Freitag, 24. Juni 2011 – Sechsuhrsiebenundfünfzig, elfkommaneun. Der Himmel: vielversprechend.
Der Künstler Ai Weiwei und die Literaturwissenschaftlerin Birgit Hogefeld sind aus der Haft entlassen worden. Festgenommen wurde nach sechzehn Jahren Flucht James Bulger, der “Pate von Boston”. In Gaston County (North Carolina) hat der bis dahin unbescholtene 59jährige James Verone eine Bank überfallen, lediglich einen Dollar verlangt und sich anschließend widerstandslos abführen lassen. Er hoffe, sagte er, auf eine dreijährige Haft, um im Gefängniskrankenhaus – da er keine Krankenversicherung besitze – sein Rückenleiden behandeln lassen zu können. Aus Franziska Augsteins Biografie über Jorge Semprún ist zu erfahren, dass der spanische Schriftsteller 1992 bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, wo er 1944 und 1945 interniert gewesen war, vor laufender Kamera erklärt hat, es komme ihm vor, als sei er nach Hause zurückgekehrt. Es gebe, schreibt Augstein, sogar ehemalige Häftlinge, die sich erkundigen würden, ob es möglich sei, in Buchenwald beerdigt zu werden.
Die “Sterbekasse der Leichenbrüderschaft Elgershausen 1620 e. V.” hat wie in jedem Jahr das Schützen- und Heimatfest ausgerichet. Diesmal mit dabei: Reiner Irrsinn und die Wild Birds.
Little Tasja ist tot.
Mittwoch, 15. Juni 2011 – Zehnuhrzweiundzwanzig, neunzehnkommazwei. Bewölkt. Neu ist das Wort Blutmond.
Bei Annette und Stefan, viel über Patti Smith, Warhol, Rauschenberg, Julian Schnabel etc. Seitdem noch tiefer im Pop-Universum. Aber so peu à peu wächst auch der Widerwille gegen Warhol. Edie Sedgwick war eines der frühen Wahrhol-Girls, eine haltlose Schönheit aus reichem Elternhaus. Als die Spannungen mit den Factory-Leuten zunahmen, schluckte sie immer mehr Drogen. “Ob Edie wohl Selbstmord begeht?” fragte Warhol. “Ich hoffe, sie gibt uns vorher Bescheid, damit wir es filmen können.”
Lustig die Geschichte, die Patti Smith erzählt. Sie lernte den Drummer einer Folkrockband kennen, stellte sich ihm vor und erfuhr, dass er Slim Shadow hieß. Die beiden freundeten sich an und gingen gelegentlich miteinander aus. Eines Tages lud er sie zum Hummer-Essen ins Max’s ein. Jackie Curtis, eine Bekannte, die am Nebentisch saß, gab Patti Handzeichen, ihr aufs Klo zu folgen. Dort erfuhr die Sängerin, dass ihr neuer Freund nicht Slim Shadow, sondern Sam Shepard hieß.
Jocco Abendroth ist tot.
Samstag, 11. Juni 2011 – Achtuhrnullnull, dreizehnkommafünf. Wolkig. Vom Regen aufgewacht. Spektakel der Sittiche.
Am Nachmittag die Nachricht, dass Birgit Hogefeld nach achtzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und wem entsende ich jetzt meinen stummen Gruß, wenn ich an der JVA Preungesheim vorbeikomme?
Mal raus. “Der Oeder Weg ist die schönste Straße in Frankfurt, und im Aroma-Imbiss gibt es die beste Falaffel der Stadt.” Stimmt schon. Aber warum stehen hier so viele junge, geklonte Anzugträger in weißen Hemden und teuren Business-Schuhen? Erdal kommt um die Ecke. Wollen wir Pfingsten mit den Rädern auf den Feldberg fahren? Wir wollen!
Zwanziguhrzwei, Filmforum Höchst, Josef-Emmerich-Straße. Wir sind zu früh. Bier und Wein auf den Treppenstufen. Enge Fahrbahn, alle zweieinhalb Minuten ein Bus. Gewummer aus offenen Autofenstern. Kann man hier wohnen? Man kann einen Film schauen: “Godard trifft Truffaut – Deux de la Vague”. Interessiert nur ein paar Fünfzigjährige. Und ist ja auch schwer zu ertragen, diesem niemals lächelnden, ewig schlecht gelaunten Godard auf die Sonnenbrille zu schauen. Ein Großbürger spielt Stalinist. Es scheint ihm zu behagen, andere demütigen zu können oder wenigstens dumm aussehen zu lassen.
Wieder zu Hause. Angeblich soll Patti Smith in Godards letztem Film mit dem Titel “Film Socialisme” von 2010 mitspielen. Nachschauen …!
Stimmt:
Lalanne: Why did you invite Alain Badiou and Patti Smith to be in your latest film, but ended up filming them so little?
Godard: Patti Smith was there, so I filmed her. I don’t see why I should have filmed her for any length of time greater than I would, say, a waitress.
Lalanne: Why did you ask her to be involved?
Godard: So that there would be one good American. Someone who embodies something other than imperialism.
John Wayne ist tot.
Mittwoch, 8. Juni 2011 – Zehnuhrneunundzwanzig, achtzehnkommanull. Nass.
Die Techniken, sich unbeliebt zu machen, sind zahlreich. Ich scheine die meisten davon zu beherrschen. Es geht mit Lügen so gut wie mit Offenheit. Mit Schweigen so gut wie mit Reden. Aber was ist das für ein unterschwelliger Drang, in der eigenen Umgebung alle paar Jahre abzuräumen? Nicht im ersten, engsten Kreis, aber doch schon im zweiten, weiteren. Platz schaffen. Türen zuschlagen. Das stumme Gehocke beenden, das entsteht, wenn man sich zu lange, zu gut kennt, wenn man mit jedem Wort, mit jeder Geste berechenbar für einander geworden ist. Die Differenz, die schon vorher da war, die vielleicht die Attraktion ausgemacht hat, wird zum Ärgernis. Man muss sie nur ein wenig deutlicher machen, um zu verstehen: jetzt langts!
Wäre es angenehmer, alle könnten sich ein Leben lang entspannt um- kreisen wie Fische, mal näher, mal ferner, irgendwann wieder näher … ?
Vor drei Jahren ist Rühmkorf gestorben.
Samstag, 4. Juni 2011– Sechsuhrfünfundvierzig, siebzehnkommafünf. Strahlend schon jetzt.
Was geschieht, wenn nichts geschieht: Ein Wind kommt auf. Der Uhrzeiger rückt eine Minute weiter. Der Wind bewegt die Blätter. Der Kühlschrank springt an. Der Rettungshubschrauber startet und dreht nach Westen ab. Ein Rosenblatt fällt. Vor dem Fenster geht eine Frau mit Rucksack vorbei. Ein Handwerker sitzt in einem kleinen Lieferwagen und wickelt sein Frühstücksbrot aus. Es beginnt zu regnen. Das rote Standby-Lämpchen leuchtet. Eine Hummel sitzt auf dem Parkett vor der Terrassentür. Das Telefon klingelt. Niemand hebt ab. Es hört auf zu regnen. Ich öffne die Terrassentür und lasse die Hummel ins Freie.
Lektüre: Patti Smith’ “Just Kids”.
Am 4. Juni 1942 starb im Ghetto von Krakau Mordechaj Gebirtig.
Mittwoch, 1. Juni 2011 – Neunuhracht, elfkommafünf. Herbst.
Zum Mousonturm. Charlotte und Atilla winken schon auf der Straße. Das Foyer ist überfüllt. Bier. Annette und Stefan sind auch da, beide so groß und dünn. Wir sind uns einig: So wie die anderen fünfhundert Menschen, die zu diesem Konzert wollen, sehen wir nicht aus, so alt, so von gestern … Aber genau so sehen wir aus. GENAU SO! Patti Smith hat eine Erkältung. Wie immer trägt sie Jeans, weißes T-Shirt, schwarzes Jackett. Sie lacht, sie hustet, sie flirtet, trinkt Tee, krächzt, lutscht Eukalyptusbonbons, entschuldigt sich wieder und wieder für ihre schüttere Stimme. Was für eine umwerfend charmante Hexe. Sie ist vierundsechzig Jahre alt. Sie hält eine kleine Predigt. Dass man auf die Straße gehen muss, dass man seine Stimme erheben muss. Auch wenn es vielleicht vergeblich ist. Use your voice! Und dann fügt sie an: Even such a voice. Lustig. Eigentlich eine gute, einfache Lebensregel. Sag Deine Meinung! Wirf Dich in die Waagschale! Mehr geht nicht, aber das immerhin geht. USE YOUR VOICE! Sie singt: People Got the Power. Wir gehen ins El Pacifico, das es immer noch gibt. Bier. U-Bahn. Regen. Heute erheben wir unsere Stimmen nicht mehr. Heute sinken wir mal nur noch ins Bett.
Aber wo ist der Patti-Smith-Film? Dream of Life. Ich brauche ihn, jetzt, sofort. Aber ich finde ihn nicht, er ist nicht da. Ich bin gerichtet.
Anna Seghers ist tot. Und der Pfarrer Oberlin.