Montag, 26. September 2011 – Vieruhrdreißig, elfkommafünf. Dunkel. Wach seit einer Stunde. Ging halt nicht mehr.
Das Hinweisschild nach Trutzhain lockt uns von der Strecke. Wo jetzt ein Dorf diesen Namens liegt, gab es vor siebzig Jahren nichts, dann Zelte, dann wurden die langen Reihen aus Fachwerkbaracken gebaut. StaLag IX A hieß das “Stammlager Ziegenhain”, das größte hessische Kriegsgefangenenlager, das die Nazis von den Insassen selbst errichten ließen. Bis zu 8000 Gefangene waren hier gleichzeitig untergebracht, unter ihnen auch der spätere französische Staatspräsident Mitterand. Die Baracken stehen noch, aus ihnen sind jetzt geranienbewehrte Reihenhäuser geworden. Katzen huschen über die Wege, die Straße wird gekehrt, Autos gesaugt. Wenig soll an das StaLag erinnern, aber alles erinnert daran.
Dann nach Leimsfeld und zu Fuß über die Wege und Wiesen der Kindheit zur Ziegelhütte in den Schützenwald. Schöner hätte der Tag nicht sein, besser hätte man den Ort nicht wählen können für unser Familientreffen. Die Erinnerungen fliegen: War da nicht …? Da war doch …! Es ist, als ob der Wärmestrom der Großeltern die Sippe noch immer erreicht – nun schon bis zu den Ururenkeln. Alles ist da: Heiterkeit, Wohlwollen, Trauer, Befangenheit, Misstrauen, Hinwendung, Kraft, Schwäche, Trost. Die Toten sind mitten unter den Lebenden, und auch die beiden Tanten, die längst in ihren eigenen Welten versunken sind, werden ganz selbstverständlich umschlossen.
Gestern mit Lutz die Tour de Götzenhain gefahren. Abschied vom Sommer, eine letzte Bratwurst an der Mauer in der Sonne …
Der Papst will die Kirche “entweltlichen”. Dann soll man aber bitte auch die Politik “entkirchlichen”, anstatt diese Nebelkrähe zu hofieren und ihr vor dem weltlichen Parlament ein Forum zu bieten.
Heute vor einundsiebzig Jahren hat sich Walter Benjamin in Portbou das Leben genommen.
Mittwoch, 21. September 2011 – Fünfuhrfünfundvierzig, sechskomma- neun. Dunkel. Wach seit kurz nach zwei. Die Tage dieser Tage: voll, voll. voll.
Er schaut auf der Straße verstohlen einer Frau mit tiefem Dekolleté nach.
Seine Begleiterin: “Die mit ihren schönen, arroganten Brüsten …”
Nachdem ich vor zwei Tagen nach langer Zeit mal wieder auf das Leserinnenforum der Frauenzeitschrift “Brigitte” geriet, die Gewissheit: Es gibt Menschen – nicht nur Männer – die sich ganz und gar durch das Ficken definieren.
Tot ist Peter Vogel (“Kottan ermittelt). Und das schon seit 33 Jahren.
Montag, 12. September 2011 – Sechsuhrsiebenundvierzig, dreizehnkommaacht. Wie blau und rosa gerade der Himmel im Osten noch glühte. Und wie das Glühen jetzt rasch erlischt.
Freitag, 13 Uhr. Atilla steht mit dem sandfarbenen Volvo am Rand der Aral-Tankstelle auf der Homburger Landstraße. Wir fahren zum Bunker an der Kaiser-Sigmund-Straße. Proben. Schleppen die Anlage zum Wagen. Fahren nach Wiesbaden zur Villa Clementine. Schleppen die Sachen ins Haus. Bauen auf. Der freundliche Hausmeister. Frau Lewalter, Kathrin Fischer, der Haslinger. Bisschen was essen. Haslingers Lesung. Bisschen Pause. Auftritt, schön. Bisschen lungern. Abbauen. Sachen ins Auto schleppen. Nach Frankfurt fahren. Als wir wieder vor dem Bunker stehen, sagt Atilla: “Es ist null Uhr”. Sachen hochschleppen. Um zwei Uhr bin ich schließlich wieder so weit unten, dass ich einschlafen kann.
Was für ein schöner Satz: “Löwen sind nicht oft in Schränken”. Stammt aus den Willi-Wilberg-Geschichten, von denen ich nicht einmal gehört hatte. Lothar Müller zitiert ihn in einer Besprechung, deren Untertitel schon wohltut: “Endlich wieder ein erzromantischer, unrealistischer Roman voller Wirklichkeit: Sibylle Lewitscharoffs ‘Blumenberg'”. Jetzt, da die unromantische Wirklichkeit brandet wie lange nicht mehr.
Gestern zum ersten Mal die “Last Night of the Proms” gesehen. Mit Vergnügen und belustigt der fremden Stammesfolklore gefolgt.
Vor einem Jahr ist Claude Chabrol gestorben.
Dienstag, 6. September 2011 – Neunuhrsiebenunddreißig, dreizehn- kommafünf. Wolkig, aber recht hübsch. Wach seit kurz nach vier.
Geld verloren. Hektische, vergebliche Suche. Kleine Verzweiflung. Trost spendet nur die Hoffnung, es möge jemand gefunden haben, der es nötiger braucht. Dann freilich wäre es eine gerechte Umverteilung – und somit okay.
Gestern Stalburg. Herl müde. Braun munter. Erzählt begeistert von Petrenkos Lohengrin-Dirigat in Bayreuth und noch begeisterter von Stefan Herheims Parsifal-Inszenierung. Gespannt auf das Buch “Chronik der Lektoren”, ein Stück bundesdeutscher Verlags- und Geistesgeschichte. Und auf Boehlichs ausgewählte Schriften mit dem schönen Titel: “Die Antwort ist das Unglück der Frage”.
Gestern die Mail an D. mit meinem Vorschlag. Keine dreiviertel Stunde später die Antwort: “Das finde ich eine sehr gute Idee.”
Heute Morgen legt Chr. eine DVD auf den Tisch. Ich glaub es nicht, es ist Corneaus “Police Python 357”. Der unglaubliche Ungureit hat sie mit in den Verlag gebracht. Wenn dieses Tagebuch je einen Sinn hatte … Und gerade sehe ich noch die nette Mail eines Geisterbahnfahrers, der mir einen Link auf den Film schickt …
Hanns Eisler ist tot.