Geisterbahn

Sonntag, 30. 12. 07 –Siebenuhrsiebenundvierzig, vierkommanull. Seit fünf Uhr wach. Halsschmerzen.

Gestern Abend das Schumann-Klavierkonzert mit Argerich (Foto) und dem Gewandhausorchester unter Chailly. Danach “Von fremden Ländern und  Menschen”. Kaum zum Aushalten … so hinreißend.    

Friedrich Stoltze: “Ein Fremder ist immer von außerhalb.”

Am Freitag kleine Runde. Überall auf den Plakaten jetzt wieder dieses verschwitzte Politiker-Lächeln … 

“Die Republikaner begrüßen den Tabubruch des hessischen Ministerpräsidenten. Herr Koch spricht aus, wovor die Republikaner seit Jahren gewarnt haben und dafür als ausländerfeindlich stigmatisiert wurden”, so der Vorsitzende des Landesverbandes der Partei in Hessen, Haymo Hoch.  “Die Republikaner würden Herrn Koch im Landtag gerne dabei unterstützen seinen Worten auch Taten folgen zu lassen und Druck machen, damit praktische Konsequenzen gezogen werden.”

Im DuMont Buchverlag wird am 21. April 2008 ein Band erscheinen mit dem Titel: “Nationalsozialismus – Ein Schnellkurs”. Und wie ist jetzt das gemeint? Nazi werden, leicht gemacht … ?

In einem biografischen Text über Osama bin Laden die Information, dass er von einem Jugendfreund als “still, schüchtern, fast mädchenhaft” beschrieben wurde. Und dass er gerne Fury und Bonanza gesehen habe. 

Heute vor sechzig Jahren starb der niederländische Kunstfälscher Han van Meegeren. 

Freitag, 21. 12. 2007 – Neunuhrzwei, minuseinskommaneun. Kalter Hauch.

Auch die Suchanfrage: “teppichklopfer hosen runter hintern bloss” führt auf diese Seite.

Gestern Morgen mit Harald Schröder Fotos fürs Börsenblatt. Wir treffen uns vor dem Eingang von Alnatura in der Burgstraße, fluchen über die Kälte, trotzdem alles gut gelaunt. Rüber in den Innenhof des Wertheimschen Vereinsheims. Ein paar Aufnahmen mit einem Sombrero, den wir neben einem Müllcontainer entdecken. Vor dem Eingang des Günthersburgparks dann in einer vereisten Telefonzelle, hinter einem Gitterfenster im Park, zwischen den kahlen Stämmen von drei hohen Kiefern … Dann, schon wieder auf dem Rückweg, ist Schröder ganz beglückt, als wir neben dem alten Musikgeschäft einen verstruppten Hinterhof mit grünen Plastikplanen entdecken. Zwei Bauarbeiter lugen von ihrem Gerüst herunter … 

Abends mit Braun und Herl im “Reuters”. Karlheinz, wieselig und vital wie immer, hat zahllose Theaterpläne und gleich entsteht auch die Idee, dass Michael … nee, werd ich jetzt mal nicht verraten, gell. 
Als das teure Essen kommt, schauen Herl und ich uns an. Wie, und das soll die großePortion Hirsch-Ravioli sein? Wie sieht den dann die kleine aus? Tom Koenigs kommt rein; ich frage, wieso der nicht in Afghanistan ist, aber ist ja auch kein Wunder, weil es gar nicht Tom Koenigs, sondern Rupert von Plottnitz ist. Ach so. Lauschig, so ein ziellos verplapperter Abend, wo es um das Volkstheater, Antibiotika, das Rauchverbot, die Nitribitt und schwangere Katzen geht. Durch die kalte Nacht mit dem Rad nach Hause. Schwer ins Bett.  

Am 21. Dezember starb vierundneunzigjährig in Aachen der ehemalige KZ-Arzt Ernst Günther Schenck. 

Donnerstag, 20. 12. 2007 – Sechsuhracht, minusvierkommasechs. Dunkel.

Da denkt man an nichts Böses und nichts Gutes, nur so, dass man halt seinen Job macht und einem Journalisten einen Eindruck verschaffen und dabei auf schon mal gehörte Fragen schon mal gegebene Antworten geben muss – und dann … Kommt alles ganz anders. Man begegnet einem besonnen-vergrübelten Menschen, der so kenntnisreich wie diskret insistiert und alles ein wenig genauer wissen will, als man es selbst bislang wusste. Und schon wird ein kalter, blauer, sonniger Frankfurter Tag noch ein wenig sonniger und blauer. Und man geht klüger, glücklicher und ein bisschen vergrübelter nach Hause. Und freut sich unterwegs schon auf die Lektüre von Handkes “Gestern unterwegs”, auch wenn man sie am Ende doch noch ein wenig aufschieben wird, vielleicht bis zu diesem gottgeilen Sommer, der uns gewiss im kommenden Jahr erwartet, lieber Holger Heimann. “Die Sterne”, sagt Rio Reiser, “stehen glänzendgünstig!”

John Steinbeck ist tot.

 

Dienstag, 18. Dezember 2007 – Vieruhrzweiunddreißig, minusdreikommazwei. Dunkelfrisch. 

Wenn alle Wünsche so schnell … Es klingelt, Charlotte und Atilla stehen vor der Tür … Herzlichenglückwunschnachträglich. –  Ja danke, was ist denn da drin? – Gar nicht so schwer zu erraten. – Mmmh, ein Buch, ein Buch, sieht aus wie ein Buch. Nee, das gibt’s nicht, der Kuhlbrodt … Und Jürgen mit einer ganzen Tüte voll, nee, ich sag nicht, was … Echt schön, aber leider nur ein Mal im Jahr.

Gestern Morgen auf der Fahrt nach Wiesbaden auf HR 2 eine Lesung. Ich horche auf, mmmh ganz gut, denke ich. Dann: nee, jetzt übertreibt er aber mit dieser ländlich-wichtigtuerischen-kritischen Volkston-Tour. Aber es geht immer so weiter mit dieser Leier, und, oh Gott, ich schalte gleich ab, nein, was für eine manirierte Scheiße, als würde jemand versuchen, gleichzeitig Fassbinder, Sybille Berg, Bobrowski und Derrick zu parodieren. Und dann, es ist zu Ende: “Sie hörten den soundsovielten Teil aus Peter Kurzecks Lesung seines Romans …” Wie, das war doch nicht etwa wirklich der gute Kurzeck. Schäme mich fast. Aber so ist das mit den Blind Dates …

Aber dafür auf der Rückfahrt was Hübsches: “Short Story” des polnischen Motion Trio.

Heute vor einem Jahr erhängte sich im Keller der “Ritze” auf St. Pauli der ehemalige Boxer und sogenannte Bordellkönig Stefan Hentschel. Und die ewige Wondratschek-Fauser-Fraktion entblödet sich nicht, selbst so einen noch zum Idol aufzublasen.


Freitag, 14. Dezember 2007
 – Achtuhrsechsunddreißig, oh je, nur einskommavier Grad. Grau. Seit zwei Uhr wach, Connellys “The Last Coyote”. Um halbsieben Geschenke. Wie schön.

Ati würde wahrscheinlich auch einem Schimpansen erklären können, wie man mit dem Bilderhochladeprogramm auf dem neuen Server umgeht. Oder einer Ziege. Jetzt sollte es klappen.

 

Na also, geht doch!

Montag und Dienstag wieder im Archiv. Dazu in Kürze mehr.

Mittwoch den ganzen Tag die Akten-Exzerpte in den Rechner getippt. Hätt’ ich doch nur gleich das Notebook mit nach Wiesbaden mitgenommen. Abends Jürgen.

Donnerstag weiter mit den Abschriften. Dann Weihnachtseinkäufe. Und – ohne Absicht – ein neues Mexx-Jackett und neue Lowas. Gegen drei ins Café des Kunstvereins, Hochzeit von Maria und Jörg, lauter glückliche Gesichter. Lutz, wie immer, fotografierend. Harald zeigt mir stolz sein iPhone. Schnell noch in die Gutleutstraße. Aber das Haus, in dem die Matura gewohnt hat, steht nicht mehr. Hatte ich das nicht vor zwanzig Jahren schonmal festgestellt, als ich Kupers “Hamlet” las?

In der “Zeit” eine Besprechung von Erenz über die bei Suhrkamp erschienenen Feuilletons von Kuhlbrodt. Unbedingt dran denken, das Buch zu besorgen.

Kann es sein, dass die “Kulturzeit” besser wird? Nicht mehr dauernd nur die ewigen Popmythen … Dieser tolle Beitrag von Granditz über den Wiener Architekten und Designer Josef Frank und gestern das Gespräch mit dem Regisseur Robert Dornhelm, guter Typ. Er wurde mit einem Film bekannt, der genauso heißt wie das letzte Connelly-Buch, das ich gelesen habe: “Echo Park”.

Geburtstag haben Agnes Fink, Jane Birkin, Tamara Danz, John Lurie, Eva Matthes, Andreas Mand, Wolf Haas. Und ich. 

 

Montag, 10. Dezember 2007 – Siebenuhrzweiundfünfzig, sechskommasieben Grad. Grau. Dämmerig. 

Auf der Homburger Landstraße Richtung Bonames. Rundum schwere, dunkle Wolken, der Asphalt ist nass, aber über mir der Himmel blau. 
Der Taunus teils im Nebel, teils ausgeleuchtet. Ein ausgefranster Regenbogen. Die Felder in braun, ocker, grün – wie von Eugen Bracht gemalt. Sprießende Wintergerste, gelbes Gras, geneigt vom Regen. Moos. Manchmal flammt ein letzter Apfel rot vor der schrundigen Rinde seines Baums. Die feuchten Feldwege: silbrig glitzernde Striche. Kurz vor Burgholzhausen ist die Straße fast trocken. Runter nach Petterweil. Rechts die Straußenvögel in ihrem Gehege legen die Köpfe schief, als ich sie aus Übermut anschreie. Zurück dann schwerer Wind. Und gute Laune. 

Vor elf Stunden ist Robert Willie Pickton nach einjähriger Hauptverhandlung schuldig gesprochen worden, sechs Frauen auf seiner Schweinefarm in Port Coquitlam nahe Vancouver getötet und an die Tiere verfüttert zu haben: “There where gasps and screams in the courtroom as the jury foreman announced “Not guilty” on the first count of first-degree murder of Sereena Abotsway. But the foremam then announced the jury found Pickton guilty of second-degree murder, which is a lesser included offence. The jury foreman announced guilty of second-degree murder also for the killings of five other women: Georgina Papin, Marnie Frey, Brenda Wolfe, Mona Wilson an Andrea Joesbury.”
Das Strafmaß wird heute im Laufe des Tages bekannt gegeben.
Pickton ist angeklagt, weitere 20 Frauen ermordet zu haben. Ein nächster Prozess gegen ihn soll im Januar 2008 beginnen. 

Wieso dieses Bild nun keiner außer mir haben wollte … Eine Gouache von Franz Becker-Tempelburg aus dem Jahr 1930. Was denn jetzt? Nee, ich krieg es nicht hochgeladen, muss ich Ati doch wieder behelligen. Aber nicht jetzt, jetzt muss ich rasch nach Wiesbaden, ins Archiv. 

Heute vor einem Jahr starb Augusto Pinochet, einer der ruchlosesten … Ich weiß schon, ‘ruchlos’ lässt sich nicht steigern. 


Sonntag, 9. Dezember 2006
 – Fünfuhrundacht, fünfkommneun Grad. Seit gut einer Stunde wach. Dunkel. Regnet nicht, aber der Boden ist feucht. Windig.

Die drei späten John-Heartfield-Montagen sind für knapp 900 Euro verkauft worden. 

Gestern durch Preungesheim und Seckbach auf Schauplatz-Suche für die Eröffnungsszene. Immer an den struppigen Rändern entlang. Abends dann lange mit C. über den neuen Fall. Noch kein Durchbruch. Hauptsache, es wird nicht zu einfach. Aber man steht immer vor demselben Dilemma: Die wahrscheinlichen Lösungen sind meist langweilig. Die interessanten Lösungen sind unwahrscheinlich. 

Die Geisterbahn muss wieder lässiger werden, schneller, mehr Nebensachen zulassen. 

Vor zwei Jahren ist Helmut Sakowski gestorben. Vor dreißig Jahren habe ich mit großer Aufregung die mehrteilige Verfilmung seines Romans Daniel Druskat im DDR-Fernsehen geschaut. Mit dabei: Manfred Krug, Hilmar Thate, Angelica Domröse, Angelika Waller …
Donnerstag, 6. Dezember 2007 – Fünfuhrachtzehn, siebenkommaneun. Dunkel. 

Um halbvier aufgewacht, ins Netz geschaut und als erstes diese beiden Meldungen gefunden: 
– Neun Tote bei Amoklauf in Omaha.
– Mutter im Kreis Plön tötete offenbar fünf Kinder. 

Es ist wohl so wie Fräulein anobella schreibt: Die Wiesbadener Papageien hört man immer, aber sehen kann man sie nur im Winter, wenn die Bäume kahl sind und sich die grünen Halsbandsittiche nicht im Blattwerk verstecken können. Sie gehören zu einer Population, die vermutlich auf ein ausgewildertes Pärchen aus dem Kölner Zoo zurückgeht, dann rheinaufwärts gezogen ist, jetzt ihren Hauptsitz im Biebricher Schlosspark hat und derweil auf tausend Exemplare geschätzt wird.

Matthias-“Dich-mach-ich-fertig”-Matussek hat einen Freund. Was an sich schon eine Meldung wert ist. Dieser Freund heißt Franz Josef Wagner, arbeitet für “Bild” und scheint bereits am 28.11.2007 geahnt zu haben, dass er den nunmehr entlassenen Ressortleiter des “Spiegel” auf den Mond loben muss, um ihn sich noch eine Weile als Nachfolger vom Leib zu halten:  “Matussek ist der für mich amtierende deutsche Meister des modernen Erzählens … Er ist der Erzähler des digitalen Universums. Unser erster Lacher im Weltall.” – Der für mich amtierende … – So wird es wohl kommen!

Tot ist Gian Maria Volonté. 

Dienstag, 4. Dezember 2007 – Fünfuhreinundvierzig, fünfkommavier Grad. Seit einer Stunde wach, aber gut geschlafen. Dunkel. Kein Regen.

Gestern wieder im Archiv. In den ersten Tagen nach dem Mord sind die Aktivitäten der Kriminalpolizei förmlich explodiert. Die Ermittler haben alle befragt, derer sie habhaft werden konnten. Haben vernommen, verhört, telefoniert, Klinken geputzt und sich die Absätze schiefgelaufen. Schließlich haben sie sich konzentriert auf die Suche nach einem mysteriösen “Fritzchen” und nach einem Mann, den in der Mordnacht einige gesehen haben wollen, den aber niemand kannte. Phantombild, Fahndungsaufruf, Belohnung … Alles erfolglos. Dann kommen die Verrückten und Wichtigtuer: falsche Geständnisse, Anschuldigungen,  … ein Gefangener berichtet, dass er gehört habe, wie ein Zellennachbar im Schlaf den Namen des Opfers … ein durchreisender Vertreter hat angeblich ein Foto der Ermordeten herumgezeigt … Und … bitte … , schreibt ein Oberamtmann i. R., man solle sich doch den Schlagersänger Abi Ofarim einmal genauer anschauen, der sei doch ein “Weibertyp”, ein “flotter Hirsch”, aufbrausend, leicht erregbar wie man höre und seine Ähnlichkeit mit dem Phantombild frappierend …  Schließlich spürt man förmlich wie die Spannkraft der Ermittler nachlässt, wie ihnen nichts mehr einfällt, wie sie weiter im Nebel stochern. Und dann kommen die ersten Anzeichen der Kapitulation: Die Frage des Instituts der Rechtsmedizin, ob man die Organproben des Opfers jetzt vernichten dürfe, wird mit Ja beschieden, eine Alibifeststellung wird verschoben, weil man zwei neue Kapitalverbrechen zu bearbeiten habe, eine Dienstreise zur Vernehmung eines Inhaftierten wird abgelehnt … 

Wieder auf der Straße, sitzen in einem Baum vor der Villa gegenüber zwei wunderschöne grüne Papageien und naschen von einem Meisenknödel. Dann flattert der eine auf, stürzt sich in die Tiefe und fliegt schreiend einen Meter an meinem Kopf vorüber. 

Tote: der Psychiater Karl Bonhoeffer (unbedingt mal nachlesen!), Hannah Arendt, Benjamin Britten, Frank Zappa. 

Montag, 3. Dezember 2007 – Fünfuhrdreiundfünfzig, siebenkommazwei Grad. Dunkel.

Was für eine Nacht! An Schlaf ist nicht zu denken. Sturm und Regen. Das Wasser trommelt auf Plastikplanen, Gartenstühle, Aluminiumfensterbänke. In der unbewohnten Hausreihe gegenüber schlagen die von den Arbeitern offen gelassenen Terrassentüren. Auf dem Flachdach die Silhouette eines Mannes. Ein Polizeihubschrauber richtet seine Scheinwerfer in eine dunkle Baugrube. Etwas bewegt sich dort unten im Schlamm. Der Teufel ist ein schöner, junger Mann. 

Connellys “Lost Light” zu Ende. Fange wieder mit “Der letzte Coyote” an. Aber nein, auf Deutsch mag ichs nicht noch mal lesen. Die englische Ausgabe ist ja auch bereits bestellt …  

Dieses Schild auf dem Außengelände einer Kindertagesstätte: “Baustelle – Betreten nur für Kinder erlaubt”. Da musste auch erst die Generation Ikea kommen, um sich diesen Schwachsinn auszudenken.

Noch ein apartes Idiotenwort: Konsumklima.

Tot ist Robert Louis Stevenson. Und was für ein schönes Porträt von ihm und seiner Frau.