Geisterbahn

Montag, 31. Mai 2010 – Elfuhrfünfunddreißig, fünfzehnkommadrei. Himmelgrau. Man hört, es soll noch Mal schöner werden. Im Laufe des Jahres.

Was mich gerade langweilt:
1. Alle Artikel über das iPad und Steve Jobs.
2. ALLE Äußerungen von, über und gegen Christoph Schlingensief.
3. Lena Dingsbums.
4. Die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft.

Schaue seit Tagen alle paar Minuten auf meine Armbanduhr (die erste überhaupt seit dreißig Jahren) – so schön ist sie, die neue, alte “Glashütte” – Made in GDR. – “Und? Was hat sie gekostet?” – Ich sage den Preis. – “So viel kostet bei den echten Sammlern allein das Armband”. – Eben! Teuer kann jeder!

Samstag das Zappa-Konzert mit dem Ensemble Modern im Frankfurt Lab. Avantgarde ist das schon lange nicht mehr, aber druckvoll, wuchtig, lustig, unterhaltsam, überraschend. Und immer, wenn ich dachte, jetzt wird mir das aber zu bigbandig, zu jazzig, zu filmmusikig … Was dann? Dann hatten sie mich doch wieder.

Gestern im Museum Giersch. Die Ausstellung mit Werken des deutschen Impressionisten Philipp Franck. Am besten die späten Sachen. Ein Bild seines Sohnes mit Hund. Ein kleines Porträt. Ein paar hübsche Wasserstücke.

“Denn nur die Wahrheit macht frei”, Johannes 8, 31

Brechts Galilei: “Nehmt das Tuch vom Rohr und richtet es auf die Sonne!”

Saukomisches Gesprächsverweigerungsgespräch mit Reich-Ranicki in der Sonntags-FAZ.

Hannah Höch ist tot.

Mittwoch, 19. Mai 2010 – Dreizehnuhrachtundfünfzig, vierzehnkommafünf. Regnet schon den ganzen Vormittag.

Bei einem Streifzug über den Hauptfriedhof ganz in der Nähe von Kupers Asche das Grab eines Jürgen Lothar Manfred Jakoby entdeckt. Das Bild auf dem Stein legt die Frage nahe, um was für einen Galgenstrick es sich hier wohl gehandelt haben mag. Zu Hause den Namen in die Suchmaschine eingegeben… : Aki, der Indianer, wie er genannt wurde, war ein Frankfurter Bordellbesitzer. Und gleich noch eine ganze Galerie mit Fotos gefunden, auf denen er im Kreise seiner Lieben zu sehen ist.

Gestern auf den Parkfriedhof Heiligenstock zur Beerdigung von Eberhard Dähne. Draußen auf dem Parkplatz eine Limousine  mit Fahrer, Wiesbadener Nummernschild. Und da ist auch noch eine aus Erfurt.  Die Trauerhalle ist voll. Überall werden Köpfe gereckt. Manche der Gäste sehe ich seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder. Ellen Weber sitzt ganz in der Nähe. Ottel Wagner ist da. Und Bodo Ramelow – womit die Erfurter Karosse erklärt wäre. Georg Fülberth hält die Trauerrede. Sachlich, klug, unpathetisch, sehr freundschaftlich. Während des diesjährigen Ostermarsches habe sich der Todkranke auf dem Römerberg von seinen Genossen verabschiedet. Danach sei er, der geduldige, bescheidene Eberhard Dähne noch ein letztes Mal zum Arzt gegangen, habe über die Maßen lange auf dem Gang sitzen müssen, bis er schließlich aufgestanden sei und gedroht habe, wenn man ihn nicht sofort ins Sprechzimmer rufe, die Internationale zu singen. “Das hat geholfen”, habe er erzählt. Damit endet Fülberths Rede. Und tatsächlich, jetzt machen die Trauergäste Dähnes Drohung wahr und singen dieses Lied. Und seltsamerweise wirkt es vollkommen unpeinlich. Gemeinsam geht man noch zum anonymen Urnengrab. Und zerstreut sich wieder.

Anruf des Anstaltsleiters aus Butzbach. Ich möge Verständnis haben, aber es gebe Gründe für die Ablehnung meines Projektes, die er nicht mit mir erörtern dürfe. Gefühl gähnender Machtlosigkeit.

Was ist eigentlich mit der Statistik der Geisterbahn los? Seit Ende April keine neuen Zahlen …

Fünfter Todestag von Batya Gur, deren Kriminalromane ich schon längst mal gelesen haben wollte.

Mittwoch, 12. Mai 2010 – Achtuhrzweiundzwanzig, elfkommavier. Der Himmel suppig. So langsam weicht die Erschöpfung der Entspannung. Ja … doch, warum es nicht Mal deutlich sagen: Es geht mir so gut wie seit einem Jahr nicht mehr. Was ist da schon eine Bronchitis? Kann nicht lang dauern …

In die Brönnerstraße, Krankengymnastik. Kurze Runde über die Zeil. Nicht auszuhalten. Durch ein paar Schuhgeschäfte. Auch nicht auszuhalten, was da so rumsteht. Einzig dieses eine Paar Crockett & Jones … Zu teuer … Zurück. Zu Hause Post, Telefon, Mails. Noch keine Nachrichten aus dem Gefängnis. Kurz nach zwei wieder in die Stadt. Auf der Kreuzung Friedberger Landstraße / Rohrbachstraße ist eine Straßenbahn in einen Kleintransporter gefahren – die Autos stauen sich zurück bis in die Innenstadt. Wieder Brönnerstraße. Das letzte Mal zum Orthopäden. Eine Stunde warten. Perfekt, sagt der Mediziner, um mich gleich darauf zu ermahnen … Zwei Stunden unterwegs für einen zweiminütigen Arztbesuch. Dann doch die Crockett & Jones gekauft. Wieder nach Hause, noch immer nichts aus dem Gefängnis. Spaghetti Frutti di Mare …

Im Autoradio ein Stück aus Isabelle Fausts und Alexander Melnikovs Interpretation von Schuberts Fantasie für Geige und Klavier. Meine Güte, hat das Kraft …

Ch. erzählt, dass Svjatoslav Richter abgeordnet war, um auf den Feierlichkeiten zu Stalins Beerdigung Klavier zu spielen. Auf dem Weg dorthin saß er allein in einem Flugzeug voller Trauerkränze.

In der SZ vom Wochenende eine unglaublich gut geschriebene Reportage von Alex Rühle über einen Besuch bei Keith Jarrett.

Der neue Resnais, na ja. Dominik Grafs Serie, na ja, nach den zahlreichen, großen Worten …

So weit ist es gekommen, dass Atilla seinen Komaläufer öfter bedient als ich in die Geisterbahn steige.

Lektüre: Woodward / Bernsteins Watergate-Buch.

Otto Nagel ist tot.