Zurückdatierter Eintrag.
Freitag, 29. Februar 2008 –Siebenuhrfünfunddreißig, siebenkommasieben. Regnet’s schon wieder?
Vormittags gestern: Umzug mit Atilla – Treppen hoch, Treppen runter, Treppen wieder hoch. Zwischendurch Fotos. Und immer, wenn wir wieder im Auto sitzen, läuft dort im Radio auf HR2 dieses wunderbare Violinkonzert in dieser wunderbaren Aufnahme, doch will und will mir nicht einfallen, wer es komponiert hat. Zu Hause dann: aha, Dvorak mit Isabelle Faust – na klar, die CD hab ich doch.
Dann Hatz durch den Tag – und trotzdem wieder nichts geschafft. Telefon, Telefon, Telefon – verdammt, was gibt es bloß immer zu reden? Und alle beschweren sich, dass ich ja nie zu erreichen sei … wo ich denn stecke … ob ich mir nicht endlich mal einen Anrufbeantworter … Im Gegenteil! Bald wird das Telefon ganz abgeschafft.
Abends Lesung in Eschersheim. Frau Bünger wird immer jünger. In der Dunkelheit im Regen auf dem Rad zurück. Ohne Schutzbleche. Das Licht macht schlapp. Ständig schlägt der Beutel mit den drei Flaschen Wein gegen das Vorderrad. Völlig durchnäßt, völlig verdreckt, völlig erschöpft. Fluchende Heimkehr.
In der “Süddeutschen Zeitung” von Manfred Schwarz ein munterer Verriß der Frankfurter “Impressionistinnen”-Ausstellung. Trotzdem freu ich mich drauf. Ist mir fast immer egal, welches Konzept hinter einer Ausstellung steckt, wenn nur ein paar Werke dabei sind, die mir was sagen. Mehr bedarfs nicht. Mehr schaff ich sowieso nicht. Die Absichten der Kulturbetrieb-Agenten sind sowieso in den wenigsten Fällen etwas anderes als Futter für den Zeitgeist.
Die Sache mit den drei toten Georgiern weiter verfolgen …
Heute hat Cheb Khaled Geburtstag. Gleich mal …
Donnerstag, 28. Februar 2008 – Siebenuhrdreiundfünfzig, fünfkommein Grad. Wolken.
Michi Herl schickt den schönen Nachruf von Florian Illies auf Heinz Berggrün. Stefan, den ich auf den Gängen des HR treffe, empfiehlt mir “Hauptweg und Nebenwege”, die Erinnerungen eines Kunstsammlers. Und Jürgen bringt die Sonntags-FAZ mit, darin eine berückende Reportage von Nils Minkmar über seine Begegnung mit dem alten französischen Historiker Marc Ferro, der dringend das Bundesverdienstkreuz ablehnen musste. Und ein gewohnt debiles Interview von André Müller mit der Geigerin Julia Fischer. Es geht um alles, um Ruhm, Schönheit, Jugend, Nacktheit, Geld … Nur um eines geht es nicht: um Musik.
Heute vor einhundert Jahren wurde Pat Garrett erschossen.
Dienstag, 26. Februar 2008 – Neunuhrvierzig, zwölfkommanull. Bedeckt.
Was für eine Nacht. Gegen halbdrei aufgewacht, schweißgebadet, mit rasendem Herzen. Flatternde Träume. Ein Tier huscht über den Weg, vielleicht ein Dachs. Eine Pizza explodiert in der Mikrowelle. Jemand wartet. Jemand fällt. Ich lüge. Alte Geschichten.
Am Wochenende hat die Polizei der Kanalinsel Jersey auf dem Gelände eines ehemaligen Kinderheimes den Schädel eines Mädchens oder eines Jungen gefunden. Vorausgegangen waren monatelange verdeckte Ermittlungen, die eingeleitet worden waren, weil es immer wieder Gerüchte über Jahre zurückliegende Kindesmisshandlungen und Kindesmissbrauch in dem Haus gegeben hatte. Inzwischen haben sich 140 mutmaßliche Opfer bei der Polizei gemeldet. Vierzig ehemalige Angestellte des Kinderheims gelten als verdächtig, sich an den Verbrechen beteiligt zu haben. Jersey ist weder eine britische Kolonie noch gehört sie zum United Kingdom, vielmehr ist sie Kronbesitz und als solcher direkt dem Königshaus unterstellt. Die Insel liegt 20 Kilometer vom französischen Festland entfernt.
Nein, es ist nicht wie Holger aus Langen, ein aufmerksamer Leser der “Partitur des Todes”, meint: “Jakob Offenbach” ist kein Fehler, denn es handelt sich beim “Geheimnis einer Sommernacht” um eine fiktive frühe Operette, die entstand, bevor Jakob sich Jacques nannte.
Manchmal hat man auch ganz kleine Sorgen: zum Beispiel die, dass nirgendwo in meiner Umgebung “Sallos Schulkreide” zu bekommen ist, diese Lakritze in der weißen Zuckerkruste, ohne die ich nicht mehr länger …
Lektüre: Immer noch Robinsons “In a Dry Season”. Hmmmh, schwerfällig, komme kaum voran. Was ist los? Nichts…
Fernandel ist tot.
Samstag, 23. Februar 2008 – Sechsuhrfünfunddreißig, achkommanull Grad. Dunkel.
Mittwoch im ICE nach Dresden. Deutschland hat 82 Millionen Einwohner. Davon gefühlte Schwaben: 81,9 Millionen. Und ich bin ständig von ihnen umzingelt. Mir gegenüber ein Paar, beide Ende fünfzig, aufgeräumt, gesetzt, gewitzt, die Rechtschaffenheit dringt aus jeder Pore, und durch die praktischen Regenjacken aus heimischer Produktion scheinen sie gewappnet zu sein gegen alle Widrigkeiten dieser Welt. Das Stolpern eines Mitreisenden im Mittelgang, das unbeholfene Englisch des Zugführers, die zu enge Jeans einer jungen Frau kommentieren sie mit einem kurzen gemeinsamen Keckern, bevor sie gleich wieder verstummen, sich unschuldig anschauen und lauernd auf den nächsten Anlass warten. Gesagt haben, freilich, will man nichts …
Rechts neben mir: noch ein Paar, noch zwei Schwaben. Gross, schlank, blass, tot. Frisiert und in grobe Wolle gekleidet wie mormonische Pioniere. Und tatsächlich: Sie lesen sich gegenseitig leise aus einem dicken Buch vor, das den Titel trägt: “Jesus ist der Weg!” Sofort habe ich Lust, mich zu ihnen zu setzen und mit ihnen über ihre Denkfaulheit zu sprechen.
Abends nach einer schönen Lesung im Kommissariat zwei Entdeckungen im Gasthaus “Bautzner Tor”: auf dem Teller die Kamenzer Wurst und an der Wand ein überraschender Lenin. Und nicht zu vergessen, die Geschichte von dem versehrten, am Tourette-Syndrom leidenden Mann, der morgens in die Bäckerei kommt und seinem Überdruck Luft macht, indem er unvermittelt ausruft: “Hitlerfickendreibrötchen”. Und das auf Sächsisch.
An der Wand des Lokals die Mitteilung: “Geschätzte Gäste! Aufgrund des neuen Raucherschutzgesetzes wird ab dem 1. Februar das Rauchen in allen Räumen verboten sein, in denen Speisen und Getränke verabreicht werden. Aus diesem Grund bitten wir Sie um Verständnis, dass ab der nächsten Woche keine Speisen und Getränke mehr ausgegeben werden!”
Donnerstag Berlin. Von Spandau aus nach Dahlem. Drei Kilometer von der nächstgelegenen U-Bahnstation zu Fuss durch dieses nicht enden wollende Villenviertel, wo es keine Menschen auf den stillen Straßen gibt und keine Namen an den Briefkästen, sondern nur Hausnummern und ab und zu die schmiedeeisernen Initialen des Hausherrn. Dann in einer kleinen Sackgasse das Brücke-Museum. Aber ach, es gibt nur eine Sonderausstellung mit dem umwerfenden Titel: “Ekstase, Rhythmus, Stille”, wo nichts anderes gezeigt wird als gefühlte fünfhundert kreuzbrave Eruptionen von Karl Schmidt-Rottluff, die ich sämtlich eingehend studiere und geistig durchdringe, wofür ich insgesamt fünf Minuten brauche, bevor ich wieder drei Kilometer zurücklaufe durch diese Gegend des asozialen Reichtums, von der ich nun denke, dass dieses Museum hier wirklich sehr gut aufgehoben und versteckt ist.
Dann aber nach Charlottenburg, wo direkt gegenüber vom Schloss das Museum Berggrün seine Bilder von Matisse und Picasso und Klee zeigt, was ein so großes Glück ist, das ich es keinesfalls mit dieser Welt teilen möchte …
Zurück in Spandau, hinterm Bahnhof vor dem “Arcaden” genannten Einkaufszentrum: Eine Frau, vielleicht Mitte fünfzig, gewandet wie eine in die Jahre gekommene Hippie-Dame, an einer Selbstgedrehten nuckelnd, fragt mich nach dem Weg. Ich bedaure, will mich bereits wieder abwenden, als sie ihren Blick schon in meinen verhakt hat. Wo ich denn sonst herkomme, wenn nicht aus Spandau? Frankfurt, sage ich. Na, da sei sie doch in der Nähe fast mal adoptiert worden, in Niederhöchstadt, Jahrzehnte her freilich, weshalb man ihr den Dialekt nicht mehr anhöre, inzwischen allerdings – sie mache gerade ihre dritte Analyse – dringe sie langsam so tief in ihr Unterbewusstes vor, dass das Südhessische gelegentlich wieder zu Tage komme: “Dann babbel isch wiedä”. Sagt es, lächelt mich an und zieht ihrer Wege.
Abends in St. Marien. Conny und Dörte und das beste Brot der Welt. Ein Paar aus Adlerhorst; die beiden erzählen, dass ihnen noch Anfang der Achtziger die benachbarte alte Anna Seghers immer mal wieder über den Weg gelaufen sei. Dann ins Alte Zollhaus mit den Kissners. Kaninchen und Williams und irgendwann schwermüde zurück ins öde Ibis.
Oh, gerade sehe ich: Heute vor einem Jahr ist Heinz Berggrün gestorben.
Dienstag, 19. Februar 2008 – Achtuhrundsieben, minusnullkommasieben. Schon wieder Sonne. Hell.
Eine Zeit lang musste ein Werk, wollte es gemocht werden, als “subversiv” gelten, wenig später war das “radikal Subjektive” gefragt, dann wurde “das Erhabene” wiederentdeckt, immer mal wieder Konjunktur hat “der Grenzgänger”, bei schlichteren Gemütern auch “die spitze Feder”, und nun also …
Frank Thilliez: Die Kammer der toten Kinder (Juli 2007)
Dan Simmons: Kinder der Nacht (September 2007)
John Saul: Kind der Hölle (Oktober 2007)
Sabine Alt: Kinder des Wassers (November 2007)
Elisabeth Herrmann: Das Kindermächden (November 2007)
Piernicola Silvis: Der Kindermörder (November 2007)
Sabine Thiesler: Hexenkind (November 2007)
Sebastian Fitzek: Das Kind (Januar 2008)
Tom Rob Smith: Kind 44 (Januar 2008)
Sam Hayes: Blutskinder (Februar 2008)
Anne Holt: Das einzige Kind (Februar 2008)
Donna Leon: Lasset die Kinder zu mir kommen (Juni 2008)
Lektüre: Peter Robinsons In a Dry Season. Gut gebaute Geschichte, spielt in dem kleinen fiktiven Ort namens Harkside in North Yorkshire. Interessante Figuren. Einfache, aber vollkommen organische Perspektiv- und Szenenwechsel. Macht man alles gerne mit … Mal sehen …
Am Abend lange in dem prachtvollen Dix-Band von Dumont geblättert (Getroffen – Otto Dix und die Kunst des Porträts). Gut gezeigt die Tradition, in der Dix gemalt hat – von den Cranachs bis Hodler. Und schön sein Motto: “Trau deinen Augen!” Dazu auch Liebermanns: “Nichts trügt weniger als der Schein”. Etwas zu extensiv aber die Darstellung der “Gegenwartsporträts”.
Vor sechs Jahren starb Charles Trenet.
Samstag, 16. Februar 2008 – Siebenuhreinunddreißig, minusfünfkommanull. Selbe Zeit, selber Baum, anderes Bild. Im Moment online: 0 Personen.
Gestern Morgen, noch matt von der Lesung am Vorabend, klingeln Arning und der Fotograf Alex Kraus. Interview für die FR. Paar Aufnahmen auf der Dachterrasse. Wie man so guckt, was man so stammelt …
Dann aufs Rad, aufs weiße, an den Main. Windig, eisig, sonnig. Auf der Höhe von Rumpenheim, hinter dem heruntergekommenen Campingplatz und der Windhunde-Rennbahn rechts ins Feld zum Schultheißweiher. Ja, sehr schön. Ein guter Schauplatz. Hier kann das Skelett gefunden werden. Als ich das Naturschutzgebiet verlasse, sehe ich rechter Hand auch noch diesen uralten, ummauerten Friedhof. Und später, im Regionalatlas, findet sich dafür die Bezeichnung: “Jüdische Begräbnisstätte”.
Rasch nach Hause und die Abschrift des Interviews überarbeiten. Peter H. ruft an, erzählt, dass heute etwas in der Basler Zeitung komme. Und dass er für Zeit online noch ein paar O-Töne brauche …
Abends dann Lesung in Seligenstadt. Wieder vollkommen überfüllt. Beste Stimmung, muntere Fragen. Und ich am Ende: völlig am Ende.
Tot ist Helen Vita. Eines ihrer Alben hieß: “Ich hasse die farblose Feinheit”.
Mittwoch, 13. Februar 2008 – Siebenuhreinundvierzig, minusnullkommavier. Welt im Nebel.
Wenn ein Gästebuch für irgendwas gut ist, dann immerhin für einen so interessanten Einwand wie den von Nikolaus Heermann aus Bad Nauheim. Aber wo bekomme ich nun die Dissertation des dänischen Folkloristen Bengt Holbek her?
Lektüre: Christian Steigers Buch “Rosemarie Nitribitt – Autopsie eines deutschen Skandals”. Durchgängig auf wertigem Hochglanzpapier gedruckt, was aber den Gesamteindruck des Bandes ins Gegenteil verkehrt – wirkt dadurch eher billig, reißerisch. Auch die Fotos von Nitribitts Leiche, die Nacktaufnahmen – grenzwertig. Trotzdem erstaunlich, dass damit nach fünfzig Jahren zum ersten Mal eine Recherche zu dem Fall in Buchform vorliegt. Auch wenn Vieles im Dunkeln bleibt – ein Sittenbild der Nachkriegszeit wird sichtbar. Und ich bin verblüfft, dass es noch viel mehr Parallelen zum Fall Matura gibt, als ich bislang schon wußte.
Stefan schickt die Master-CD von “Ein kleiner Abend Glück” …
Und jetzt noch eine ziemlich sensationelle Entdeckung: Der Schweinfurter Unternehmer-Sohn Ernst-Wilhelm Sachs ist schon im Jahr 1957 beim Fall Nitribitt ins Visier der Ermittler geraten – Und auch in den Akten zum Mordfall Matura taucht er neun Jahre später wieder auf. Nicht nur, dass er einer der Kunden der M. war. Er war in der Mordnacht in Frankfurt – keine 200 Meter von der Wohnung des Mordopfers entfernt im Hotel Intercontinental. Die Nachlässigkeit, mit der die Polizei offensichtlich in beiden Fällen seine Alibis behandelt hat, ist frappierend. Und mit beiden Mordfällen war der kürzlich verstorbene Frankfurter Polizeidirektor Albert Kalk an verantwortlicher Stelle befasst. Und der hat – wenigstens im Fall Nitribitt – nachweislich gelogen, wenn er öffentlich immer wieder deren Bekanntschaft mit der bundesdeutschen Prominenz bestritten hat.
Zuruf: Künftig ein bißchen weniger um Krimi-Kram kümmern!
Tot ist: Arno Breker. Sehe gerade, dass es in Nörvenich ein Breker-Museum gibt. Werde ich mir anschauen, wenn ich in Kerpen bin.
Dienstag, 12. Februar 2008 –Fünfuhrachtundfünfzig, vierkommasechs Grad. Dunkel.
Mehr noch als in der avancierten Literatur scheint die Beurteilung eines Kriminalromans eine Frage persönlicher Vorlieben, des Temperaments, des Geschmacks und nicht zuletzt des Zeitgeistes zu sein. Objektivierbar ist – schaut man sich die Kritiken oder auch nur die Reflexe der Leser an – offenbar fast nichts. Ob jemand David Peace mag oder Kathy Reichs, ob Mankell oder Fred Vargas, Hakan Nesser oder Elizabeth George, ob Ellroy, Rankin, Connelly, Robinson oder Disher, die Kriterien der Rezensenten entsprechen immer den je eigenen, ganz individuellen Vorlieben für einen bestimmten Duktus, vor allem aber auch für einen bestimmten Ermittlertypus. Und sind zumeist – was nicht zu beklagen, aber festzustellen ist: außerliterarisch. Dabei zeigt sich, dass die professionellen Kritiker von Spannungsliteratur dazu neigen, einen Kriminalroman dann für gelungen zu halten, je „dunkler“, „verlorener“, „härter“, „schneller“, „korrupter“, „verkommener“, „sezierender“, „schärfer“ „auswegloser“ er oder seine Geschichte oder sein Personal genannt werden können. Und je “ungewöhnlicher”, “irritierender”, “disparater”, “innovativer”, “zeitgemäßer”, “moderner” seine Erzählweise. Was wohl auch daran liegt, dass die Ungeduld beim Lesen mit dem Grad der Übersättigung steigt. Wer „Tag und Nacht auf Crime“ ist, muss die Dosis vielleicht gelegentlich erhöhen. Die Frage ist, wohin das führt, wie weit das gehen kann?
Dabei wird – seit nunmehr Jahrzehnten unhinterfragt – immer wieder zustimmend Bezug genommen auf die Romane der american hardboiled school und der série noire. So, als sei deren Ausdrucksarsenal nicht längst seiner Erfahrungsgrundlagen beraubt und deshalb zur Attitüde erstarrt. So, als müsse ausgerechnet der Kriminalroman der literarischen Avantgarde von vorgestern nacheifern, als müsse ausgerechnet dieser die Trümmer noch zermahlen, in die jene die narrativen Gebäude des neunzehnten Jahrhunderts aus guten Gründen gelegt hat. Aber verglichen mit den Arbeiten von Dujardin, Joyce, Kafka, Proust, Babel, Beckett und Céline oder gar mit den Arbeiten des literarischen Dadaismus und des nouveau roman, gehören selbst die vermeintlich “modernsten” Kriminalromane zutiefst der Vormoderne an. Und können womöglich gar nicht anders. Denn würden sie die Gesetze der aristotelischen Dramaturgie aufgeben, würden sie zugleich ihre eigenen Maßgaben suspendieren und damit sich selbst. Seine Qualität bezieht das Genre aus der Variation, nicht aus der Innovation. “Die Charaktere werden selten gewechselt, und Motive für den Mord gibt es nur ganz wenige. Weder in die Kreierung neuer Charaktere noch in die Aufstöberung neuer Motive für die Tat investiert der gute Kriminalromanschreiber viel Talent oder Nachdenken. Es kommt nicht darauf an. Wer, zur Kenntnis nehmend, daß ein Zehntel aller Morde in einem Pfarrhof passieren, ausruft: ‘Immer dasselbe!’, der hat den Kriminalroman nicht verstanden. Er könnte ebensogut im Theater schon beim Aufgehen des Vorhangs ausrufen: ‘Immer dasselbe!'” Geschrieben hat diese Sätze Bertolt Brecht, der erklärte Antiaristoteliker unter den Autoren des letzten Jahrhunderts.
Heute vor dreiundfüfnzig Jahren starb Julius Bab in Roslyn Heights.
Montag, 11. Februar 2008 – Siebenuhrachtundfünfzig, zweikommafünf. Schon hell.
Was gefehlt hat, merken wir erst jetzt, bei der ersten gemeinsamen Ausfahrt des Jahres. Schlendernd durch die sonnige, frische Wetterau, gelegentlich kleine Attacken, zielloses Geplauder, gemeinsames Schweigen – unpeinlich, schwerer Atem, die ersten Krokusse, nasse Greifer über kahlen Apfelbäumen, ein Rudel Rehe, das von dem unsichtbaren Mund zwischen Himmel und Acker verschluckt wird, der grüne Flaum auf den Feldern. Und … am Ende das erste Speiseeis in Bergen … eh man noch unterzuckert …
Lektüre: Marie Luise Scherer, Der Akkordeonspieler. Anbetungswürdig.
Tot ist Sergej Eisenstein.
Freitag, 8. Februar 2008 – Siebenuhrachtzehn, nullkommaeins. Dämmert schon, klasse.
Mit Guntram in Gießen beim Griechen:
Tot ist der Schriftsteller Ernst Glaeser, geboren in Butzbach, gestorben in Mainz. Er war Pazifist, Emigrant, Antifaschist. Kehrte im April 1939 nach Deutschland zurück und wurde Redakteur der Luftwaffen-Frontblätter “Adler im Osten” und “Adler im Süden”. Wege sind das …
Donnerstag, 7. Februar 2008 – Achtuhreinundzwanzig, zweikommaeins. Raureif überall. Und strahlend die Sonne.
Aber … Was ist nur los? So jung noch das Jahr, so früh noch am Tag, so sonnig schon der Himmel … und ich höre Strauss’ “Vier letzte Lieder”, möchte vergehen vor Schmerz … und … statt nun dem ein Ende zu machen, höre ich sie ein ums andere Mal, und immer wieder das allerletzte: “Wie sind wir wandermüde – ist dies etwa der Tod?”
… und dann auch noch die hinfälligste aller Hinfälligkeiten: “Addio del passato” aus Verdis “La Traviata”.
Heute vor drei Jahren wurde die 23jährige Hatun Sürücü vor ihrer Wohnung in der Tempelhofer Oberlandstraße mit drei Kopfschüssen getötet.
Mittwoch, 6. Februar 2008 – Elfuhrfünfundvierzig, zehnkommaneun. Sonnig, wolkig, stürmisch, alles.
Unter den Brücken die Mücken …
Wieso gibt es für solche Dialoge eigentlich keinen Nobelpreis?
“Herr Kommissar, wissen Sie, dass man hier sehr viel von Ihnen gesprochen hat?”
“Wie schön.”
“Ich wollte sagen, dass man schlecht von Ihnen gesprochen hat. Man hat Ihr Verhalten als …”
“Ein Bier, Garcon! Schön kalt!”
(Aus: Simenon, Maigret bei den Flamen)
Heute vor 89 Jahren starb Gustav Klimt, dessen Bilder ich noch immer nicht ertrage.
Dienstag, 5.2.2008 – Sechsuhrzweiunddreißig, dreikommasieben.
Stimmt schon, es gibt Tätigkeiten, bei denen es auf die Grammatik nun wirklich nicht ankommt:
Gestern im HR-Doppelkopf ein gutes Gespräch mit Ilja Richter. Den würde ich gerne mal kennenlernen.
Abends kommt Stefan, war gestern in “Il trittico”, ist ganz begeistert; wir kommen auf die Callas, ich lege den Sampler auf, obwohl Stefan ja die Tebaldi … Und endlich merke ich, wie viel die Callas mit der Matura zu tun haben könnte, jedenfalls mit jener Figur, die ich daraus machen werde. Unbedingt “Die Kameliendame” lesen!
Stieg Larssons “Verblendung” beendet. Jetzt: “Maigret bei den Flamen”.
Tot ist Hermann Danz.
Montag, 4. Februar 2008 – Fünfuhrfünfundfünfzig, nullkommaein Grad. Dunkel. Seit vier Uhr wach.
Mittwoch: Mit dem ICE nach Kassel. Jagd auf den kleinen Asus PC, aber auch dort: ausverkauft, Lieferzeit vier bis sechs Wochen. Weiter nach Lüneburg, mit dem Taxi in ein Hotel, das Seminarisheißt – muss man sich auch erstmal einfallen lassen, einen solchen Namen. Wieder Taxi, in die Innenstadt, Buchhandlung Perl, kein Mikrofon. Aber im Vertrag steht doch … Na, Sie werden sehen, dass Sie kein Mikro brauchen. Verdammt … Hotel, Bett, müde.
Donnerstag: Immer noch Lüneburg, stolpere durch die kalte Stadt, tatsächlich gibt es ein paar Cafés, und ich bekomme meinen doppelten Espresso macchiato. Zum Bahnhof. Zwei Polizisten zerren einen kleinen, bärtigen Mann von seinem Platz in der Bahnhofshalle, wo er mit gesenktem Kopf vielleicht gedöst, vielleicht geschlafen hat, und bugsieren ihn rüde ins Freie.
Ich (unbeholfen): Die Ärmsten müssen auch noch frieren.
Polizist Forsch: Ja, uns gehts wirklich schlecht.
Polizist Feige (grinst und schweigt).
Ich (unbeholfen): Nein, ich meine …
Polizist Forsch: Ha, ich weiß, was Sie meinen. Was geht Sie das an?
Ich: Hätten Sie den Mann nicht einfach sitzen lassen können?
Polizist Forsch: Der belästigt Leute wie Sie …
Ich: Tut er nicht!
Polizist Forsch: Der säuft und uriniert und zeigt den Leuten sein Geschlechtsteil.
Ich: Hat er gar nicht!
Polizist Forsch: Wollen Sie ihn adoptieren? Geben Sie mir Ihre Personalien, dann können Sie ihn mitnehmen. Wir packen Ihnen den Mann auch ein …
Ich: Darüber können Sie nicht verfügen …
Polizist Forsch: Ich will nicht über Sie verfügen, aber er scheint Ihnen ja ans Herz gewachsen zu sein …
Ich: Ich meine, Sie können nicht über ihn verfügen.
Polizist Forsch (winkt ab): Auf geht’s!
Polizist Feige (grinst und schweigt. Folgt seinem Kollegen).
Hannover, zu Saturn am Bahnhof. Nee, Asus ist ausverkauft. InsHotel Maritim am Friedrichswall. Wie, es ist kein Zimmer für mich gebucht? Nur ruhig, alles kein Problem. Bitte sehr, Nummer 905, neunter Stock. Danke. Fernsehen. Sturmartige Böen. Hochwasser. Schlingensief operiert. Rote Rosen wird fortgesetzt. Noch keine neue Regierung in Hessen. Abends in die BuchhandlungLeuenhagen & Paris. Nett, voll, guter spanischer Wein.
Freitag: Drehe eine Runde um den Maschteich, fotografiere ein paar Bäume, bis ich merke, dass heute nicht die Bäume schön sind, sondern die Schatten, die sie werfen. Ins Landesmuseum, wo es einen Raum gibt voller dicker, schwellender Corinths, und zum ersten Mal fällt mir auf, wie viel Lucian Freud hier gelernt hat. Danach habe ich schon gar keine rechte Lust mehr auf die anämischen Niedlichkeiten von Modersohn und Modersohn-Becker, die sämtlich so bäurisch-einfältig, so sturmfest, antizivilisatorisch und erdverwachsen sind … Aber nein, auch hier gibt es ein paar Schätze, wie das frühe Porträt gleich am Eingang, ein paar fahle Landschaften, die nichts feiern oder zeigen wollen, sondern einfach da sind …
Dann ins Sprengel-Museum, das überhaupt das schönste Ausstellungshaus ist, das ich kenne, offen, licht, freundlich. Und die Sammlung ist das reine Glück, ein kompletter Überblick über alle Facetten der Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts. Wenn die Welt so wäre wie dieses Museum … Und eigentlich möchte ich gar nicht wieder gehen, weil ich weiß, wenn ich draußen bin, hab ich sofort den Wunsch, eine neue Runde zu drehen. Und so ist es dann auch.
In den Zug, Regionalbahn nach Alfeld an der Leine. Der Weg zum Hotel Elbe nimmt kein Ende, und als ich endlich ankomme, ist alles verschlossen, ich klingele, klopfe, sehe schließlich den Zettel: Herr Altenburg, geben Sie bitten den Code ein … Die Lesung findet nicht, wie angekündigt, im Gymnasium statt, sondern in den Fagus-Werken. Wieder kein Mikrofon! Aber im Vertrag steht doch … Dann erst erfahre ich, wo ich hier bin: an der Geburtsstätte des Bauhauses. Denn die Fagus-Werke waren der erste größere Auftrag, den Walter Gropius 1911 als nicht mal dreißigjähriger Architekt ausgeführt hat. Zutiefst versöhnt.
Samstag: Zurück mit dem IC. Als wir die Stadtgrenze von Frankfurt erreichen, fange ich an, den Messeturm zu fotografieren … Dann, endlich: Wieder zuhause. Kleine Runde mit dem Rennrad. Wanne. Und abends die Präsentation in der Nationalbibliothek.
Sonntag: Spaziergang durch den verschneiten Taunus. Später erschöpft in die Kissen. Was schon lange nicht mehr passiert ist: Gleich zwei gute Texte im Spiegel – der eine von Salomon Korn über Martin Walser, der andere von Malte Herwig über Enzensberger.
Tot ist mal wieder Alex Harvey.