Freitag, 28. März 2008 – Zwöfluhrzehn, elfkommafünf. Gerade guckt die Sonne mal. Soll richtig warm werden.
Die Vogelkirsche ist gekommen.
Der französische Serienmörder Michel Fourniret hält zum Auftakt seines Prozesses ein Schild hoch: “Sans huis clos, bouche cousue” (“Ohne Ausschluss der Öffentlichkeit bleibe ich stumm”). Als Antwort auf die Fragen des Richters nickt er entweder oder schüttelt den Kopf. Neun Morde hat Fourniret zugegeben, für zahlreiche weitere kommt er nach Ansicht der Ermittler in Frage.
Man nennt sie das “Phantom”, ihre Identität ist unbekannt, nicht so ihre DNA. Spuren davon wurden 1993 bei einer ermordeten Rentnerin in Idar-Oberstein gefunden, 2003 bei einem ebenfalls ermordeten Rentner in Freiburg, darüber hinaus an weiteren Tatorten in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Österreich und Frankreich. Genetisches Material der Unbekannten wurde vor einem Jahr ebenfalls sichergestellt nach dem mysteriösen Anschlag in Heilbronn, bei dem eine Polizistin getötet wurde und ihr Kollege schwer verletzt überlebte. Dieser kann sich an die Tat nicht mehr erinnern.
Andere Zeit, anderer Ort: Im Februar diesen Jahres wurden nördlich von Mannheim drei tote Georgier aus einem Altarm des Rheins geborgen. Zwei waren erschossen worden, einem hatte man “die Luftzufuhr abgeschnitten”. Als tatverdächtig in Haft genommen wurde kurz darauf Talip O., ein V-Mann des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamtes. Gestern wurde bekannt, das in seinem weißen Ford Escort, den ihm die Polizei zur Verfügung gestellt hatte, ebenfalls Spuren des “Phantoms” entdeckt wurden.
Auf Spiegel online berichtet Oliver Becker von einer neuen Spur im Fall Tristan Brübach, der am 26.März 1998 in Frankfurt Hoechst ermordet wurde. Gesucht werde nach einem Mann mit Pferdeschwanz und vernarbter Oberlippe. Ein solcher Mann war von einer 14-jährigen Zeugin in der Nähe des Tatortes gesehen worden. Zwei Anwaltsgehilfinnen hatten bei einer Befragung angegeben, das sich bei ihnen kurz nach der Tat ein Mann gemeldet habe, auf den diese Beschreibung ebenfalls passe. Was an dieser Spur neu sein soll, schreibt Spiegel online allerdings nicht.
Tot sind heute viele. Auch Ewald Mataré.
Donnerstag, 27. März 2008 – Zehnuhrfünfzig, achtkommacht. Grau.
Heute vor sechs Jahren ist Matthias Beltz gestorben. Und fehlt und fehlt und fehlt …
Mittwoch, 26. März 2008 – Neunuhrvierundzwanzig, zweikommaacht. Weiß. Müde.
Gestern Morgen in die Baumschule nach Bruchköbel, große Vogelkirsche gekauft. Dann endlich in die Schirn zu den Impressionistinnen. Viel mindere Qualität, Süßlichkeiten, Betulichkeiten, Unfertiges. Näher an Monet und Renoir als an Degas und Manet. Vieles, was in kein Museum dieser Welt gehört. Aber auch hinreißende Einzelstücke, die Wäscheleinen von Berthe Morisot, die kleinen Blumenvasen von Marie Bracquemond. Und die Entdeckung: Eva Gonzales – Von ihr leider eine allzu kleine Auswahl, aber immerhin das schöne Logenbild, das es mit den besten Manets aufnehmen kann. Und das Erwachende Mädchen – ach …
Kleine Tour an die Ränder von Eschersheim, Frankfurter Berg, Preungesheim, Berkersheim. Wahrhaftig, hier ist man schnell an allen Rändern.
Abends auf arte Steven Sebrings “Dream of Life” über die supersympathische Hippiehexe Patti Smith. Die Schlichtheit ihrer Texte ist oft kaum zu unterbieten (oder sagt man: zu überbieten?). Was sie so von sich gibt, geht kaum hinaus über den alten Baudelaire-Rimbaud-Kerouac-Ginsberg-Muff. Aber wenn sie anfängt zu schlendern, zu stolzieren, zu stolpern, zu tanzen, gar zu singen, gehe ich sofort in die Knie. Aus jedem noch so doofen Reim macht sie … ja, jetzt muß es mal raus: große Kunst. Und gerade habe ich das Gefühl, in Kürze tot umzufallen, wenn ich nicht herausbekomme, was das für ein Reggae war, den sie im Abspann gesungen hat … Du Mitmensch, draußen im Lande, hilf!
Die Toten sind mir heute mal egal.
Dienstag, 25. März 2008 – Sechsuhrsechsundfünfzig, nullkommasechs. Weiße Welt.
Von Professor Martin Lücker ein Brief, ob ich Lust hätte, in der Veranstaltungsreihe “Mein Lieblingsstück” in der Alten Oper aufzutreten. Das heißt, ich darf mir ein Werk wünschen, welches dann von den Musikern einstudiert und später vor Publikum aufgeführt wird. Dazu ein öffentliches Gespräch … Ehrlich gesagt: Nichts lieber als das!
Und dann auch noch von Christof eine Mail, ob ich nicht Spaß und Zeit hätte, eine Kolumne zu schreiben mit dem Titel “Die Platte, die mein Leben verändert hat” …
Die Sonnenblumen von Hünten gestern sind mir entwischt. Mal sehen, ob ich heute Abend mutiger bin.
Lektüre: Miles Corwin, Homicide Special – A Year with the LAPD’s Elite Detective Unit.
Novalis ist tot.
Ostermontag, 24. März 2008 – Vierzehnuhrsiebenundzwanzig, dreikommavier. Schnee. Gerade durchgefroren von einer kleinen Tour zurück.
Donnerstag über Kassel nach Ziallerns. Wind, Regen. Abends zeigt Jens in der Werkstatt seine Sammlung selbstgemachter Messer. Freitags Wind, Regen. Nachmittags Tour nach Wittmund. Samstags mit dem Wagen nach Emden. Unterwegs Matratzenoutlets, Autoteile Unger, Sexläden, Landpuffs, Imbissstuben, Muffbuden. In die Kunsthalle, Sonderausstellung “Garten Eden”. Drei schöne Liebermanns. Zwei Abstrakte: Cecily Brown “Canopy” und Piero Dorazio “I Gardini di Pogo”. In der Stadt lauter russische Matrosen. Schulkreide, das Pfund für 4 Euro. Bei C&A gibt’s auch keine gescheiten T-Shirts, alles Ramsch. – Hätt ich Dir gleich sagen können. – Ja, danke. Abends Osterfeuer, windig, kalt. Sonntags blauer Himmel, um halbacht wieder kleine Tour, keine Autos, keine Menschen, nur paar Reiher, Hasen, Fasane und über allem kreisend: die dicken Greifer. Das Wasser in den Schloten ist gefroren. Frühstück, ins Auto, retour über Oldenburg, Osnabrück. Kurz vor Bielefeld Landhotel Quellental. “Seit 600 Jahren in Familienbesitz”, sagt der Kellner. Er selbst: “Seit 30 Jahren hier zu Diensten.” Weiter. Rundum Schnee.
Und eben, im Netz, diese Nachricht: Ein Unbekannter hat von einer Autobahnbrücke nahe Oldenburg einen Holzklotz geworfen und damit eine 33-jährige Beifahrerin im Auto vor den Augen ihrer Familie getötet. Der 36 Jahre alte Ehemann und die beiden Kinder im Alter von sieben und neun Jahren blieben unverletzt, erlitten aber einen schweren Schock, wie die Polizei Oldenburg am Montag mitteilte. Der Täter flüchtete unerkannt. Nach ihm wird wegen Mordes gefahndet.Die vierköpfige Familie befand sich den Angaben zufolge mit ihrem Auto gegen 20.00 Uhr auf der A29 zwischen dem Autobahnkreuz Nord und der Abfahrt Ohmstede, als plötzlich ein Holzklotz die Windschutzscheibe des Wagens in Höhe der Beifahrerseite durchschlug. Die Mutter wurde von dem Klotz getroffen und erlag noch an Ort und Stelle ihren schweren Verletzungen. Ihr Mann und ihre Kinder wurden vom Roten Kreuz betreut und nach Hause gefahren. Die Familie stammt aus Warendorf in Westfalen.Die Polizei ermittelt mit Hochdruck und bildete eine Mordkommission mit zunächst 14 Beamten. Bei Bedarf könne diese Zahl erhöht werden, sagte Sprecher Sascha Weiß. Noch am Abend stellten Polizisten die Personalien unter anderem von Teilnehmern nahe gelegener Osterfeuer fest.
Heute vor 104 Jahren starb in Paris Emma Herwegh.
Donnerstag, 20. März 2008 – Siebenuhrzehn. Dreikommaeins. Hübscher Himmel.
Geräusche am Morgen: Draußen Vögel. Die Heizung springt an. Das Surren auf dem Asphalt der nahen Autobahn. Ein Martinshorn. Der Wecker piepst. Ein Rolladen wird hochgezogen. Hupen. Eine Autotür wird zugeschlagen. Der Motor wird angelassen. Ein Baufahrzeug fährt vorüber. Die Sittiche werden wach. Irgendwas knackt. Ein Kind ruft. Es klingelt. Kinderstimmen. Quietschende Fahrradbremsen. Leises Lachen. Die Haustür wird geschlossen. Der Wasserhahn wird aufgedreht. Die Toilettenspülung. Der Rettungshubschrauber startet. Noch ein Martinshorn. Ein Flugzeug. Der Müllwagen kommt. Das Rumpeln der Tonnen. Radio. Die Dusche. Gähnen. Kleiderrascheln. Die Espressomaschine. Der Gasherd zischt. Kaffeetassen. Bestecke klappern. Das Telefon. Der Rechner läuft hoch. Schritte. Na, dann, bis heute Abend. Wieder die Haustür. Kurze Stille. Bis später.
Tot ist der furchtbare Arzt Alfred Ploetz, Erfinder des Begriffs “Rassenhygiene”.
Dienstag, 18. März 2008 – Dreizehnuhrdreiundfünfzig, achtkommanull. Bläulichgräulich.
Die dicke Beckmann-Biografie ist gekommen. Stephan Reimerz, der Autor, bedenkt in seiner Danksagung auch das Max-Beckmann-Archiv der Washington University in St. Louis: “Ich war dort seit sieben Jahren der erste Besucher”, schreibt er.
Und, Rainer K., wie finde ich Dich? Deine alte Mail will mich nicht mehr. Nur der Dämon antwortet mir. Schreib mal hier: news@janseghers.de
Tot ist Tamara de Lempicka – eine der fürchterlichsten Malerinnen des vorigen Jahrhunderts.
Montag, 17. März 2008 – Fünfuhrachtundfünfzig, fünfkommavier Grad. Wind, Regen.
Es klingelt an der Tür. Ein dicker Mann streckt mir einen kleinen Karton entgegen. Die erste Nummer von “069” ist gekommen. Bin ganz zappelig, so schön ist das Heft geworden. Nur das Papier muss etwas dicker und weniger glänzig werden. Abends Billy Wilders “Appartement”. Gegen Ende doch wieder eingeschlafen.
Am Samstagmorgen zwischen fünf und acht Uhr Tim Krabbés “Das goldene Ei” gelesen. Gut geschrieben, blöde Geschichte. Später Tour durch die Stadt. Messeturm fotografiert. Der erste Zitronenfalter. Abends in die Rhön.
Gestern Vormittag kleiner Ritt von Poppenhausen zur Wasserkuppe. Oben spitzer Schneeregen. Fotografieren. Über Gersfeld, Schachen, Schwarzerden zurück.
Abends dann in den dicken Beckmann-Katalogen.
Häme ist eigentlich immer Ausdruck einer Sklavenhaltung. Häme ist das kleine, giftige Glück der Zukurzgekommenen. Sehr verbreitet.
Heute vor achtzehn Jahren stürzte sich die Schauspielerin Germaine Lefebvre, die sich Capucine nannte, aus ihrer Wohnung im achten Stock eines Hochhauses in Lausanne.
Freitag, 14. März 2008– Sechsuhracht, siebenkommaeins. Seit kurz vor drei wach und gleich das Geräusch des Regens …
Dienstag. Mannheim, Tiefgarage Cinemaxx, Holiday Inn. Kober heißt jetzt Thalia. Die bislang am schlechtesten besuchte Lesung. Aber als ich schon angefangen habe und kurz hochschaue, sitzen dort Alex und Alex, die einander nicht kennen … und bin grinsend erleichtert, weil ich nun nicht übergangslos ins Elend des Hotelzimmers muss. Vor dem Einschlafen ein wenig in Pozzis Tagebüchern: “Ich schreibe, um nicht zu sterben vor Einsamkeit.”
Mittwoch. Morgens in die Kunsthalle. Leer. Aber kaum betrete ich einen Raum, steht hinter mir schon wieder so ein blauer Museumswächter, kaut verstohlen auf seinem Frühstücksbrot und verfolgt mich, bis ich seinen Zuständigkeitsbereich verlasse … Cartier-Bressons frühe Fotografien. Langweilige 50er-Jahre-Abstrakte. Verhungerte Skulpturen. Sowas von tot. Suche den großen Manet. Hängt ja alles durcheinander hier. Soll wohl was bedeuten. Schnell in den Altbau, wo Gustav Friedrich Hartlaub noch gegenwärtig zu sein scheint, der 1925 hier die erste Ausstellung mit dem Titel “Neue Sachlichkeit” eröffnete, die dann der ganzen Richtung ihren schönen Namen gab.
Hans Meyboden: Blumen vor grauer Wand; Liebermann: Selbstbildnis (1918); Slevogt: Parforcereiterin (1906); Grosz: Max Hermann-Neiße (1925); Kirchner: Gelbes Engelufer (1912); Beckmann: Herbert Tannenbaum geht nach Amerika (1947); Corinth: Nach dem Bade (1910); Corinth: Stilleben mit Schinken (1917); Dix: Die Irrsinnige.
Was soll ich machen? Um 15 Uhr bin ich in Walldorf, durch das der Wind geht, über dem die Wolken ziehen. Hauptstraße, Bahnhofstraße, City-Grill, Boutiquen, Wellness-Studios, putzig, paar Trinker, paar türkische Jungs. Die hübsche Wand eines Abrisshauses. Wird geknipst. Rund um das Städtchen ist alles SAP. Gespenstisch. Auf 14.000 Einwohner kommen noch mal so viele SAP-Mitarbeiter. Die Lesung beginnt um 20 Uhr; ich bin fünf Stunden zu früh. Was soll man machen in Walldorf? Fünf Stunden lang? Ich gehe in ein Café, bin der einzige Gast. Der Wirt, ein kräftiger, junger Italiener, schaut finster. Natürlich kann ich einen doppelten Espresso Macchiato bekommen, dafür ist er schließlich da. Er ist schroff, gelangweilt, schlecht gelaunt, weil sein Laden nicht läuft. Zwei dicke Einheimische kommen, setzen sich an den Tresen, unterhalten sich mit dem Wirt. Dieser wahnsinnige Dialekt hier. Ich verstehe nichts … so ist es besser. Abends ungemein nette, gut besuchte Lesung in der schönen Stadtbibliothek. Anschließend allein ins Ristorante Riviera, Kalbssteak, wieder italienische Rotzer, gutes Essen, schlechter Wein, zu teuer. Hotel.
Donnerstag. Signierstunde im Frankfurter Kaufhof. Man hat eine Art Thron aufgebaut, der flankiert wird von zwei jungen türkischen Securitymännern … Mit drei Tüten voller Rotwein nach Hause. Nachruf eines der beiden Gorillas: “Kannst du schön schlucken, hä …”
Warum scheue ich mich, einfach hinzuschreiben “Karl Marx ist tot”? Weil es so fett klingen würde, oder? Aber tot ist er doch.
Dienstag, 11. März 2008 – Achtuhrfünfundfünfzig, achtkommasechs. Windig, wolkig.
Gestern Alte Oper. Schütteres Abonenntenpublikum. Man kennt sich, scherzt, gerne hessisch. Das Dänische Nationalorchester unter Thomas Dausgaard. Gott, ist dieser Mann riesig. Largo como un dia sin pan. Unwillkürlich fällt mir das Wort Knäckebrot-Gardiner ein. Ja, albern. Irgendwas von Nielsen, mmh. Dann Elgars Cellokonzert in e-Moll mit Truls Mork. Ich schlafe ein, wache wieder auf. Angeblich Kriegsmusik. Verstehe ich nicht. Pause, zwei Bier. Dann die Vierte von Brahms. Schon hübsch. Zugaben. Tiefgarage. Nachhause. Todmüde.
In Rainalds Blog die Beschreibung einer Szene wie aus einem Balzac-Roman: Joschka Fischer betritt die Eingangshalle der Berliner Akademie der Künste, niemand begrüßt, keiner beachtet ihn, was den ehemaligen Aussenminister zunächst irritiert, dann mehr und mehr aufbringt, schließlich hysterisch werden läßt. “Joschka Fischer ist noch nicht einmal in der Lage, einen ganz normalen öffentlichen Veranstaltungsraum wie ein normaler Mensch zu betreten, sich da zu orientieren und situationsadäquate Schlussfolgerungen für das eigene Auftreten daraus zu ziehen.”
Das anhaltende Bedürfnis, mal irgendwas Schnelles, Direktes, Kurzschlüssiges zu schreiben. Das Keyboard an die Nerven anschließen. Ohne zu überlegen. Raus damit. 120 Seiten … ungefiltert, rücksichtslos …
Lektüre: Roger Willemsens alte Reportage über seine Begegnung mit dem japanischen Mörder Issei Sagawa, der im Juni 1981 in Paris die holländische Studentin Renée Hartevelt mit einem Gewehr hinterrücks erschossen, dann vier Tage mit seinem Opfer in einem Zimmer verbracht und Teile des Leichnams verspeist hat.
Catherine Pozzis Tagebücher sind gekommen.
Hansjörg Martin ist tot. Seit neun Jahren.
Samstag, 8. März 2008 – Siebenuhrdreißig, sechskommasechs. Nass.
Vorgestern: am Vormittag nervöses Hin- und Hergemaile wegen der Aufnahme von “Ein kleiner Abend Glück”. Endlich gestehen wir uns ein, dass wir das Mastering alle unbefriedigend finden und eine andere Lösung finden müssen. Aber welche, verdammt … Keine Zeit …
Dann nach Butzbach ins Gefängnis – Sicherheitsstufe I. “Sie sind der Herr Altenburg”, sagt der Mann an der Hauptpforte in seiner Panzerglaskabine, bevor ich mich noch vorgestellt habe. “Woher wissen Sie?” – Er grinst: “Wir wissen so etwas.” Dann kommt mir eine Schublade entgegen, in die ich Personalausweis, Schlüssel und die Ixus legen muss. In der Sicherheitsschleuse werde ich abgescannt. Sascha Feuchert sitzt schon verloren in dem öden Warteraum. Wahrscheinlich wirkt hier jeder sofort wie ein armer Sünder. Rote Plastikstühle. Quäkender Lautsprecher irgendwo oben an der Wand. Über den Hof in die “Kathedrale des Verbrechens”, wie Götz sagt, der uns abholt. Im Büro habe er ein Päckchen für mich. Heute morgen sei ein Taxi vor seiner Haustür vorgefahren, Uwe L. sei ausgestiegen und habe ihm einen Umschlag für mich überreicht. Jetzt fummele ich an dem Päckchen herum, habe es schließlich geöffnet, schaue hinein – mein Herz macht einen Freudensprung – und ziehe hervor: eine Magnum-Tüte mit Schulkreide-Lakritz, über die ich mich sofort hermache. Längeres Gespräch mit Götz, ein Schwall interessanter Geschichten, und ich möchte fragen, saugen, fragen. Kurzer Blick in die Kirche und in die Bibliothek. Dann in den Zellentrakt, Häftlinge auf den Gängen, vierschrötig, lungernd, lauernd, in die Zelle von Herrn Fuchs, längeres Gespräch, zurück, dann Lesung vor zwanzig Häftlingen, hinterher Gespräch, alles sehr konzentriert, direkt, selbstironisch, manchmal bitter – und so unverstellt, wie ich es noch kaum je erlebt habe. Beherrschender Eindruck: die Schließgeräusche, das Schlagen der Metalltüren, der Hall in den Gängen des Zellentraktes, die verstohlenen Blicke, das Lauern.
Dann Restaurant Seoul, bißchen durch die dunkle Butzbacher Innenstadt, tote Amsel fotografiert und das Heim des “Butzbacher Rauchervereins”. Lesung in der Buchhandlung Bindernagel. Alles prima, nur die Lautsprecheranlage fällt dauernd aus, und ich muss ohne Mikrofon vor hundertdreißig Leuten lesen. Auf der Heimfahrt immer wieder Griff auf den dunklen Beifahrersitz, wo die Tüte mit Lakritz …
Gestern nochmal kurz Butzbach. Gebe an der Gefängnispforte einen Karton Bücher für die Bibliothek ab. Dann weiter nach Alsfeld. Tappe durch die vollkommen leere Altstadt. Suche eine Dönerbude. Nichts, alles zu, niemand auf der Straße. Aber, fast unglaublich, das Glockenspiel der Kirche spielt mit einem widerlichen Geklimper “Der Mond ist aufgegangen”. Die Vernichtung von Schönheit durch Travestie. Lesung im Amtsgericht. Wieder kein Mikrofon. Wieder hundertdreißig Leute. Völlig perforiert auf die Autobahn, nach Hause.
Tot ist Joe DiMaggio.
Donnerstag, 6. März 2008 – Achtuhrneun, nullkommafünf. Schlieriger Himmel.
Vor ein paar Tagen die freundliche Dame am Eingang des Veranstaltungsraumes: “Guten Tag, ich bin Ihre persönliche Betreuerin, wir hatten bereits Kontakt …” Allerdings, das hatten wir. So oft hat sie mich angerufen, mir gemailt, mich zu Reaktionen und Entscheidungen gezwungen, welchen Tisch, welches Wasser, welche Beleuchtung, welche Schnittchen ich wünsche, dass ich längst den Eindruck hatte, siesei es, die von mir betreut werden wolle …
Gestern mit Jürgen zur Eröffnung der Tagebuch-Ausstellung im “Museum für Kommunikation”. Immer, wenn ich Eva Demski sehe, werde ich ruhiger, freundlicher, konzentrierter. Sie: “Hier laufen ja nur Nervenbündel rum.” Stimmt schon, alle sind ein bißchen fahrig, aufgekratzt, wie auf Koks. Aber eigentlich eine gute Stimmung: Gespanntheit, High, Erwartung, nahende Befriedigung.
Während wir vortragen, habe ich wieder den Eindruck: das geht nicht, das funktioniert nicht, das erreicht niemanden. Ich kann die “Geisterbahn” schreiben, man kann sie lesen, aber daraus in einer öffentlichen Veranstaltung vorlesen – nee! Natürlich sagt einem das hinterher keiner, alle lächeln, sind freundlich …
Dann durch die Ausstellung. Großes Glücksgefühl. Endlich ist das da! Endlich hat man es mal an einem Platz versammelt! Tausend wispernde Stimmen.
Trotzdem auch gespenstisch – wie schnell das alles akademisiert, historisiert und musealisiert wird. Auf den Begriff gebracht, erstarrt. Und sofort der Impuls, Platz zu schaffen, Bewegung zu erzeugen, das ganze Haus auf der Stelle niederzubrennen! Und von vorne zu beginnen …
Heute vor einem Jahr starb Baudrillard.
Dienstag, 4. März 2007 – Elfuhrzweiundfünfzig, dreikommasieben. Grau. Schneeregen. Immer noch nicht wach.
Was für ein Licht das gestern am frühen Abend war … der beleuchtete Fernsehturm schwebt wie ein Ufo über den nassen Dächern des Dichterviertels. Und ich Depp hab die Kamera nicht dabei.
Noch vor dem Aufwachen kündigt der Hessische Rundfunk an: Das “hr Lunchkonzert – Mit Lust und Perfektion. Es spielt das Tecchler Trio – anschließend Buffet: Lust auf Frühling.” Und man fragt sich, in welchen Kellern des Zeitgeistes solche Moderationen entstehen. Noch einmal “Llllust” und ich schreib “doof” an die Wand des Sendesaals!
Noch im Negligé die Tür geöffnet. Die Post. Bringt den dicken Band über die “Impressionistinnen”. Und ich, statt mir die Gnade des ersten Blicks für den Ausstellungsbesuch zu bewahren, reiße wie ein Verhungernder die Plastikfolie auf, wälze mich durch den prächtigen Wälzer – und habe den Stand der Unschuld auch diesen Bildern gegenüber unwiederbringlich verloren.
Was ich herbeisehne: Einen lässigen Frühlingsmorgen, entspannt, nichts zu tun und so sehr bei mir, dass ich die Fenster öffnen und mal wieder laut ein paar alte Schlager hören möchte.
In einem Text des Kunstkritikers Manfred Schwarz über René Magritte: “Jeder spielt nur seine eigene Rolle, das hat er immer wieder erklärt: also keine.” Man könnte ins Grübeln kommen.
Quote of the day: “Evangelisches Catering”. Kann eine Drohung schrecklicher sein?
Heute vor vierundsechzig Jahren wurde Louis “Lepke” Buchalter im Gefängnis Sing-Sing hingerichtet.