Geisterbahn

Dienstag, 30. August 2011 – Fünfuhrelf, zehnkommasechs. Dunkel. Laut. Wach seit kurz vor vier. Immer noch dieselben Meldungen wie vor sieben Stunden: Gaddafi-Familie flüchtet nach Algerien. Westerwelle klammert sich ans Amt. Hurrikan frisst Kälteloch in den Atlantik.

C. kommt aus ihrem Französisch-Konversationskurs, den sie gemeinsam mit zwei dreißigjährigen Bankern belegt hat. “Weißt du was”, sagt sie, “die beiden wussten nicht, wer Daniel Cohn-Bendit ist. Sie hatten den Namen noch nie gehört.”
Mir kommt diese Information so bodenlos vor, dass ich einen Moment lang nicht sicher bin, ob ich sie glauben will. Wenn die beiden Banker gesagt hätten, sie mögen Cohn-Bendit nicht oder er sei ihnen egal, aber so … Sie wissen, wo man Stretchlimousinen mieten kann, sie wissen, wo es den saubersten Tabledance gibt, welche lustigen, neuen Apps gerade auf dem Markt sind und wo das Sushi am leckersten ist. Sie und ihresgleichen stürzen gerade die Welt ins Verderben, aber diese beiden, die in Frankfurt leben, haben den Namen Cohn-Bendit nie gehört. Wahrscheinlich halten sie Willy Brandt für den neuen Hauptdarsteller des Münchner “Polizeiruf” und Adolf Hitler für einen Rentner aus Braunau, der seine beiden Töchter vierzig Jahre lang missbraucht hat.
Warum besuchen solche Menschen einen Konversationskurs? Sie sollten sich nicht zu Wort melden. In keiner Sprache.

“Du hasst zu viel”, sagt Christian, “du darfst nicht hassen!” Und das werde ich mir jetzt auf einen Zettel schreiben, den ich in die Hosentasche stecke, damit ich es nie, nie, nie mehr vergesse.

Erster Todestag von Alain Corneau, dessen “Police Python 357” ich immer noch nicht gesehen habe. Sollte jemand im Besitz einer Aufnahme sein, bitte ich um Benachrichtigung unter altenburg@wpfw.de

Freitag, 26. August 2011 – Elfuhrachtundvierzig, vierundzwanzig- kommasechs. Schleierig, tropisch. Nachts vom Unwetter aufgewacht. Nicht wieder eingeschlafen. An die offene Terrassentür gestellt und dem himmlischen Gelichter zugeschaut.

Kleine Runde über Bonames. In Harheim, unten in der Sackgasse an den Sportplätzen: Irgendwas stimmt mit dem Sattel nicht. Ich steige ab, schiebe das Rad über die kleine Wiese, setze mich auf eine Bank und beginne zu schrauben. Auf der Straße, fünfzig Meter von mir entfernt, hält mit quietschenden Reifen ein verrosteter weißer Polo. Die Türen werden geöffnet, wummernde Bässe sind zu hören, zwei laute Männer steigen aus. Ein Kleiner mit dunklen, verfilzten Haaren, ganz in dreckiges Schwarz gekleidet. Ein Großer in Jogginghose – ärmelloses Shirt, blondierte Haare, Muskelpakete, tätowiert. Man meint, sie zu riechen. Sie gucken zu mir rüber, grinsen. Der Große klappt den Fahrersitz nach vorne und lässt einen Pit Bull ins Freie. Das Tier bewegt sich schwerfällig, wird auf die Wiese geschickt, in meine Richtung. Die Männer gucken zu mir rüber, schauen sich an, sagen irgendwas, lachen. Lachen böse. Grölen. Der Pit Bull kackt und guckt mich an. Die Männer lachen wieder. Gucken. Grölen. Ich verstehe nur zwei Worte: “Schwule Ratte.” Drei mal höre ich die beiden Worte: “Schwule Ratte”. Eine Walkerin kommt aus dem Kleingartengelände. Als sie sich meiner Bank nähert, frage ich sie nach der Uhrzeit. Sie zieht ihr Handy hervor. Ich will nur, dass sie kurz in meiner Nähe bleibt. Ich muss ihr nichts erklären, sie versteht. Der Hund wird zum Auto gepfiffen und auf den Rücksitz verfrachtet. Die Männer steigen ein, fahren davon. Ich bedanke mich bei der Frau und wünsche ihr einen schönen Tag.

Er ist müde, muss morgen wieder früh raus, will nach Hause, will sich aber nicht von jedem einzeln verabschieden. Was also sagt er? “Ich sag dann mal global tschüß!”, sagt er.

Vor sechs Jahren ist Anne Bärenz gestorben.

Mittwoch, 17. August 2011 – Neunuhrnull, sechzehnkommazwei Grad.

Alles ist offen. Die Supermärkte sind offen. Die Tankstellen sind offen. Die Museen sind offen. Die Banken sind offen. Die Fahrkartenschalter sind offen. Der Himmel ist offen. Nur ich bin zu. Vernagelt. Verrammelt. Geschlossene Gesellschaft.

“Ich werde nie auf der Liste derer stehen, die Dinge tun. Ich tue nichts. Überhaupt gar nichts. Ich habe Nägel gekaut, aber selbst das tue ich nicht mehr.” (Dorothy Parker)

Lektüre: Karl Schlögels “Terror und Traum. Moskau 1937”.

Grimmelshausen ist tot.

Freitag, 12. August 2011 – Sechsuhrfünfzehn, siebzehnkommaneun. Bewölkt. Hat geregnet. Wach seit kurz nach drei. Gelesen: die unglaubliche Geschichte über Kurt Lichtenstein und Kurt Müller und die Rolle Max Reimanns.

“Daher kommt es denn auch, daß der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle, hier offen erklärt ist. (…) Und was von London gilt, das gilt auch von Manchester, Birmingham und Leeds, das gilt von allen großen Städten. Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der andern Seite, überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand, überall gegenseitige Plünderung (…), und das alles so unverschämt, so offenherzig, daß man vor den Konsequenzen unseres gesellschaftlichen Zustandes, wie sie hier unverhüllt auftreten, erschrickt und sich über nichts wundert als darüber, daß das ganze tolle Treiben überhaupt noch zusammenhält.”
(Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845).

Tot ist der Maler Franz Radziwill, auch Naziwill genannt.

Donnerstag, 11. August 2011 – Zwölfuhrvierzig, zwanzigkommasechs. Wolken.

In keinem anderen westeuropäischen Land, so konnte man dieser Tage in vielen Zeitungen lesen, ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in Großbritannien. Die oberen zehn Prozent der Gesellschaft verfügen über hundertmal so viel Geld wie die unteren zehn Prozent. Damit das so bleibt, gibt es Politiker wie David Cameron. Er hat den depravierten Revolteuren ein “fightback”, einen Gegenschlag angekündigt, bei dem es “keine falsche Rücksichtnahme auf die Menschenrechte” geben dürfe. Man beginnt zu ahnen, dass solche Politiker die Demokratie gleich ganz drangeben würden, um ihren Klassenauftrag zu erfüllen.

Carlo Mense ist tot. Und Jane Digby, die “Nomadin der Herzen”.

Mittwoch, 10. August 2011 – Zwölfuhrneunzehn, sechzehnkommanull. Wolkig.

Der britische Premierminister David Cameron bezeichnet die Jugendrevolten in England als “pure Kriminalität”. Seine Innenministerin Theresa May verurteilt die Riots als “Verbrechen”. Allein, dass beide sich genötigt sehen, dies so ausdrücklich zu betonen, weist darauf hin, dass nicht einmal sie selbst glauben, damit die Ereignisse erklären zu können.

Seiner zuerst 1967 im Suhrkamp Verlag erschienenen Studie “Was ist Stalinismus?” stellte der Soziologe Werner Hofmann eine Widmung voran: “Den Leidenden und den Denkenden”.

Frank Loyd ist tot.

Montag, 8. August 2011 – Zwölfuhrnull, sechzehnkommafünf. Regen, Sonne, Regen. Wind.

Am Samstag nach Essen ins Folkwang Museum. Anschließend Düsseldorf ins K 20 und K 21. Dann nach Bergisch Gladbach, Abendessen im Restaurant Fachwerkhaus, Übernachtung im Hotel Malerwinkel. Samstag nach Köln ins Museum Ludwig. Insgesamt: fette Augenbeute.

Im Folkwang:
Matisse: Nature morte aux asphodeles, 1907
Valloton: Quai de Seine au sable rouge, 1901
Picasso: Bouteille, guitare et pipe, 1912/13
Heckel: Hockende, 1912 (Plastik)
Pollock: Two Sided Painting, 1950/51
Emilio Vedova, Tensione, 1958

Im K 20:
Klee: Omphalocentrischer Vortrag, 1939, 690 (KK10)
Klee: Gedanken bei Schnee, 1933, 32 (L12)
Beuys: Tram Stop Venedig, 1977
Alberto Burri, Wheat, 1956
Rauschenberg: Wager, 1957-59
Duchamp: La broyeuse de chocolat, 1914
Picasso: Fenêtre ouverte, 1919
Schwitters: Kleines Seemannsheim, 1926
Tàpies: Grand diptyque avec raies, 1988
Pollock: Number 32,1950

Im K 21:
Valerie Favre: Ohne Titel (Zebra)
Armin Boehm: Ohne Titel (Combine)

Im Ludwig:
Kirchner: Weiblicher Halbakt mit Hut, 1911
Beckmann: Selbstbildnis mit schwarzer Kappe, 1934
Picabia: La nuit espagnole, 1922
John de Andrea: Ohne Titel (Studioszene, Figurengruppe), vor 1977
Jasper Johns: Eddingsville, 1965
Jasper Johns; Large White Numbers, 1958
Rauschenberg: Autobiography, 1968
Rauschenberg: Odalisque, 1955-58
Kippenberger: Ohne Titel (Vögel und Panzer), 1991
Gerhard Richter: Abstraktes Bild, 1992
Gerhard Richter: Betty, 1977
Richard Hamilton: Bathers, 1966/67
Öyvind Fahlström: Roulette, 1966

Tot ist der kubanische Boxer (Superfedergewicht) mit dem schönen Namen Kid Chocolate.

Donnerstag, 4. August 2011 – Zwölfuhreinundzwanzig, dreiundzwanzigkommanull. Grau.

Dem Entführer und Mörder Magnus Gäfgen waren während eines Verhörs durch die Frankfurter Polizei “unvorstellbare Schmerzen” angedroht worden, wenn er den Aufenthaltsort des von ihm verschleppten Jungen nicht preisgebe. Wegen dieser “schwerwiegenden Rechtsverletzung” hat ihm jetzt das Frankfurter Landgericht eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro zugesprochen. Kommentar von Spiegel online: “Das Urteil stellt das Rechtsempfinden vieler Menschen auf die Probe”. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Hätte das Gericht ihm diese Entschädigung nicht zugesprochen, hätte es die verbotene Folterdrohung nachträglich gutgeheißen und damit Unrecht zu Recht erklärt. Der Entführer und Mörder ist für seine Verbrechen verurteilt worden. Rechtlos darf er niemals werden.

Es gruselt einen, wenn man weiß, das einer, der eine solche Sprache schreibt, Träger des nach Ludwig Börne benannten Preises ist: “Tatsache ist, dass der staatlich organisierte Pogrom, der derzeit in Syrien stattfindet, dem linksreaktionären Gutmenschenpack dermaßen an seinem Moralarsch vorbeigeht wie ein Furz einer Fanfarenkapelle.” (Henryk M. Broder am 3. August 2011)

Ernst Bloch ist tot.

Dienstag, 2. August 2011 – Vieruhrachtunddreißig, vierzehnkommasieben Grad. Dunkel. Wach seit halbvier. Zahnschmerzen.

Gestern auf breiten Reifen in die Stadt. Auf der Friedberger Landstraße ein tiefrotes, altes Basso. Ich sage dem Fahrer, wie gut mir sein Rad gefällt. Danke, sagt er, Baujahr 1981. Und wie das blitzt.
Schon an einem normalen sonnigen Wochentag ist die Zeil kaum auszuhalten. Seit man aber meint, alle naselang etwas feiern zu müssen, ist nicht einmal mehr in der Ferienzeit ein Durchkommen. Dieser Tage: Settimana italiana. Gibt trotzdem Rindswurst mit englischsprachiger Popmusik. Wie eine Trutzburg steht die Katharinenkirche im Trubel. Martin lädt mich ein, mit hoch zur Orgel zu kommen. Er spielt César Franck und Bach. Ob er weiß, was er seinen Zuhörern mit diesen 30 Minuten schenkt? Für eine halbe Stunde ist man aus der Welt und bei sich. Dann sitzen wir noch eine Weile in der Frühabendsonne, spinnen, planen. Eine Arme, eine Verrückte kommt vorbei, bittet um Geld und sagt, dass es jetzt so weit sei, sie werde nun endgültig einen Brief an die Rundschau schicken. Sie gibt mir die Kopie eines eng bekritzelten Zettels. Dort ist von Ärzten die Rede, von Obdachlosen, von Jesus Christus und den Ameisen …

Götz berichtet, er sei in Marburg an einigen Mietshäusern vorbei gekommen, wo jemand über den Namen auf den Klingelschildern in Schönschrift die Aufforderung angebracht habe: “Folgende Personen werden zum Klassenkampf aufgefordert”.

Raymond Carver ist tot.