Geisterbahn

Donnerstag, 29. Mai 2008 – Neunuhrundsieben, vierundzwanzigkommfünf  Grad. Bedeckt. Laut.

Gestern Abend unter dicken Gewitterwolken in schwülster Schwüle auf dem Rad in die Stadt – im schwarzen Jackett und mit schwarzen Lederschühchen. Um den Hals das schwere Abus-Kettenschloss, das eigentlich für Motorräder bestimmt ist, das ich aber, nachdem man mir das zweite gute Rad gestohlen hat … In die Neue Mainzer Straße, wo im Kundenzentrum der Frankfurter Sparkasse das Stadtgespräch der Rundschau stattfindet: “Frankfurt 2030 – Leitbilder für eine Metropole im Aufbruch”. Verdammt, auf was hab ich mich nur eingelassen? Schon, dass man mit diesen blöden Headsets verkabelt wird … Wirkt wie RTL in den frühen Neunzigern … Dr. Michael Denkel, Stadtplaner des Büros Speer & Partner, sitzt neben mir und spricht. Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, dass er alles, was er da von sich gibt, völlig ernst meint. “Global City … Global Player … High Potentials … Green City …” Sein Unternehmen arbeitet im Auftrag der Oberbürgermeisterin an einem Gutachten, das herausfinden soll, wie Frankfurt weiter “eine prosperierende Stadt” und damit “international wettbewerbsfähig” bleiben kann. Aber ein Drittel von dem, was er sagt, ist banal, das nächste Drittel Bluff und das letzte schlicht falsch – vorgetragen das Ganze in einer durchweg imperialen Einschüchterungssprache. Aber einen Slogan hat man schon: “Frankfurt für alle”! Allerdings stellt sich rasch heraus, dass es nicht um alle, sondern um die Vertreter jener so genannten “kreativen Eliten” geht, die man in die Stadt zu locken und an sie binden will, weil sie sonst “wie scheue Rehe um den Erdball nomadisieren”. Als sei die Stadt nicht jetzt schon voll mit diesen hoch bezahlten, bindungslosen Krücken, die jede Gegend versauen, sich in ihren Parallelwelten verschanzen und mit ihrer brachialen, aber stets solventen Dummheit noch immer dafür sorgen, dass das kulturelle Niveau sich weiter in Richtung Puff und Pop bewegt. 

Meine Sehnsucht für ein Frankfurt der Zukunft will man wissen … Nun ja, wenn ich vier Wünsche frei hätte …
1. Dass die Innenstadt autofrei wird.
2. Dass das Euro-Symbol vor der EZB gesprengt wird.
3. Dass auf der A 661 wieder Heidschnucken weiden.
4. Dass Matthias Beltz wiederaufersteht.

Die Banken, heißt es in der Diskussion immer wieder …, neben den sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Bevölkerung müsse man in dieser Stadt unbedingt und stets die Bedürfnisse der Banken im Blick behalten. Als ich frage, für was man Banken eigentlich braucht, kann mir niemand eine Antwort geben. 

Jeff Buckley ist tot. 

 Freitag, 23. Mai 2008 – Fünfuhrunddrei, zehnkommadrei Grad. Dämmerig, bewölkt.

Am Mittwoch in Götzenhain. Erst als ich dort ankomme, erinnere ich mich, dass es dieselbe Kneipe ist, in der ich vor zwanzig Jahren immer mal war: der “Hofgarten”. Gehört den Hs., die ich jetzt direkt gegenüber in ihrer alten, umgebauten Hofreite besuche. H. erzählt, dass er nicht nur die M. gekannt habe. Seine Mutter sei  Malerin gewesen, habe sich aber am Frankfurter Schauspielhaus etwas hinzu verdient. Sie sei gelegentlich zum Tennisspielen ins Frankfurter Luftbad e.V. in der Friedlebenstraße in Eschersheim gegangen, wo er, H., ein wenig als Balljunge gearbeitet habe. Dort habe es eine Liegewiese gegeben, wo man sich nackt habe sonnen können – Männer und Frauen getrennt. Eine Kundin des Vereins sei auch Rosemarie Nitribitt gewesen. Tiere allerdings hätten dort nicht mit hinein gedurft, weshalb die Nitribitt öfters ihn gebeten habe, ihren Pudel auszuführen.  

Gestern früh Treffen an der Friedberger Warte. Ati hat verschlafen, Kevin hat verschlafen, Frost hat den Zug verpasst. Kalt ist es trotzdem. Viele Leute sind da, die ich noch nie gesehen habe. Einer von ihnen, J., ist Schuhmacher. In seiner Werkstatt an der Friedberger Landstraße fertigt er Schuhe nach Maß. Interessiert mich sofort. Ich nenne ihn Meister Gepetto, aber Paula klärt mich später auf: Gepetto war gar kein Schuhmacher, sondern Holzschnitzer. Egal, ist ein schöner Name. Jörg springt der Mantel von der Felge, eine Kette reißt, und ich hab kurz nach der Ronneburg einen Platten. Büdingen, viele Espressi, Tartufo Becher, heim, vorneweg immer wieder wie in alten Zeiten: Christoph als Lokomotive. Bin gespannt auf Jörgs Basso. Und auf mein Pinarello. 

Abends ins Bistro da Monica im Oeder Weg. Sieht ein bißchen aus wie ein billiges Campingplatz-Restaurant, aber das Essen ist wirklich … Was rede ich hier eigentlich …?

Tot ist Heinrich Himmler. Am 23. Mai 1945 zerbiss er in einem Verhörzimmer der britischen Militärpolizei in der Uelzener Straße 31 in Lüneburg eine eingeschmuggelte Kapsel mit Zyankali.

Donnerstag, 15. Mai 2008 – Sechsuhrundsieben, vierzehnkommaneun.

Das weiße Pferd ist weg. 

Eines der Worte, auf die ich reflexhaft anspringe: Schreiberling.

Was sind das für Gestalten, die in den Gästebüchern des Netzes anonym abladen, dann aber aus lauter Eitelkeit Spuren legen, auf dass man sie am Ende doch erkenne. 

Endlich das neue Album von Degenhardt gekauft: “Dreizehnbogen”. Gleich vier Mal hintereinander gehört. Das heißt, das Jahr hat seinen Höhepunkt erreicht. Dies kleine Glück muss langen für den Rest. So frei ist kaum ein anderer Geist wie dieser.

Zehnter Todestag des CSU-Poltikers Richard Jaeger, den man auch Kopf-ab-Jaeger nannte.

 

Freitag, 9. Mai 2008 – Fünfuhrdreiundfünfzig, Elfkommadrei Grad. Hell. Was für ein Lärm schon wieder …

Was von der Woche übrigbleibt: 

Montag – Morgens zu Herl in die Nordendstraße wegen Volkstheater. Mittags Treffen “beim Franz” im alten Literaturhaus mit Felix Fichtner von Odeon Film wegen “Ein Fall für zwei” etc.  Abends zum Bahnhof, hole Schimmel ab, bisschen kochen, bisschen dröhnen, bisschen trinken, bisschen sinken – schön. 

Dienstag – Frühstück mit Stefan, Einkauf, Schreibtisch, Garten, Post. Abends ins Volkstheater. Karlheinz Braun, Gisela Dahlem-Christ und Michael Quast stehen schon vor der Tür. Mit Herl auf die Bühne, lesen, reden, dröhnen. Hinterher zu viert zu einem Österreicher neben dem Café Karin. Man hätte ja nichts dagegen, wenn es nicht gleich wieder so fett, so breit, so ostentativ österreichisch daher käme … 

Mittwoch – In den Bus, in die U-Bahn, in den IC nach Stuttgart. Zu Fuß vom Bahnhof zum Hotel “Wirt am Berg” in der Gaisbergstraße. Was für ein Schuppen, was für ein Wirt – graue, lange Haare, Stirnglatze, Pferdeschwanz, immer zu einem schwäbischen Scherzchen aufgelegt. Mein Gott, diese ewige Treuherzigkeit … Zum Schriftstellerhaus in die Kanalstraße, ein schneller Pernod im Bistro, dann in die Buchhandlung Lindemanns, kein Mikrofon, also wieder Druck auf die Stimme geben. Schorlau ist aber doch noch gekommen. Später in sein wirklich gutes Stammlokal – Kotelett vom schwarzen, iberischen Schwein. Mit dem Boxter ins Hotel. Nächtliches Foto aus dem Fenster. So schön ist Stuttgart …

Donnerstag – Mit dem IC zurück. Weiter in Larssons “Verblendung”. Zu Hause ein Buch aus dem österreichischen Ares Verlag, Werner Bräuninger: “Ich wollte nicht daneben stehen” – Über Arno Breker, Ernst Jünger, Leni Riefenstahl etc. Die rechten Kulturrepräsentanten sollen exkulpiert werden. Mal genauer die Geschichte Richard Scheringers anschauen !!! In der “Zeit” das schwache Dossier über Rechtsradikalismus.  Rasenmähen, kochen, müde …

Todestag von Joseph Breitbach. Hat nicht Herburger mal erzählt, dass er Breitbachs Privatsekretär in Paris gewesen sei …? Alles längst vergessen.

20.31 Uhr: Das gibt’s nicht …. gerade sehe ich, dass auch Scheringer heute Todestag hat. 
 

Montag, 5. Mai 2008 – Sechsuhrvierundfünfzig, vierzehnkommavier. Hell. Sonne. Laut.

Traum. Ein belebter sonniger Sandstrand. Plötzlich Aufregung. Man sieht zwei furchterregende, ferkelgroße Hamster kopulieren. Dann beginnen sie einander gegenseitig aufzufressen. Schreiend laufen die Leute davon.
Als alles vorbei ist, bauen Fotografen und Filmer ihre Stative im Sand auf. Schließlich stehen auf ein paar Quadratmetern fünfzig, sechzig dieser dünnen Metallständer mit kleinen Kameras darauf. Die Objektive sind auf nichts gerichtet. Es geht wohl nur darum, die Schönheit der glänzenden, kleinen Geräte im Sonnenlicht zu zeigen. 

Gestern endlich mal wieder Ritzeltour. Nieder-Erlenbach, Marköbel, Altenstadt, Stammheim, Ilbenstadt, Burg-Gräfenrode. Sonne, alles blüht, der Raps, die Blumen, die Obstbäume … Zwei männliche Fasane. Jörg bringt Holunderbier. Alles in allem neunzig Kilometer, am Abend Sonnenbrand. Himbeeren einpflanzen, gießen … wässern …

Am 5. Mai 1949 starb der italienische Autorennfahrer Graf Carlo Felice Trossi im Alter von einundvierzig Jahren am Krebs.