Sonntag, 31. August 2008 – Vieruhrundsieben, vierzehnkommasechs Grad. Dunkel, laut. Seit halbdrei wach. Davor auch nur phasenweise und unruhig geschlafen.
Wenig Lust, Tagebuch zu schreiben. Warum? Weil mir der Alltag zu mickrig ist? Weil sich alles wiederholt? Weil sich keine Gedanken zu den Ereignissen einstellen wollen? Und wenn ich wirklich sage, über was ich im Moment nachdenke? Ob ich den Rahmen des Pinarello lackieren oder pulverbeschichten lasse, in welcher Farbe, mit welchen Decals …
Als arm gilt, wer von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben muss. Das sind 1,4 Millarden Menschen, und damit ein Viertel der Weltbevölkerung.
Für die Fotos ihrer neugeborenen Zwillinge haben Brad Pitt und Angelina Jolie den Rekordpreis von 14 Millionen Dollar erhalten.
“Der Duft eines Pfannkuchens bindet stärker an das Leben als alle philosophischen Argumente.” Ein Satz von Lichtenberg, den mir Rolf-Bernhard gerade geschickt hat.
Tot sind Tamara Bunke und Lady Di.
Montag, 25. August 2008 –Elfuhreinundfünfzig, einundzwanzigkommaacht, gut geschlafen, wolkig.
Samstag kleine Runde auf dem Olmo, um kurz nach zwei Jürgen abholen, auf die Autobahn, Köln, Irrfahrt durchs Severinsviertel, Parken in der Alteburger Straße, zu Fuß durch den Regen in die Dreikönigenstraße, “erinnert mich an Paris”, sagt Jürgen, zum Bürgerhaus Stollwerck, schöner Backsteinbau, trinken, essen, dann taucht Gernot auf, dann Peter, das Theater ist im fünften Stock, schweres Gewusel, alle ein bißchen nervös, aufgedreht, Guntram Freytag mit seinen Musikern kommt, Tonprobe, Lichtprobe, gehe nochmal runter, laufe Peter und Tanja in die Arme, Gott, wie schön, wenn man alle wieder sieht, ziellos plaudern kann, schnuppern, fragen, wie’s denn den anderen so geht, dann die Veranstaltung, alles gut, gegen 23 Uhr mit den Autos nach Mülheim in die Münsterer Straße, weiter am großen Küchentisch, halbzwei ins Bett, verdrücke im Halbschlaf noch eine halbe Tüte Sallos’ Schulkreide, gegen sieben Uhr aufstehen, Espresso, Peter kommt runter, zeigt stolz seinen kleinen Flitzer, einen Mazda MX5, dunkelgrün metallic, mit offenem Verdeck nach Dünnwald zum Brötchen holen, bisschen snobish das Ganze, aber lustig, Frühstück, Spaziergang usw. Wieder auf die Autobahn, nach Hause, noch eine kleine Runde, dann auf 3SAT das Ende einer Dokumentation über Werner Bräunig (sogar auf seinem Grabstein wurde sein Name falsch geschrieben: Bräuning; und 20 Jahre nach seinem frühen Tod wurde das Grab einfach eingeebnet). Man hört die schneidende Stimme Ulbrichts auf dem 11. Plenum des ZK der SED: “Haben das alle kapiert, Genossen?” Was für ein Riesenarschloch. “Rummelplatz” lesen!
Heute Abend unbedingt auf HR2 anhören: Die Aufzeichnung des Konzertes mit dem Trio Wanderer auf Schloss Johannisberg – vor allem die Zugabe!
“Viva la Emoción!” – Kann man die schönen Filme Almodóvars mit einem idiotischeren Satz ankündigen?
Tot ist Wolfgang Langhoff – Fast noch ein Kind, habe ich in den frühen Siebzigern seinen autobiografischen Bericht “Die Moorsoldaten” gelesen. Und war über Wochen verstört.
Donnerstag, 21. August 2008 – Siebenuhrneunzehn, achtzehnkommazwei. Sonnig.
Mit derselben Wut aufgewacht, mit der ich eingeschlafen bin. Die Dummheit mancher Menschen wird nur durch ihre Dreistigkeit übertroffen. Dass sie selbst einmal Opfer waren, scheint den dringenden Wunsch bei ihnen geweckt zu haben, nunmehr andere zu ihren Opfern zu machen. Und diese Egozentrik, diese Selbstüberschätzung, diese Chuzpe …
Morgens mit P. telefoniert, kurzes Belauern, Umkreisen, dann ungetrübte Freude, na prima, dann sehen wir uns in Köln. Und Jürgen kommt mit, wie schön.
Gestern zu Gipetto, Füße vermessen, Leder aussuchen, Schnitt wählen, Sohle auswählen, Farbe auswählen, Auftrag unterschreiben, anzahlen, macht Spaß … Und jetzt? Ganz lange warten.
Beim Friseur in alten Nummern von Auto-Bild, Focus, Stern, Vanity Fair, Cosmopolitan, Bunte geblättert. Bin völlig außerstande den Unterschied dieser Magazine zu erkennen, lese überall das gleiche Gestammel, höre das gleiche Geschrei, sehe die gleichen grinsenden Fressen … Die Entdifferenzierung schreitet fort.
“Gold für Deutschland”
“Auch Deutsche unter den Opfern”
“Scheiß-Deutsche” sollen die Täter von Bad Soden-Allendorf gerufen haben.
Tja.
Sehe gerade erst, dass Rainald Goetz nicht mehr bloggt.
Bestellen: Ruth Klüger “unterwegs verloren” und “Im Gespräch”.
Todestag hat der aus Kassel stammende Physiologe Adolf Fick, Entdecker der gleichnamigen …
Dienstag, 19. August 2008 –Siebenuhrsechzehn, neunzehnkommazwei Grad. Bedeckt, frisch. Seit kurz vor Vier wach.
Am Sonntag erste große Ausfahrt mit dem Olmo. Geplant waren 120, geworden sind es 150 Kilometer mit 2000 Höhenmetern. Über Burgholzhausen hoch zum Depot, runter nach Wehrheim, dann Kransberg, Maibach, Cleeberg, Grävenwiesbach, Dombach, Steinfischbach, Eppstein …
In der ihrer Berufsgruppe eigenen Sprache macht sich die Juristin Juli Zeh im Spiegel ein paar staatstragende Gedanken über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Gesagt haben, freilich, will auch sie am Ende – wie immer: nichts.
Gott ja, an selber Stelle war vor einer Woche noch das ruppig-kluge Gespräch mit Ruth Klüger zu lesen. Aber die ist ja auch alt und so mutig wie kaum jemand sonst in dieser Branche der großmäuligen Leisetreter.
Im nordhessischen Bad Sooden-Allendorf haben vier unbekannte junge Männer in der Nacht zum Montag gegen 1.20 Uhr ein Festzelt überfallen und scheinbar wahllos mit Latten und Teleskopschlägern auf die Feiernden eingeschlagen. Fünfzehn Gäste wurden verletzt. Die Täter konnten in einem silberfarbenen Auto flüchten. Ein Motiv ist nicht erkennbar, eine heiße Spur gibt es nicht …
Am 28. Juli ist in der zwischen Bourg-en-Bresse und Lyon gelegenen Gemeinde Lagnieu der elfjährige Valentin Cremault mit 44 Messerstichen ermordet worden. Eine Woche nach der Tat wurden der Obdachlose Stéphane Moitoiret und seine zehn Jahre ältere Lebensgefährtin Noella Hego festgenommen. Wegen der Blutspuren, die sich an seiner Kleidung fanden, gilt Moitoiret als dringend tatverdächtig. Im Verhör gab Moitoiret an, sie seien ein Königspaar aus Australien, das im göttlichen Auftrag unterwegs sei. Inzwischen hat eine zwanzigköpfige Ermittlungsgruppe der Polizei begonnen, hunderte ungeklärte Verbrechen der letzten Jahre zu untersuchen, da man nun davon ausgeht, das Valentin Cremault nicht das einzige Opfer der beiden ist.
Am 19. August 1936 wurde Federico García Lorca in der Nähe von Granada von spanischen Nationalisten ermordet.
Mittwoch, 13. August 2008 – Siebenuhrdreiundfünfzig, zweiundzwanzigkommadrei. Wieder sonnig, aber was für ein Wind.
Gestern Morgen im Funkhaus, um das “Sonntagsgespräch” mit Uli Sonnenschein aufzunehmen. Ob je ein Name so gut zu seinem Träger gepasst hat. Und als ich zurückfahre, höre ich seine Stimme im Autoradio.
Bei Céline dieser wunderbare Satz: “Meine Seele stand offen wie ein Hosenstall.”
Überhaupt Céline – wie er mich wieder beim Wickel hat. Dass mir das Gros der Anderen wie eine Meute Zirkuspudel vorkommt.
Draußen, auf seinem alten Rad, fährt immer wieder dieser begnadete polnische Fliesenleger vorbei – mit einem so traurigen Gesicht, dass einem sofort Geschichten einfallen wollen …
Nachmittags Anruf aus dem Verlag: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Burgdorfer Krimipreis gewonnen … Der zweite Preis innerhalb einer Woche … Das heißt? Es kann nur bergab gehen.
Abends Naomi Geburtstag, dann Ati Geburtstag, dann nach Mitternacht schwer schwankend auf dem Pinarello nach Hause und immer wieder das vordere Lichtlein angeknipst, weil es sich bei jedem Schlagloch ausschaltet.
Tot ist Pierre Bertaux, französischer Germanist, führendes Mitglied der Resistance, später Direkter der Sureté, ein Posten, den er verlor, weil er vor Gericht bezeugte, sich auf das Ehrenwort eines Juwelendiebes verlassen zu können.
Freitag, 8. August 2008 – Zwölfuhrachtundzwanzig, neunzehnkommaacht. Endlich grau, endlich nass.
Aus der Gemeinde der Alten Nikolaikirche kam ein Entschuldigungsbrief. Dort heißt es: “Leider können wir nicht darüber verfügen, was letztendlich über unser Gotteshaus und seine Gottesdienste und zahlreichen Veranstaltungen gedruckt wird. Sie werden aus eigener Erfahrung wissen, dass es da immer mal wieder zu Missverständnissen kommt … Für einen Vorschlag für eine Art ‘Wiedergutmachung’ wäre ich Ihnen sehr dankbar.”
Die Antwort: “Sehr geehrte Frau?Sehr geehrter Herr? Leider war die Unterschrift unter Ihrem Brief, für den ich mich bedanke, nicht zu lesen. Ihre Entschuldigung nehme ich gerne an, bin aber nach wie vor der Ansicht, dass Sie die Presse und damit das Publikum zumindest fahrlässig in die Irre geführt haben. Ein Missverständnis kann ich auch nach nochmaliger Lektüre der Ankündigung auf Ihrer Homepage nicht sehen. Als ‘Wiedergutmachung’ würde es mir genügen, wenn Ihnen der Vorfall eine Lehre wäre. Mit freundlichen Grüßen …”
In Rio de Janeiro werden jedes Jahr rund tausend Zivilisten von der Polizei erschossen.
Was für ein Satz der Ansagerin des Fernsehsenders 3-SAT: “Neuigkeiten vom Urknall bei Scobel”.
Tot ist der “beste kubanische Profiboxer aller Zeiten”: Eligio Sardinias Montalvo, genannt Kid Chocolate.
Mittwoch, 6. August 2008 – Zwölfuhrzweiunddreißig, siebenundzwanzigkommanull, weißblau der Himmel.
Mit dem Olmo die alte Runde über Niederdorfelden, Schöneck, Nidderau, Bruchköbel etc. Schon ziemlich schwer, das schöne Stahlrad. Die toten Igel stinken in der Morgensonne.
Anruf des Oberbürgermeisters von Offenbach: “Sie haben gewonnen …” Und ich freue mir ein Loch in den Bauch … Erzählt, er sei mit seiner Frau vor Jahren auf der Lesung im Mausoleum des Rumpenheimer Schlosses gewesen … Wir verabreden uns zum Essen … Morgen ist schon Pressekonferenz … Und ich darf das Rad mit in den Saal nehmen …
Vor den Ferien schickte Alexander Fest Hartmut Binders dicken Bildband “Kafkas Welt”. Was für eine Schatztruhe …
Franz Kafka ist am 3. Juni 1924 bei Klosterneuburg gestorben, man rechnet also nicht damit, ein Buch über den Holocaust zu lesen. Und doch begegnen einem bei der Lektüre unentwegt die Biografien der Opfer: Paul Kisch, ein Freund Kafkas, in Auschwitz ermordet; Dr. Heinrich Kral, Hausarzt der Familie, in Theresienstadt umgekommen; Paul Kornfeld, Kumpan aus dem Café Arco, im Januar 1942 im KZ Lodz umgekommen; Josef Pollak, Kafkas Schwager, 1941 nach Lodz deportiert, wo er und seine Frau umkamen; Grete Bloch, Freundin Kafkas, aus Italien deportiert, ermordet; Justine Nalos, Vermieterin Kafkas, im April 1942 nach Theresienstadt deportiert; Marie Wernerová, Haushälterin der Familie, 1942 nach Risa verschleppt, dort umgekommen; Julie Wohryzek, Geliebte Kafkas, im April 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet …
Heute vor einem Jahr starb 86-jährig und als freier Mann Heinz Barth, einer der Schlächter von Oradour-sur-Glane.
Montag, 4. August 2008 – Vieruhrzweiundfünfzig, einundzwanzigkommasieben. Windig, die Fenster fliegen. Endlich wieder im Zeit-Rhythmus.
Freitag rasch mit dem Mazda in die Ernst-Reuter-Schule und die beiden Schultheateraufführungen angeschaut, dann rasch in die Stadt, um die Kette an das Olmo montieren zu lassen, rasch nach Hause, rasch nach St. Goar auf Burg Rheinfels, wo Jörg E. sein Konzert gibt. Rasch schaukelt uns Ati im Polo wieder zurück. Rasch verdrücken wir auf einer Raststätte noch einen Imbiß. Rasch ins Bett. Samstag rasch um sechs aufstehen. Rasch auf die Räder. Rasch 100 Kilometer durch den Taunus. Dann rasch noch 20 auf dem Olmo. Rasch unter die Dusche. Rasch nach Gießen zu den Lischpers, wo wir uns gemeinsam mit Alexandra und Daniel zurücklehnen und verwöhnen lassen.
Dann City-Hotel, dann aufwachen, dann frühstücken, dann Rolf-Bernhard überraschen, der mit Anna in dem dicken alten Volvo vorfährt, dann Norbert und Susanne an den Marktarkaden, dann blinzelt so ein großer Mann schüchtern aus der Ferne … tatsächlich, es ist Gerd Steines, was mich nun riesig freut, dann Christian Lugerth, was mich ebenso freut, dann Rolf-Bernhards wunderbare Open-Air-Veranstaltung, dann ein schönes, buntes Rad vor dem schönen Laden der Vordemfeldes fotografiert, dann nach Frankfurt, dann noch mal aufs Olmo, dann kochen, essen, trinken, dann endlich mal wieder früh ins Bett, um endlich mal wieder früh aufstehen zu können, um endlich mal wieder um halbsechs auf dem Trainer …
B: Na, wieder da?
A: Jouh!
B: Schön braun geworden!
A: Mmmh.
B: Nette Leute kennen gelernt?
A (fluchtartig das Weite suchend): Uaaahhh!
Damit es wenigstens hier gesagt ist: Einsam gestorben ist R., der keinen Nachruf wollte und eine anonyme Bestattung. Niemand wird wissen, wo sein Grab liegt, nicht einmal seine Eltern.