Dienstag, 24. Juni 2008 –Zwölfuhrsechsundzwanzig, zweiundzwanzigkommafünf. Sonnige Sonne.
“Bonjour Tristesse” geschaut, “A bout de souffle” geschaut und gestern den Seberg-Text für Freddy Langers Anthologie geschrieben: “Frauen, die wir liebten”. Und gleich wieder diese ziehende Paris-Sehnsucht …
Auf dem Weg in den HR gemerkt, dass ich zu früh bin, kurz Halt auf dem Hauptfriedhof und für fünf versonnene Minuten unter dem riesigen Ahorn gesessen, die Sonne, die Vögel … und im Rücken das Grab von Jakob von Metzler. Dann in den Sender, um das Interview für den WDR aufzunehmen; die Moderatorin ist krank, die Redakteurin springt ein, halbe Stunde über Krimis und Serienhelden …
Urlaubsvorbereitungen in der Stadt: Einkäufe, Friseur, Merkzettel, aufräumen, putzen, Lektüre zusammen suchen, Mails nochmal durchschauen … und verdammt, jetzt brechen die Sünden über mich herein, noch Mal Steuer, telefonieren, telefonieren, Mails, Rechnungen, Post, Termine im letzten Moment noch einhalten … Entschuldigung, pardon, sorry, vergessen …
Lektüre: Simenon, “Die Verlobung des Monsieur Hire”.
Claude Chabrol wird achtundachtzig Jahre alt.
Donnerstag, 19. Juni 2008 – Zehnuhrvierzehn, fünfundzwanzigkommanull. Wolken.
Gestern in Seligenstadt in der Mainterrasse, heißt jetzt Ristorante Balducci. Voriges Jahr haben wir schon einmal vor dem Konzert hier gegessen und nachher monatelang davon geschwärmt. Damals saß uns gegenüber am Tisch diese alte, fast zahnlose Italienerin, mit der jeder Kellner im Vorbeigehen scherzte. Warum bin ich diesmal so mißtrauisch? Die alte Frau ist nicht mehr da. Draußen sitzen drei, vier große Gesellschaften. Betriebsausflug, Familienfeier, ein Altherrentrupp aus einer Studentenverbindung. Auf dem Tisch so ein bunter Aufsteller mit Fotos. Irgendwas ist anders: “Erleben Sie italienische Gastrofonie im Ristorante Balducci! Kulinarische und musikalische Darbietungen vom Chef des Hauses. Giuseppe Balducci ist ein beeindruckeneder Interpret und Künstler. Mit seinem Charme schafft er es immer wieder, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Mehr über Event & Catering sowie die Geschichte von Herrn Balducci finden Sie unter Balducci-online.” In was für eine Scheiße sind wir hier geraten? Der Vorspeisenteller heißt jetzt “Degustationsplatte Balducci” und ist ein völlig überteuerter Bluff. Dann kommt so ein Fussel aus der Küche, Gummihandschuhe, fahrige Gesten, lange Haare – der Koch, auch er: ein Künstler, was sonst. Rennt durch die Reihen der Gäste. “Isse alles inne Ordnung, bene, gutt?” Einer unseriöser hier als der andere. Dann das Hauptgericht. Kalbssteaks mit Artischockenherzen und Venuspilzen. Lauwarm, sehnig das Fleisch, ertränkt in einer Sauce aus Sahne und gekörnter Brühe. Zahlen, raus, weiterziehen!
Im Kreuzgang des Klosters das Henschelquartett. Was für ein unglaublich schöner Ort das hier ist. Die konzentrierten Gesichter im Publikum, das Licht, die wunderbaren Musiker. Ab und zu die Glocken der Klosterkirche, Geraschel, Hüsteln, ein Flugzeug drüberhin. Schostakowitschs siebtes Streichquartett. Sofort geht der Film im Kopf wieder los. Draußen in der Pause dann der große Hof, die Stockrosen, die Fassade der alten Mühle und der Name dieses Städtchens: Seligenstadt … Aber wann ihn drehen, diesen Film?
Tot ist Coluche.
Samstag, 14. Juni 2008 – Achtuhrnull, dreiunddreißigkommasieben Grad. Sonne.
Anfrage einer Agentur “Roessler PR”:
“… wir würden gerne Matthias Altenburg (Jan Seghers) als Testimonial in den
neuen GelbeSeiten für Frankfurt und Offenbach gewinnen, die im November
2008 erscheinen werden.
Im Hotel- und Gastronomie-Guide möchten wir Ihn mit einem Foto und einem
Zitat von Ihm gerne – selbstverständlich kostenfrei – nennen und
veröffentlichen.
Er wird dabei nicht der einzige sein, viele andere bekannte Frankfurter
sind bereits dabei.
Ein Beispiel, wie es aussehen könnte, finden Sie anbei – oder auch in
den aktuellen GelbeSeiten, die Ihnen sicher vorliegen oder wir Ihnen
auch gerne zusenden.
Wir stellen uns folgendes Zitat für Ihn vor:
“Wenn ich in meiner literarischen Verbrecherjagd eine Pause machen
möchte, gehe ich gerne aus. Ob Äppelwoi-Kneipe oder Persisch hängt ganz
von der Tagesverfassung ab. In Frankfurt hat man auch mal die
Möglichkeit experimentierfreudig zu sein.”
Falls Sie damit einverstanden sind, benötigen wir zum einen Ihre
schriftliche Zustimmung (E-Mail genügt) sowie ein Foto (digital, hohe
Auflösung 300 dpi) von Ihm, das wir in diesem Rahmen verwenden düfen.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung
Mit freundlichen Grüssen
Best Regards
Katharina Wolf”
Die Antwort:
“Sehr geehrte Frau Wolf, ich stelle mir vor, dass vor Ihnen eine Liste liegt mit den Namen so genannter bekannter Frankfurter. Ich stelle mir vor, dass Sie die Erfahrung gemacht haben, dass die meisten dieser so genannten bekannten Frankfurter bereit sind, sich vor Ihnen auf den Rücken zu legen, wenn ihr Name und ihr Gesicht einmal mehr in der Öffentlichkeit erscheinen. Dass diese so genannten bekannten Frankfurter Ihnen offensichtlich nicht nur “selbstverständlich kostenfrei” zu Diensten sind, sondern darüber hinaus froh sein könnten, Sie nicht auch noch bezahlen zu müssen, lässt auf einen Grad von Dummheit und Verkommenheit schließen, der mich zu der dringenden Bitte veranlasst, mich von dieser Liste der so genannten bekannten Frankfurter zu streichen.”
Manche Leute Stricher zu nennen, wäre eine Beleidigung für alle ehrlichen Stricher.
Tot ist Hans Poelzig.
Freitag, 13. Juni 2008 – Zehnuhrfünf, achtzehnkommafünf Grad, nach dem großen Regen.
Schon wieder so ein Pfiffikus, so ein Bescheidwisser, so ein Holzauge-sei-wachsam-Typ, der mir übers Autodach hinweg die Welt erklärt: Lassen Sie sich das schriftlich geben, sagt er. Nee Leute, sagt er, mit mir nicht, nicht mit mir. Ich hab das haarklein durchkalkuliert, sagt er. Da schreib ich an den Vorstand, sagt er, dann wollen wir doch mal sehen. Da müssen die sich einen anderen Dummen suchen, sagt er. In sämtlichen Tests …, sagt er, da könne man ihm nichts erzählen.
Na dann, sage ich, dann will ich mal wieder …
Gestern Viertel nach Vier auf die A 66. Zähflüssig. Stop-and-go. Alle wollen zur selben Zeit nach Hause, um das Spiel Deutschland gegen Kroatien zu sehen, nur ich muss lesen. Kurz vor Wiesbaden dann Stillstand. Um 17.15 Uhr ist die Abfahrt Erbenheim endlich erreicht. Um 17.45 Uhr soll ich in Mainz am Bootsanleger Fort Malakoff sein, wo das große Literaturschiff eine dreiviertel Stunde später ablegen wird. Um 18.10 Uhr habe ich den Ortseingang von Kastel erreicht. Schere kurz darauf aus der Autoschlange aus, fahre auf den Hof eines Getränkemarktes, verhandele mit einem dicken Säufer, der mir schließlich sein Handy leiht. “Stecke fest …, komme später …, ja.” Wieder ins Auto, wieder in die Schlange. Aber es geht nicht weiter. Also stelle ich den Wagen an einer Tankstelle ab, packe meine Tasche und renne los … durch Kastel, über die Rheinbrücke, an den grölenden Fans vor der Großleinwand vorbei, nach links, Rheingoldhalle, weiter …, weiter … Verschwitzt, durchnässt, aufgelöst komme ich um 18.40 Uhr an … Andrej Kurkow ist bereit, als Erster zu lesen. Danke. 350 Leute, aufmerksam, gut gelaunt. Deutschland hat verloren. Schön.
Todestag von Dean Reed.
Dienstag, 10. Juni 2008 – Siebenuhrneunundzwanzig, neunundzwanzigkommavier Grad. Gut, das liegt aber daran, dass der Temperaturnehmer in der Morgensonne liegt.
Inzwischen waren wir alle mal im Raucherzimmer der Stalburg, das man, so wie es ist, für alle Zeiten konservieren sollte – mitsamt seiner nikotinisierten Tapete, der Kunstledercouch und der kakeligen Palme im Senfeimer. Inzwischen habe ich den schönen Olmo-Rahmen abgeholt, inzwischen sind die meisten Teile bestellt, inzwischen habe ich mich mit Christian H. und Karl M. im Operncafé getroffen. Inzwischen ist die Steuererklärung abgegeben. Inzwischen lese ich noch immer in “Vergebung”. Inzwischen ist Rühmkorf gestorben. Inzwischen kam eine schöne Nachricht von Lothar R. Inzwischen sind 286 neue Mails gekommen. Inzwischen bitte ich um Generalablass für alle nicht beantworteten, vergessenen, nicht mehr einzeln beantwortbaren, im Orkus der Vergessenheit verschwundenen elektronischen Briefe.
Samstag den ganzen Tag Versammlung der Gesellschafter des Verlags der Autoren im Literaturhaus. Schweißtreibende Hitze. Dann Preisverleihung. Ich knipse und knipse und knipse, damit ich was zu tun habe. Draußen ist das Pinarello platt. Ich packe es in Annettes Wagen – dann in die Schleusenstraße in den Verlag. Rad flicken. Prima Essen, das wir Brigitte und ihren beiden schwulen Freunden zu verdanken haben. Dann keine Lust mehr auf Small-Talk, dann mich verdrückt, dann aufs geflickte Rad, dann vom nächtlichen Bahnhof aus den Messeturm fotografiert. Dann in die Innenstadt. Dann an der Hauptwache plötzlich Randale. Türkische Fans gegen eine kleine Polizeiarmee in Kampfanzügen. Flickerflacker der Blaulichter. Martinshörner. Lautsprecherdurchsagen. Ich knipse. “Ey Alter, bist Du Reporter oder was?” – Mmmh, na ja – “Voll peinlich, erstes Spiel verloren, schon gibt Zoff.” Dann nach Hause. Halbeins im Bett.
Sonntag klingelt der Wecker um halbsechs. Es ist wie: Stein auf den Kopf. Mit dem Schwarzen zum Bahnhof. Gipetto steht schon am Gleis, hat mir zwei selbstgemachte Lesezeichen aus Leder mitgebracht. Anderthalb Stunden später sind wir in Fulda-Petersberg, warten auf Tivo und Jörg. Dann los. Wie schön die Gegend, wie brutal die Steigungen. Irgendwann wissen wir nicht weiter, keine Schilder mehr, auf gut Pech fahren wir steil runter nach Dernbach, weil … Wohl einfach, weil es bergab geht. Ein freundlich-debiler Einwohner, die schicke neue Billigjeans bis unter die Brustwarzen gezogen, gibt uns unbeirrbar die wiederholte Auskunft, dass wir zurück müssen, umkehren, den Berg wieder hoch. Am Ortsausgang grinst uns vom Plakat ein überlebensgroßer Sohn des Kaffs an: Ronny Ackermann. Was für ein Schicksal … Am Boxberg will ich nichts anderes mehr, als halbwegs in Anstand sterben, aber Gipetto neben mir plaudert munter auf mich ein, zählt mir die Fehler aus der “Braut im Schnee” auf … Dann diese grinsenden Zwillinge in Langenberg, dann hoch nach … oh Gott – wie heißt das? – nach: Steinwand. Dann endlich runter nach Poppenhausen, zur Torte, zur Dusche, zum Glück.
Gestern vier Stunden mit dem HR-Team unterwegs: “Bilderbogen – Cafés in Hessen”. Lesecafé, dann Goetheturm, Goethe-Ruh, dann die alten Laufräder ausgespeicht, dann gekocht, dann die wunderschönen Campagnolo-Naben geputzt, dann bißchen Fußball, dann telefoniert, gemailt, ge… Was für vereierte Tage.
Fassbinder ist tot.
Montag, 2. Juni 2008 – Fünfuhrdreiundfünfzig, siebzehnkommaneun. Hell. Wird schön heute. Rauscht.
“Was ist nur mit Dir los, Du bist ständig dabei, die Fahrräder zu putzen?” – Ja, ich muss die Steuererklärung machen – “Ach so.”
Gestern Morgen kurz mit dem Pinarello ins Ostend, um die Ferdinand-Happ-Straße anzuschauen und diesen neuen Edeka-Scheck-In-Center, von dem B. sagt, dass er so etwas bisher nur aus Frankreich kannte. Aber rundum sieht es aus, als sei man auf der Rückseite der Welt. Zerbröselndes Mauerwerk, alte Fabrikgebäude, Laderampen, Unkraut, Brachen und auf der anderen Seite die Bahngleise. Wunderbarer Verrott.
Plötzlich riesiglauter Motorenlärm, ein Rennwagen kommt auf mich zugerast … und erst jetzt kapiere ich, dass hier irgend so eine blöde PS-Faschisten-Nummer läuft. Wenn der Typ die Kurve nicht gekriegt hätte, wäre ich …
Kurz nach Hause, Campagnolo-Jet-Laufräder in Rot mit Chorus-Naben ersteigert.
Wieder aufs Rad, über die Hanauer Land nach Alt-Fechenheim, über den Main, durch Rumpenheim und Bürgel nach Offenbach. Bisschen am Büsing-Palais auf der Bank bei den Trunkenbolden gelungert. “Sophie von La Roche war eine Dichterin der Empfindsamkeit” steht auf einem Schild …
Und abends geht dann die Sonne auf. Ich ersteigere den wunderschönen roten Olmo-Stahlrahmen, auf den ich mich sososo freue.
Heute vor 38 Jahren starb der Formel-1-Rennfahrer Bruce McLaren bei einem Unfall während einer Testfahrt. Was soll man dazu sagen?