, dass eine 17-jährige in Minnesota ihr Neugeborenes getötet hat, ist die Meldung, sondern dass sie es mit 135 Messerstichen tat. Und dass ein Gerichtsmediziner die Wunden zählen mußte.

Am 15. April starben: Robert Musil, Jean-Paul Sartre, Jean Genet, Greta Garbo, Joey Ramone.

Samstag, 14. April 2007 – Siebenuhrsechsunddreißig, fünfzehnkommavier. Hell.

Die Magnolie steht im frischen Grün der neuen Blätter. Die Blüten sind – bis auf ein paar wenige – abgeschüttelt.

Am Abend Altmans “Last Radio Show”. Selten einen so entspannten Film gesehen. So gelassen in der Nähe des Todes. Am längsten in Erinnerung bleiben wird mir wohl das Duett mit den schlechten Witzen. Und das Motto des Detektivs, der ausgerechnet Noir heißt: “Immer schön am Rand bleiben und die Augen offenhalten!” Und der unglaubliche Garrison Keillor.
Später dann zuhause noch das heutejournal und am “Kriminaldauerdienst” hängengeblieben. Was für ein Kontrast. Bei Altman eine respektvolle Hinwendung zu den Figuren und hier … huh, dieses schamlose Hineinkriechen, dieses Bloßstellen, diese Tchibo- und Duschgel-Ästhetik, aufgemotzt mit Wackelkamera. Andererseits: die Außenaufnahmen sind oft so ungewöhnlich, dass man aufmerkt … Naja, bestimmt besser als das Meiste …

Und wer ist tot? Hermann Etzel – nie gehört. Deutscher Politiker, Jurist, Mitglied der Bayernpartei. Von den Nazis zwangspensioniert, Gründer der Bamberger Symphoniker, Mitherausgeber der “Blätter für Deutsche und Internationale Politik”. Wollte die Todesstrafe wieder einführen.

Freitag , 13. April 2007 – Fünfuhrdreizehn, vierzehnkommavier Grad

Die Einwände: “Aber das stimmt doch gar nicht, du warst doch dann und dann gar nicht dort, sondern hier. Und warum hast du da nichts drüber geschrieben? Außerdem war A. nicht dabei. Und B. hat das doch gar nicht gesagt.” Freilich, das gehört zu einem Blog-Roman dazu: das Spurenverwischen, die Camouflage, das In-andere-Häute-schlüpfen. Die Lüge. Womöglich: um der Wahrheit willen.

Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Günther Oettinger: “Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes.”
Vielleicht möchte Günther Oettinger ja dem Israelischen Obersten Gerichtshof vorschlagen, Adolf Hitler posthum den Ehrentitel eines “Gerechten unter den Völkern” zu verleihen.

Völlig gaga ist allerdings die Forderung des Grünen-Politkers Fritz Kuhn, der Oettinger aufforderte, seine Äußerungen zurückzunehmen.

Tot: Christian Stock, der Zigarrenarbeiter in Pfungstadt war und später der erste gewählte Mininsterpräsident von Hessen wurde.

Donnerstag, 12. April 2007 – Fünfuhrdreizehn, elfkommasechs Grad. Seit vier Uhr wach. Kopfschmerzen, viele Gespenster.

Einbruch aller Quoten während der Ostertage.

Lektüre: Quer durchs Netz die Sachen über den BTK-Strangler Dennis Rader. BTK – bind, torture, kill. Und gerate schließlich an eine Sammlung mit Video-Streams seiner Geständnisse vor Gericht. Schon seltsam, einen Serienmörder über seine Taten reden zu hören, seine Gestik und Mimik anschauen zu können. Und er wirkt tatsächlich wie jeder durchschnittliche, amerikanische Mittelstandsspießer. Erzählt von den Morden in einer Weise, die man ‘aufgeräumt’ nennen könnte.

Und auch noch Elizabeth George “With no one as Witness”. Lese mich zwischendurch immer wieder im Wörterbuch fest.

Heute verbindet man sie so sehr mit ihren Auftritten in den zwanziger Jahren, das man gar nicht glauben will, dass sie erst am 12. April 1975 gestorben ist: Josephine Baker, Unterstützerin der Resistance und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Adoptivmutter von zwölf Waisenkindern unterschiedlicher Hautfarbe, sechsfache Ehefrau, Schlossbesitzerin, Tänzerin, Sängerin. Begraben in Monaco. Warum eigentlich in Monaco? Stöbern im Netz … Ah, hier: Sie war befreundet mit Grace Kelly, die ihr ein Appartement zur Verfügung stellte, als sie Chateau des Milandes verkaufen musste … Ob es wohl irgendwo ein paar Videos mit den Tänzen der Baker zu sehen gibt? Ja, klar, hab sie schon gefunden.

Donnerstag, 5. April 2007 – Fünfuhrachtundfünfzig, fünfkommaeins. Dunkel. Das Rätsel ist gelöst. Der Mopedfahrer, dessen Motor ich jeden Morgen höre, ist der Zeitungsausträger.

Mehr Blicke in die Hölle als man ertragen können muss, versammelt die Seite rotten.com.

Im Homicide Report der Los Angeles Times wird laufend über die Morde in der Stadt berichtet. Um die Vielzahl der Fälle übersichtlicher zu machen, wird jedes Mordopfer auf einem Stadtplan mit einem so genannten Reiterchen versehen. Braun sind die Fälle aus dem März 2007 markiert, schwarz die Fälle aus den Monaten Januar und Februar. Klickt man eines der Reiterchen an, so erfährt man den Namen des Opfers und die Umstände seines Todes.

Abends Ozons “Swimmingpool”. Warum muss man einen ansonsten so fein ausbalancierten Film durch so viel keimfreie Nacktheit und schließlich noch durch einen Mord aus dem Gleichgewicht bringen? Freilich, bei Almodovar würden diese Einwände nicht gelten.

Drei Tote gab es am 5. April 1986 beim Anschlag auf die Diskothek LaBelle in Berlin-Friedenau.

Mittwoch, 4. April 2007 – Neunuhrvierzig, siebenkommadrei. Grau.

Gestern um halbsieben Treffen mit Chr. vor dem Va Piano am Goetheplatz. Gott, ist der Laden voll. Am Eingang sitzt eine Frau hinter einer Kassenfestung und verteilt Plastikkärtchen. Sie ist freundlich, aber von dieser glatten, teilnahmslosen, amerikanischen Arschlochfreundlichkeit, die dich im Zweifelsfall mit einem Lächeln den Securityleuten übergibt und die sich jetzt überall im Dienstleistungsgewerbe breitgemacht hat. Ja, verstehe, so sind sie hier alle. Und jetzt? Jetzt mußt du dich anstellen. Wo? Kommt drauf an, was du willst. Pasta oder Pizza. Ich will aber lieber Döner. Gibts hier nicht. Okay, also Pasta, auf keinen Fall will ich heute Pizza. Aber ich steh und steh vor der Pasta-Theke, und die Schlange wird und wird nicht kürzer. Also? Also nehm ich doch Pizza. Welche soll’s denn sein? Was weiß ich, geben Sie mir halt die Salsiccie. Jetzt wird der Betrag in meinem Plastikkärtchen gespeichert, und ich bekomme eine Art Tellermine, ein kleines Ufo mit ganz vielen kleinen, roten Lämpchen, die irgendwann leuchten werden, wenn die Pizza irgendwann mal fertig ist. Nächste Theke: Zwei kleine gemischte Salate, bitte. Mit Balsamico-Dressing oder mit Rucola-Senf-Dressing? Balsamico, bitte. Und dann spritzt die Dame aus einer großen Plastikflasche diese Flüssigkeit auf die zarten Salatblättchen und auf die sowieso schon zermatschten Cherry-Tomaten und hört gar nicht mehr auf zu spritzen, bis alles schwimmt und ertränkt ist in dieser verdammten viel zu süßen Balsamico-Soße. Ihr Kärtchen, bitte. Ach so, ja. Dann setzt man sich an einen Tresen, der viel zu hoch ist, auf einen Barhocker, der viel zu weich gepolstert ist, so dass einem schon nach kurzer Zeit der Rücken wehtut, und dann wartet man und wartet und wartet – bis irgendwann endlich dieses Scheiß-Ufo leuchtet und man sich wieder durchdrängeln muss, um seine Pizza zu holen, die viel zu hart gebacken ist, so dass man sie mit diesem stumpfen Messer gar nicht schneiden kann, sondern sie stattdessen zerreißen muss. Ach, verflucht. Komm, ich bin satt, gehen wir! Ja. Aber erst noch in die Schlange stellen und warten, dass man zahlen darf bei der Kassenlächlerin.
Wieder draußen. Durchatmen.
Wollen wir noch was trinken? Café Karin? Okay, gute Idee. Puhh, ist das voll. Also weiter. Aber alle diese verdammten Innenstadt-Dinger sind voll mit all diesen verdammten jungen Bankern und Maklern und Anwälten, die jeden Abend ihren Feierabend feiern müssen, die alle gleich aussehen mit ihren Brillen und Frisuren und Jacketts und die alle viel zu gut gelaunt sind und dauernd irgendwen lachend begrüßen, der auch wieder so ein viel zu gut gelaunter, viel zu gut bezahlter Proll mit Abitur ist. Oh je, wenn wir schon mal ausgehen … Ja, nicht wahr, man kommt sich vor wie ein Hinterwäldler. Dabei sind es die Hinterwäldler, die sich hier bestens auskennen und alles bevölkern und versauen, weil sie hier ihr Geld machen und ihr Geld ausgeben und dabei dauernd Weltstadt spielen müssen. Komm, gehen wir ins Kino. Ja. Resnais: “Herzen”. Endlich. Frieden.

Heute vor siebzig Jahren wurde der Berliner Kommunist und Widerstandskämpfer Heinrich Thieslauk von den Nazis ermordet.

Dienstag, 3. April 2007 – Sechsuhrvierzig, elfkommaeins. Dämmerung.

Bild: “Deutschland feiert Henry Maske und lacht über Thomas Gottschalk.” Was ja nur heißen kann, dass ich nicht Deutschland bin.

Apple und EMI haben sich darauf geeinigt, ihr gemeinsames Musikangebot künftig ohne Kopierschutz ins Netz zu stellen. Ausgenommen von dieser wie von allen anderen früheren Regelungen ist einzig die Musik der Beatles. Trotzdem schafft es die “Kulturzeit”, ihren Kurzbericht über den Apple/EMI-Deal ausgerechnet mit einem Cover der Beatles zu illustrieren und mit einem Beatles-Song zu unterlegen.

Im Hof einer Moschee im westtürkischen Mugla war eine herrenlose Tasche gefunden und darauf hin die Polizei benachrichtigt worden. Sicherheitshalber beschloss man, die Tasche zu sprengen. Erst als der Zünder bereits angebracht war, hörten die Polizisten das Weinen eines Babys. Das Krankenhauspersonal, in dem das sechs Tage alte Mädchen jetzt gepflegt wird, taufte das Findelkind auf den Namen “Ravza” – Paradiesgarten.

Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger ist gestorben. Und mit ihm einer der Letzten, die durch ihre Person dokumentieren, dass es eine politische Stunde Null nie gegeben hat. Damit die Kontinuitäten aber auch künftig gewahrt bleiben und klar ist, welche Maßstäbe im Lande gelten, gibt es solche wie Günther Oettinger, der dem furchtbaren Juristen nachruft, er sei ein “Landesvater im besten Sinne” gewesen.

Kurt Weill ist auch tot.

Montag, 2. April 2007 – Fünfuhrvierundvierzig, neunkommasieben Grad.

Ein hübscher Gedanke, die Greifvögel würden am Rande der Autobahnen sitzen, um Autos zu beobachten und über Geschwindigkeit zu philosophieren. Und nicht, um billig Beute zu machen.

Gestern um halbacht kommt Ati. Räder in den Kofferraum, zum Bahnhof. Alex ist mit seinem superleichten Cyclomanix aus Ludwigshafen angereist. Zu dritt nach Eppertshausen. Auf dem Parkplatz: Wieso hab ich jetzt einen Platten? Schlauchwechsel. Zum Start. Dort große Runde der Lokomotive Rotes Ritzel. Aber erstmal Brötchen, Kaffee, Kuchen. Dann los, lange flach. Schaafheim, Groß-Umstadt, Bieberau, Spachbrücken, dann wie jedes Jahr die Schleife über Rossdorf, Ramstadt, Rodau. Sehr schön Otzberg-Oberklingen und das Modautal. Zum Schluß mit Andi an eine starke Gruppe angehängt, gebolzt und trotzdem nur mit Mühe drangeblieben. 111 Kilometer. Fast ein Schnitt von 30 km/h. Nicht schlecht, angesichts der vielen Stopps. Ausgepowert. Schön.
Nach Hause. Soignieren. Ausgiebig.

Die Worte “abholen” und “Lager” sagt man schon jedes für sich nicht so ganz unschuldig. Dafür liest man das Wort “Abhollager” allerdings ziemlich häufig.

Todestag des italienischen Schauspielers und Regisseurs Aldo Fabrizi.