Donnerstag, 29. Januar 2009 – Elfuhrdreiundfünfzig, einskommasieben. Wetter, gar nicht so schlecht.
Mary Coleridge: The Blue Bird
The lake lay blue below the hill,
O’er it, as I looked, there flew
Across the waters, cold and still,
A bird whose wings were palest blue.
The sky above was blue at last,
The sky beneath me blue in blue,
A moment, ere the bird had passed,
It caught his image as he flew.
Tot ist Carl Georg Schilling, Großwildjäger und Fotograf, der ein Buch geschrieben hat mit dem schönen Titel “Mit Blitzlicht und Büchse”.
Dienstag, 27. Januar 2008 – Sechsuhracht, nullkommasieben Grad. Dunkel.
Tag drei nach dem Sturz. Am Samstag einfach in einer vereisten Kurve mit dem Pinarello weggerutscht. Heute um halbvier mit Schmerzen aufgewacht. Prellung am Oberschenkel, drei Rippen gequetscht, linke Hand geprellt, die Stirn aufgeschlagen, Auge zugeschwollen, riesiges Hämatom. Sitzen, stehen, liegen, husten, lachen, niesen – alles fällt schwer, tippen geht nur mit Mühe … Sieht grotesk aus. Gestern das erschrockene Gesicht der Postbotin, als ich die Tür öffne und sage: Erschrecken Sie bitte nicht …
Und auch hier funktioniert nichts mehr richtig. Lassen sich keine Fotos mehr hochladen. Ati hat Recht, wir müssen mit der Website umziehen, so schnell wie möglich …
An den letzten Abenden ein wenig in Alexander Kluges “Kapital”-Film geschaut. Manchmal schlicht bis zur Idiotie, dann wieder kleine Leuchttürme: wie einige Sätze und Gedanken aus dem Gespräch mit Dietmar Dath.
Und gestern wieder ein Highlight der “Kulturzeit”-Moderation.
Todestag von Erich Heckel – ist aber auch erst 1970 gestorben, was mir nicht klar war. Am 20. März 1939 haben die Nazis 1004 seiner Gemälde und 3825 seiner Aquarelle verbrannt.
Freitag, 23. Januar 2008 – Elfuhrzwanzig, dreikommazwei. Nass.
Eigentlich hatten die Vier schon mit der Ansage gewonnen. Lauter, schneller Auftakt. Bass, Schlagzeug, zwei Gitarren. Atilla spricht stakkatoartig ein paar türkische Worte, dann schreit er, als sei es die Erfüllung all seiner Wünsche, den Namen der Band ins Mikrofon: TEAM KOOORAP! Und los gehts. Nervös, erregt nehme ich alles in zehnfacher Vergrößerung wahr, was er da vorne treibt. Seine Bewegungen, sein Mienenspiel, die Blickwechsel mit den anderen Musikern. So angespannt er vorher war, jetzt löst sich alles in dieser unglaublich lässigen Show. Man merkt, dass er ganz bei sich ist. Mal katzenhaft leise, mal roh und direkt, mal verhalten, mal herrisch. Perfekter Wechsel der Töne.
Und wir können sagen, dabei gewesen zu sein, bei der öffentlichen Geburt dieser Kraftmaschine: TEAM KORAP! In der Klappergass. Im Bett. Vorgestern.
Aber einmal wäre ich fast aufgesprungen und hätte den vorlauten Strickmützen, die sich da rechts vor der Bühne lümmelten, eine Portion Ehrfurcht beigebracht. Und als dann auch noch diese dumpfe Nuss beim leiseleisen “Hallelujah” klippklapp quer über die Tanzfläche stöckelte … Na, was? Nee, sag ich nicht.
Heute vor zwanzig Jahren starb der grauenhafte Dalí.
Mittwoch, 21. Januar 2009 – Fünfzehnuhrneununddreißig, vierkommazwei Grad. Kommt doch glatt die Sonne raus.
Am Mittag Peter “Hamlet” Kupers Beisetzung auf dem Hauptfriedhof. Was für Figuren sich hier versammelt haben. Halbseiden, zu lange, zurück gekämmte Haare, Sonnenbrillen, dicke Uhren, Leopardendamen, Klunker, Fliegermützen, Seidenschals, Porschefahrer, Stiefelknechte, gestandene Schlucker, zerstörte Gesichter. Lächerlich, gewiss, aber doch auch eine ganz eigenartige, antibürgerliche Renitenz, die sich hier eingefunden hat. Gestern waren es zwei Monate her, dass Kuper im Marienkrankenhaus gestorben ist. Noch vorgestern wollte ihn die Stadt in einem anonymen Grab verscharren, bis sich in letzter Minute doch noch ein paar Freunde fanden, die ihren Obulus gaben, um das zu verhindern. “When I’m dead and gone” wird vom Band gespielt. Vorne, wo seine Urne steht, ein paar Fotos, eine amerikanische Flagge, sein schwarzer Hut und seine spitzen Sternchenstiefel. Eine Freundin, die Yoga-Lehrerin Rita Hallstein, die ihn seit vierzig Jahren kannte, erzählt über seinen letzten Abend. Dass er nicht mehr habe leben wollen, dass er auf die Welt und die Stadt, wie sie jetzt seien, geschimpft habe, dass er müde gewesen sei … Ein guter Mensch, das sagen auch die anderen. Vor allem: ein guter Mensch. Der es kaum verwunden habe, als sein Penny-Markt auf dem Oeder-Weg geschlossen wurde – woher er doch immer seine geliebte Dosen-Erbswurst bezogen … Ein langhaariger Gitarrist namens Matthias singt und spielt “I walk the line”. Und zum Ausgang vom Band: “Ain’t no sunshine”. Ein paar Kaspereien am Grab, dann will man ins “Mal sehn” in die Adlerflychtstraße fahren, wo seine Bilder ausgestellt seien, die man kaufen könne, um die Grabpflege zu gewährleisten. Na ja, aber da muss ich jetzt vielleicht doch nicht mehr mit …
Würde man doch auch einmal bei der Wahl eines deutschen Politikers so viele befreite, ja, erlöste, hoffnungsvoll lachende Gesichter von Armen, Einwanderern, Alten und Kindern sehen wie gestern, bei der Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten.
Eigentlich ein gutes Zeichen, dass die Börsen nach Obamas Antrittsrede eingeknickt sind.
Champion Jack Dupree ist tot.
Dienstag, 20. Januar 2009 – Zwölfuhrzehn, fünfkommaeins. Bedeckt. Fenster gekippt. Keine Heizung an.
Gestern Abend im Raucherzimmer der Stalburg. Patricia, Herl, Atilla. Wir fummeln an der CD-Veröffentlichung von “Ein kleiner Abend Glück”. Fühle mich die ganze Zeit ungemein wohl. Warum eigentlich? Vielleicht, weil es das Beste ist, was man machen kann: lässig und konzentriert gemeinsam so ein kleines Ding drehen. Meine Kleidung stinkt hinterher wie in alten Burga-Zeiten.
Herl erzählt, dass Kuper am Mittwoch beerdigt wird. Aber wieso das? Wenn er doch schon im November gestorben ist.
Der Ausgang der Wahlen. Immer wieder nehme ich mir vor, dass mich das alles nichts mehr angeht. Und wie es mich dann trotzdem wieder aufregt. Und immer wählen die Kälber ihre Schlächter.
Im Netz zu finden tatsächlich ein paar kleine Filmchen aus den späten fünfziger, frühen sechziger Jahren mit Céline-Interviews. Und ein Chanson von ihm , das er offensichtlich auch selbst singt.
Nicht zu finden aber ist der schöne Nachruf von Wolfgang Hörner auf Uwe Gruhle, nach dem Norbert Schmidt heute Morgen fragte.
Tot ist Bettina von Arnim. “Die Welt ist Nebels voll …”
Montag, 19. Januar 2009 – Siebenuhreinundfünfzig, zweikommazwei. Dämmerig, bedeckt, aller Schnee getaut. Gut geschlafen dank Baldrian-Hopfen …
Unter der Rubrik Stellengesuche im Frankfurter “Blitztip”: “Psychisch kranker Masseur möchte auf Öltanker anheuern”.
Man möchte sich glatt einen Öltanker kaufen, um herauszubekommen, was da los ist.
Das schlimmste Ergebnis des gestrigen Abends: Die besinnungslose Stärkung der hessischen FDP, die mir so zuwider ist wie ihr stumpfsinniger Spitzenkandidat: “Macher und Mensch”, Gott ja, was für Krücken – amoralisch, ohne jeden Grundsatz außer dem einen, dass Markt und Geld alles regeln müssen – kulturlose Steinzeit. Diese ewig schnauzbärtigen Saunabrüder … Und heute Morgen auf den Titelblättern ihre triumphal in die Höhe gereckten Daumen … Erektionen der Dummheit.
Aus der noch unveröffentlichten Übersetzung eines englischsprachigen Thrillers: “Seine Stimme klang wie ein geräucherter Hering”.
Unbedingt merken: Nach der Eröffnung im Jahr 2010 die Sammlung von Achim Freyer in Berlin-Lichterfelde anschauen.
Auch nicht vergessen: Elina Garancas “Bel Canto”.
Heute vor zwei Jahren starb Wilson Pickett. Und seit zwei Tagen suche ich schon wieder dieses Amateur-Video mit dem wunderbaren Gezappel einer jungen Frau zu “Land of 1000 Dances” … Ah ja: “Dieses Video wurde aufgrund eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen entfernt.” Wenn es schonmal irgendwas Schönes auf dieser Welt gibt … Und jetzt? Hat niemand es rechtzeitig gespeichert?
Mittwoch, 14. Januar 2009 – Fünfuhrachtunddreißig, minus achtkommasechs. Dunkel. Wach seit halbfünf.
Meldung 1: Wie erst jetzt bekannt wird, sollen Beamte des Frankfurter SEK nach ihrer Weihnachtsfeier kurz vor Heiligabend im Bahnhofsviertel eine Massenschlägerei mit den Türstehern eines Bordells angezettelt haben.
Meldung 2: Anders als bisher dargestellt, hat der 34-jährige Berliner Zivilbeamte, der am Silvesterabend einen unbewaffneten 24-jährigen Autofahrer getötet hat, auf diesen sofort und aus nächster Nähe geschossen. Von den acht Schüssen, die der Polizist abgegeben hat, war bereits der erste tödlich.
Meldung 3: Wie in vielen anderen Städten fand auch in Duisburg am Wochenende eine Demonstration gegen den israelischen Einsatz im Gaza-Streifen statt. Ein Student hängte aus Solidarität “mit der einzigen Demokratie der Region” je eine Israel-Flagge vor sein Wohnzimmerfenster und an seinen Balkon. Als die Demonstranten das Haus passierten, wurden Gegenstände geworfen und antisemitische Parolen gerufen. Die Polizei, anstatt dies zu unterbinden, trat die Wohnungstür des Studenten ein und entfernte die Fahnen. Die Demonstranten bedankten sich mit Jubel und Beifall.
Am 14. Januar 1941 starb im KZ Dachau der Kabarettist, Schauspieler und Conférencier Fritz Grünbaum
Montag, 12. Januar 2009 – Zehnuhreinundzwanzig, minus neunkommasechs. Hell bewölkt.
Am Freitag mit Jürgen und Jürgen auf die Autobahn. Was für ein Geschenk. Fünf Stunden später sind wir kurz vor Paris, aber irgendwo ein Unfall, Stau. Nochmal neunzig Minuten und wir haben die Place Nadaud erreicht. Kurz ins Hotel, dann ins Getümmel, Metro Place de la République, wir tapern die Rue du Temple runter, Durchblicke aufs Centre Pompidou.
Auf einer Kreuzung im Marais eine junge Frau – Handschuhe, dicke Mütze, Verkehrsweste, Stop-Kelle. Aber wieso steht die hier? Um den spärlichen Verkehr zu regeln? Die Ampeln, die sie nicht beachtet, funktionieren doch. Irritiert schaue ich sie an, weiß nicht, ob ich die Straße nun überqueren darf oder nicht. Sie senkt den Blick unter meinem, fixiert mich kurz darauf trotzig und fuchtelt entschlossen, aber uneindeutig mit ihrer Kelle. Erst jetzt merke ich: sie ist verrückt. Sie steht hier mit ihrer Schülerlotsen-Ausrüstung, um sich an der Welt zu reiben, so oder so. Mal weicht sie ängstlich zurück, dann wieder greift sie lächelnd an. Wie wir alle. Wie wir alle?
Place des Vosges, Bastille, dann nach Belleville, zuerst ins La Veilleuse, dann ins Röllchen. Und überall im Viertel diese jungen arabischen Frauen mit ihren Palästinensertüchern …
Am Samstag in den Südwesten nach Meudon. In der alten Villa, Route des Gardes 25, hat bis zu seinem Tod im Jahr 1961 Louis-Ferdinand Destouches gewohnt, der sich den Künstlernamen Céline gab. Und wirklich, am Briefkasten steht noch immer, fast achtundvierzig Jahre nach seinem Tod, dieser Name: Destouches. Ein junger Postbote weist uns den Weg. Weiter, bergauf, Richtung Bahnhof. Drüben, hinter der Mauer, sehen wir die Gräber. Vor ein paar Jahren waren wir schon einmal hier und sind vergeblich die Reihen abgeschritten. Aber der Angestellte auf dem städtischen Friedhof ahnt bereits, wen wir suchen: “Destouches? Da drüben, das elfte Grab …” Da stehen wir nun und kratzen das Eis vom Stein dieses alten Stinkers.
Ein paar Kilometer weiter östlich, in Bagneux, ein anderer Friedhof. Hier liegen die beiden Frankfurter Juden und Kommunisten Ettie und Peter Gingold. Der freundliche Thomas Willms vom Bundesbüro der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes hat es noch am Donnerstag für mich recherchiert. Aber der Friedhof ist wegen Schnee- und Eisglätte geschlossen, und der junge Wärter lässt sich nicht erweichen. Beim nächsten Mal …
Auf dem Weg zurück quer durch die Stadt … Das gesamte Viertel hinter der neuen Oper ist gesperrt und von Polizisten umstellt. Schon wieder eine pro-palästinensische Demonstration …
Am 12. Januar 1945 wurde Arthur Hoffmann in Dresden von den Nationalsozialisten ermordet.
Dienstag, 6. Januar 2009 – Sechsuhrundacht, minusachtkommanull. Dunkel. Weiß das Land.
“Meine Seele ist so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert …” Ja, ja, schon gut, der Frühling wird’s richten. Schließlich kann sich Obama nicht auch noch darum kümmern.
Am Sonntag der österreichische “Tatort”. Gar nicht so schlecht, immerhin schlafe ich nicht davor ein. Andererseits: Wie langweilig, dass man 250 Jahre nach der Aufklärung gezwungen ist, sich unentwegt mit ideologischen Sekten zu befassen – Islamisten, Nazis, Wirtschaftsliberale …
Über ein paar Dinge ist ein vernünftiges Gespräch mit mir nicht zu führen:
1. Selbst für möglicherweise berechtigte Kritik an der israelischen Regierung fühle ich mich nicht zuständig.
2. Obwohl kein Pazifist mehr, gibt es kein Argument, dass mich davon überzeugen kann, Auslandseinsätze der Bundeswehr seien akzeptabel. Allein die Existenz eines deutschen Heeres, ja, eines unabhängigen deutschen Staates ist mir nicht geheuer.
3. Dass der Kapitalismus eine historische Errungenschaft ist, habe ich begriffen. Dass er das letzte Wort haben soll, wird mir niemand einsichtig machen können.
Ein paar Minuten “Talk talk talk” auf Pro Sieben geschaut. Mordgelüste …
Tot ist der dänische Maler Richard Mortensen – es gab schlechtere.