Donnerstag, 27. November 2008 – Sechzehnuhrsiebenundzwanzig, vierkommaeins. Grau, fast schon wieder dunkel.
Heute Nacht stand M. am Bügelbrett genau vor jenem Altar, den P. nach ihrem Tod für sie gebaut hatte: darauf das Foto von ihr, die Bibelsprüche und ihre Halskette. Noch im Schlaf – aber schon schluchzend – schaue ich sie fragend an. Sie – milde lächelnd – schüttelt den Kopf.
Ich wachte auf, und noch immer
Strömt’ meine Tränenflut.
Der Mitarbeiter des Radiosenders hätte gerne ein “Rezessionsexemplar” (!) Himmel ja, dann soll er sich mal umschauen in der Welt … Freilich, Fehler dürfen gemacht werden; jedem kann es passieren, dass er ein Fremdwort falsch verwendet. Aber müssen denn immer ausgerechnet jene, die sich für befugt halten, so gar nichts wissen? Und will man ihnen dann wirklich auch noch zu Diensten sein, indem man on Air auf ihre dusseligen Fragen antwortet?
Mark Medlock, dem man einen Lidschlag lang erlaubt hatte, sich einzubilden, etwas anderes zu sein als er ist, muss möglicherweise ins Gefängnis. Ist ein angemessenerer Ort vorstellbar für diesen Galgenstrick?
Dumas fils ist tot.
Montag, 24. November 2008 – Fünfzehnuhrzwanzig, fünfkommanull. Bedeckt.
Gestern trotz Kälte und Hexenschuss kleine Runde auf dem Mountainbike. Wenigstens raus, wenigstens Luft, wenigstens mal nicht bloß Supermarkt. Und unterwegs dauernd fotografiert für das Cover der CD von “Ein kleiner Abend Glück”. (Kommentar P.: “Wird das eigentlich noch mal was?”)
Muss ganz neu anfangen. Gott, was für ein langer Irrweg … Und plötzlich katapultiert mich die Geschichte zurück an die ligurische Küste, in das Dörfchen Pietrabruna – Wie lange habe ich an den Ort und seinen Namen nicht mehr gedacht? Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre? Und dann ist beides wieder da. Ohne Anlass, wie luftgeboren.
Im letzten Magazin der Süddeutschen Zeitung ein Porträt des CSU-Politikers Erwin Huber, der nach den großen Verlusten seiner Partei bei den Landtagswahlen im September 2008 als Parteivorsitzender zurücktrat. “Ich wundere mich”, soll Huber danach gesagt haben, “warum ich mit diesem Charakterkostüm so weit gekommen bin.” Wenn das stimmt, wenn er das wirklich gesagt hat …
Lund, letzter Teil. Na, ja …
Tot ist Lee Harvey Oswald.
Donnerstag, 20. November 2008 – Elfuhrfünfzehn, zehnkommazwei. Alles grau.
Eine ältere, fein gewandete Dame auf dem Nachbarstuhl beim Friseur.
Dame: “Das Fernsehen wollte ein Interview mit mir machen.”
Friseurin: “Waaas? Was wollten die denn wissen?”
Dame: “Ich sollte ein wenig von mir und aus meinem Leben erzählen.”
Friseurin: “Und?”
Dame: “Ich habe gesagt: Da war nicht viel.”
Friseurin: “Und?”
Dame: “Sonst nichts.”
Friseurin: “Das war alles?”
Dame: “Ja. Sonst gab es nichts zu sagen. Da war eben nicht viel.”
Theodor W. Adorno nach seiner Rückkehr aus dem kalifornischen Exil: “Das amerikanische Bewußtsein: Schreckbild einer Welt ohne Erinnerung.”
Lektüre: Harold Schechter, “Deranged – The Shocking True Story of America’s Most Fiendish Killer”. Die Rede ist von Albert Fish, den man nun wirklich einen “dirty old man” wird nennen dürfen.
Toter des Tages: Robert Altman.
Mittwoch, 19. November 2008 – Zehnuhracht, acktkommaeins. Trübe. Angeschlagen.
Auf HR2 wird eine Geschichte vorgelesen. Keine Ahnung, was das ist. Hört sich grauenhaft an. Man möchte den Erzähler ständig anfeuern: Los jetzt, wir haben’s kapiert, mach weiter, ergeh dich doch nicht dauernd in diesen grauenhaft redundanten Monologen! … Und dann, der Moderator: Sie hörten die soundsovielte Folge aus Ingo Schulzes Roman “Adam und Evelyn”. Mmmh, Mensch, Ingo …
Claudia Roth – eine Kindergärtnerin auf Speed.
Auf dem Rollentrainer zu sitzen, auf der Stelle zu treten und nicht voran zu kommen, ist eine der öde-langweiligsten Angelegenheiten des Universums. Es sei denn, man setzt den Kopfhörer auf und schiebt die richtige Scheibe in den Spieler. Es mag snobistisch klingen, war aber ein Genuss: Gestern also hörte ich eine Stunde lang die Rede Theodor W. Adornos von 1960: “Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?” Es war, als lebe man in einem Irrenhaus ohne Tageslicht und plötzlich zöge einer die Gardinen beiseite, zeigte nach draußen, und endlich erkennten wir die Welt: im hellen Sonnenschein, deutlich und klar.
Franz Schubert ist seit 180 Jahren tot.
Dienstag, 18. November 2008 – Fünfuhrdreiundfünfzig, einskommazwei Grad, dunkel.
“Was eigentlich interessiert uns noch?”, fragt P. und antwortet gleich selbst: “Das Geld, nur noch das Geld! Der Rest ist Gähnen.” Das freilich ist nun wirklich zum … Gähnen.
Gestern die Aufnahme der vorletzten Folge von “Lund”. Selten so wenig von einer Serie gesehen und dennoch so viel mitbekommen. Bis fast zum Schluss verhalten sich die meisten Figuren verdächtig. Ob das gut geht ….
Tom Jeffers schickt die Fotos vom Dreh in Wiesental – “Adlerhorst” steht zum Verkauf. Und den Hinweis auf die Folge “Deathwatch” aus der zweiten Staffel der BBC-Serie “Waking the Death”. – Die ZDF-Bearbeitung soll allerdings grauenhaft sein …
Heute vor sechsundachtzig Jahren starb Marcel Proust.
Freitag, 14. November 2008 – Zwölfuhrachtundfünfzig, sechskommanull Grad. Tatsächlich Sonne.
Was so war: Ganzen letzten Freitag die Dankesrede für die Preisverleihung geschrieben. Samstag ins Emmental gefahren. Aber die Burgdorfer wollen gar keine Rede. Stattdessen eine schwarzgekleidete Dreimann-Combo mit den üblichen Krimi-Schlagern, aber gottlob auch ein wenig Piazzolla. Riesige Suite im Hotel Stadthaus. Abends getafelt im Restaurant des Casino-Theaters – mit der wunderbar quirligen Elisabeth Zäch, dem unfassbar freundlich-bescheidenen Arne Dahl und dem wahnsinnig eitlen Carofiglio. Das Schloss, die Emme, die Esel unten in der Stadt, die Trinkwasser-Brünnchen, leerstehende Läden, schöne Häuser. Sonntag Lesung, dann Kebab, dann retour. Dienstag ganzen Tag für die Hessenschau gedreht, Mittwoch Jürgen und Detlef, der für seine Edeka-Reportage einen Journalistenpreis erhalten hat, Donnerstag … Immer so weiter.
Gott ja, unsere Konvertiten. Was soll man sagen. Cora Stephan gerierte sich links, als das en vogue war, und schwor lautstark ab, als der Zeitgeist sich gewendet hatte. Und wie alle Klassenstreuner plagt sie seitdem das schlechte Gewissen. Also sieht sie in jedem, der seine Einsichten nicht dem Meinungsmarkt zu Füßen legt, einen wandelnden Vorwurf und gibt nun lautstark die verfolgende Unschuld. Dass das Denken doch schließlich ungestraft die Richtung müsse ändern dürfen … und was dergleichen Sklavensprüche mehr sind … Nein, still, ich schweige. “Ertrage die Clowns!”
An der Pazifikküste in der Nähe von Vancouver ist ein Frauenfuß, der in einem Laufschuh steckte, angespült worden. Es ist bereits der siebte abgetrennte Fuß, der seit August 2007 in Kanada gefunden wurde.
Nein, stopp, Korrektur, es ist erst der sechste! Gerade lese ich die “Vancouver Sun” von gestern: Einer der vermeintlichen Füße erwies sich als Tierpfote. Offensichtlich hatte sich jemand einen Scherz erlauben wollen.
Gegen den Österreicher Josef Fritzl wurde jetzt Anklage wegen Mordes erhoben. Vor kaum einem Kriminalfall der letzten Jahre bin ich so sehr zurück gezuckt wie vor diesem. Ich überblättere die Geschichten in den Magazinen, schalte um, wenn im Fernsehen darüber berichtet wird, klicke weg, wenn im Netz die Bilder aus Amstetten auftauchen. Es ist, als ob man in diesen Abgrund nicht schauen könne, ohne gründlich Schaden zu nehmen.
Tot ist Jean Paul (“Herr Pfarrer, ich bin auch da!”)
Donnerstag, 6. November 2008 – Siebenuhrvierunddreißig, zehnkommaacht. Bewölkt. Kurz vor vier aufgewacht.
Am Freitag letzter Woche ist in der kanadischen Stadt Edmonton (Provinz Alberta) der 29-jährige Mark Andrew Twitchell verhaftet worden. Twitchell, der sich selbst als “Filmmaker” bezeichnet, soll sich im Internet als Frau ausgegeben und den 38-jährigen John Brian Altinger zu einem Treffen in seine Garage gelockt haben. Altinger, der seit dem 10. Oktober verschwunden ist, hatte die Adresse dieser Garage zuvor einem Freund mitgeteilt – nur so kam die Polizei auf Twitchells Spur. Obwohl die Leiche Altingers bisher nicht gefunden wurde, behaupten die Ermittler, es gebe genügend Beweismaterial, um Twitchell wegen Mordes verurteilen zu können. Die Polizisten gehen davon aus, dass Twitchell mit seiner Tat ein von ihm geschriebenes Drehbuch (mit dem Titel “House of Cards”) in die Realität umsetzte: In dem Skript wird ein Mann über ein Internetforum in eine Garage gelockt, dort gefesselt, beraubt, enthauptet und zerstückelt.
Nach dem Verschwinden John Altingers wurde dessen Notebook aus seiner Wohnung gestohlen. Kurz darauf erhielten einige Freunde eine angeblich von John verfasste Email mit der Nachricht, er sei für einige Wochen mit einer Frau, die er gerade kennen gelernt habe, nach Costa Rica geflogen. Als man in Altingers Wohnung nachschaute, fanden sich dort sowohl sein Koffer als auch sein Pass.
Bereits am 3. Oktober hatte eine Zeugin beobachtet, wie ein Mann schreiend aus Twitchells Garage geflohen war, der von einem anderen, mit einer Hockeymaske getarnten Mann, verfolgt wurde. Die Maske wurde später bei Twitchell gefunden. Der Polizei gelang es, das Opfer dieser Attacke ausfindig zu machen; es wird nun von den Ermittlern vernommen.
Das Bekenntnis Mark Twitchells auf seiner Seite bei My Space (die bis heute Morgen noch frei zugänglich war), bekommt vor dem Hintergrund dieser Ereignisse eine ganz neue Bedeutung: “My life blood ist film making”. Die Prophezeiung des nunmehr in Haft sitzenden Filmemachers dürfte sich allerdings vorerst nicht bewahrheiten: “The world ist getting bigger and so is my influence on it”. Es sei denn …, ja, es sei denn, die ganze Geschichte erweist sich als der Marketinggag eines erfolglosen Independent-Künstlers.
Der 6. November ist der Todestag folgender Komponisten: Heinrich Schütz, Georg Anton Benda, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Edouard Delvedez, Edgar Varèse, Jean Rivier und Hallvard Johnsen.
Mittwoch, 5. November 2008 –Fünfuhrvierundfünfzig, achtkommasieben Grad. Schon länger wach und in den “Green- River”-Morden gelesen.
Backenzahn weg, Ypsilanti weg, Koch da, Obama auch. Nicht zu viel trauern! Nicht zu viel freuen!
Am Montag Lesung in der Naxos-Halle, wo die SPD-Bornheim den 70. Jahrestag der Pogromnacht begeht. Seltsam, wie die Ereignisse des Vormittags (als die vier Landtagsabgeordneten bekannt gaben, ihre Stimmen der eigenen Kandidatin zu verweigern) auf dieser Veranstaltung vernuschelt werden sollen. So, als könne man sich drunter weg ducken. Sie trauen sich selbst nicht mehr über den Weg.
Später noch nett am Tresen mit den Leuten vom Theater Willy Praml: The Dresden Dolls, Nouvelle Vague …
In einem Obdachlosenlager in der Nähe des Freeway 405 in Long Beach / Los Angeles County hat die Polizei am frühen Sonntagmorgen fünf Leichen gefunden – alle Opfer wurden erschossen, ein Motiv ist bislang nicht erkennbar, eine Spur gibt es noch nicht.
Wieder vor “Kommissarin Lund” eingeschlafen – hat aber nichts mir ihr zu tun.
Heute vor zehn Jahren starb Anna Henkel.
Montag, 3. November 2008 – Fünfuhrvierundzwanzig, draußen achtkommazwei Grad. Wach seit vier.
Aus dem Notizbuch der letzten anderthalb Wochen:
Mittwoch (22.10.): Morgens mit Rainer am “Fall für Zwei”. Abends Eröffnung der Ringvorlesung zum “Krimi in Europa” an der TU Darmstadt. Wildkräutersalat. Wie heißt das Lokal? Vergessen. Genau wie den Lektüretipp des Assistenten.
Donnerstag: Morgens “Fall für Zwei”, abends Lesung im Historischen Rathaus von Büdingen. Die Froschkrawatte vom Bürgermeister. Der Zehennagel im Hotelzimmer der Kollegin. “Hätte ja auch noch ein blutiger Zeh dranhängen können, haha.”
Freitag: Mit Jürgen nach Schotten. Hochzeitshaus, griechisch. Lesung auch hier im Historischen Rathaus. Jürgen fährt zurück, ich bin froh, platt. Blöd, hab mein Präsent liegen lassen.
Samstag: Mit dem ICE nach München. Unsere reservierten Wagen wurden abgehängt. Unterwegs geknipst. In der U-Bahn-Station ein Plakat mit einem Spruch von Martin Kippenberger: “Ich kann mir ja nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden”. Abends Heikes Fest. Gezacker um die Rohloff-Nabe .
Sonntag: Schöner Tag. Zurück mit dem ICE. Vor einer Woche sind die Roten Ritzel den Saisonabschluss gefahren. Und haben den Pokal geholt.
Montag: Wieder “Fall für Zwei”, dann … weiß nicht mehr.
Dienstag: Nochmal mit Ewerrien am Treatment. Mittags nach Braunschweig. Mist, hab die Bahn-Card vergessen. Krimifestival, Lesung in der Komödie am Altstadtmarkt; sehr gelungen. Rechnung schreiben!
Mittwoch: Früh zurück. Zu Hause alleine weiter am Treatment. Abends Jürgen.
Donnerstag: Morgens nach Usingen, den neu lackierten Pinarello-Rahmen geholt. Wunderschön, möchte man gar nicht aufbauen. Abends große Veranstaltung in Offenbach. Einführung als “Stadtschreiber im Bücherturm.” Furiose Rede von Boehnke. Paula: “Papa, weißt Du, was hier die Brezeln kosten?”
Freitag: Pinarello zu Susanne gebracht. Und kurz darauf mit eingebautem Steuersatz und Tretlager schon wieder abgeholt. Aufbau.
Samstag: Zu Gipetto in den Laden. Erste Runde, alles Mist. Laufräder blockieren, Schaltung springt … Abends nach Nidderau-Ostheim zu Andrea und Uwe.
Sonntag: Früh raus. Ein paar Fotos auf dem Hauptfriedhof. Dann zur alten Nidda-Brücke nach Bonames. Gipetto und Jörg. Die letzte Sonne aus dem Taunus holen. In Oberreifenberg im Café. “Sechs Stück Sahnetorte und eine Cola light”. 110 Kilometer. Alles krampft, lange nicht mehr so schwach gewesen.
Lektüre: Ann Rule – Green River Running Red.
Gerade von Atilla die Nachricht: HUGO IST DA!
Heute vor sieben Jahren ist Thomas Brasch getorben – elf Jahre nach seinem Vater.