Donnerstag, 24. November 2011 – Elfuhrachtundfünfzig, nullkommaeins. Nebel. Nass.
Unser Dorf soll schöner werden? Es ist (fast) vollbracht! Dazu die Meldung des Tages aus der Süddeutschen Zeitung: “Die Stadt Frankfurt will nach dem Umzug der Europäischen Zentralbank die berühmte Euro-Skulptur des Künstlers Ottmar Hörl vor dem aktuellen Bank-Hochhaus wegwerfen. Die Skulptur besteht aus einem blauen Euro-Zeichen mit gelben Sternen und ist ein Geschenk des Künstlers an die Bank. Ein Sprecher des Geldhauses deutete an, dass dieses kein gesteigertes Interesse mehr an dem Kunstwerk hat: ‘Manche Geschenke mag man eher als andere.'”
Da fragt man sich, warum die Banker ausgerechnet jetzt beginnen, mit ihrem Goldenen Kalb zu fremdeln und ob man sie so einfach davonkommen lassen sollte? Oder ob es nicht besser wäre, den Klotz mit grauem Spritzputz zu versehen und ihn als Mahnmal – wie Oliver Reese eben vorschlug – in ein Museum zu verfrachten.
Heute Nacht hat sich der Sänger Ludwig Hirsch (“Komm, großer schwarzer Vogel”) aus einem Fenster des Wiener Wilhelminenspitals zu Tode gestürzt.
Montag, 21. November 2011 – Siebenuhrsechsundvierzig, einskommasechs. So ein zarter, lachsfarbener Streif über der Dachbegrünung.
Sinne immer noch darüber nach, was Charlotte, Adrian und Atilla am Freitag auf der Bühne eigentlich veranstaltet haben, um den Saal dermaßen zu verhexen. Mann, war da Strom in der Luft …
Es gab einige dumme Nachrufe auf Degenhardt. Die dümmsten erschienen in der jungen welt und im Neuen Deutschland, an Dummheit nur noch übertroffen von jenem in der UZ, der Zeitung der DKP. So viel Denkfaulheit ist von Niedertracht kaum noch zu unterscheiden.
Durch mit Eva Demskis “Rheingau”-Büchlein. Glitzernd, schwebend, aufs Feinste ausbalanciert. Lange her, dass man so beglückende, so anregende Reisebilder lesen konnte. Und dann kommt Jörg und schlägt vor, doch mal nach Johannisberg ins Weingut Trenz zu fahren, wo es Dreierlei vom Handkäs …
Heute vor einem Jahr starb Luis Corvalán, den ich einmal von weitem gesehen habe.
Mittwoch, 16. November 2011 – Elfuhrelf, nullkommaein Grad. Leicht bewölkt.
Gestern Abend gegen Mitternacht, als ich alles hinter mir gelassen hatte, die Nibelungen, den Herl und die Demski, die freundliche Wirtin mit ihren traurigen Geschichten aus Griechenland, die Bürgermeisterin mit ihrem Kohlenkastenlachen und die Nobelpreisträgerin, die so dünn und verloren am Katzentisch rauchte und so offenkundig gar nicht fassen wollte, dass wir einfach munter weiter quatschten, wo doch sie, keine drei Meter von uns entfernt … Als das alles hinter mir lag, nur die Gedanken an den toten Degenhardt nicht, suchte ich noch eine halbe Stunde Ablenkung in dem grünen Büchlein, das Eva uns zugesteckt hatte. Und fand dort stattdessen Trost in einer Prosa, die so luftig, so beherzt, so traumwandlerisch vom Rhein, vom Wein, von den Katzen, den Gänsen und Mädchen erzählt, dass ich gleich auch noch das schönste aller Rheinlieder hören wollte: “Am Strom und bei der Lorelei”.
Saramago hat Geburtstag.
Dienstag, 15. November 2011 – Achtuhrzweiundfünfzig, minus einkom- manull Grad. Wieder Nebel.
Vor dieser Nachricht hatte ich seit Jahren Angst: Der Degenhardt ist tot.
Mittwoch, 9. November 2011 – Zehnuhrneun, vierkommavier. Grau, Ostwind, neblig.
Am Abend mit der U4 in die Stadt, vergesse an der Konstabler auszusteigen, fahre weiter bis zum Willy-Brandt-Platz, ein Gang durchs dunkle Camp. Um die Feuertonne eine Gruppe Roma, viele Obdachlose. Mir gefällt das. Es war Joss Fritz, der die Bettlerbanden Süddeutschlands zur Unterstützung der aufständischen Bauern organisiert hat.
Zu Fuß zum Club Voltaire, wo ich sicher zwanzig Jahre nicht mehr war. Ein Biotop aus den Sechzigern. Klaus Bittermann hatte eingeladen zur Titanic Sneak Preview, zu der er als auswärtiger “Stargast” gebeten war. Vor der Tür steht Jürgen Roth und sagt: “Bittermann ist krank. Ich bin heute Bittermann”.
Aber erstmal kommen die Titanic-Leute: Das Hauptobjekt ist Occupy; ist halt am einfachsten. Das Meiste ganz treffend, ganz fix. Trotzdem so eine Atmosphäre irgendwo zwischen Stefan Raab und einer intelligenten Schülerzeitung. Ziemlich verschwitzt. Nicht mein Milieu, aber muss ja auch nicht. Jürgen hat es schwer, liest Ausschnitte aus dem Chotjewitz-Buch – ein Autor, den in diesem lachwilligen Publikum kaum noch jemand kennt.
“Sich kaputtlachen” bekommt in solcher Umgebung eine neue, deprimierende Bedeutung.
Immerhin verspricht man mir die gesammelten “Titanic”-Kolumnen von Boehlich, womit es sich doch gelohnt hätte, aus dem Haus zu gehen.
Am 9. November 1848 wurde um 9 Uhr morgens Robert Blum am Jägerhaus in der Brigittenau bei Wien erschossen. Priestergebet und Augenbinde hatte er abgelehnt. “Alles, was ich empfinde, rinnt in Tränen dahin.”
Dienstag, 8. November 2011 – Achtuhrvier, fünfkommaeins. Hell.
Am Wochenende wurden in der Frankfurter Oper die Faust-Theaterpreise verliehen. Gegenüber vom Theater steht das Hochhaus der Europäischen Zentralbank, davor die große Skulptur des Euro-Symbols und drumherum lagern die Occupy-Leute in ihren Zelten. Oliver Reese, Intendant des Frankfurter Schauspiels zu “Kulturzeit”: “Ich bin erstmal ganz froh, dass das scheußlichste Pseudokunstwerk der Stadt, dieser abartige Groß-Euro von dem Möchtegern-Künstler Otmar Hörl, dass dieses Ding endlich seine optische Rechtfertigung bekommt. Ab jetzt wird man es sich nicht mehr ohne die Zelte und ohne die Transparente vorstellen können. Und das macht es auf einmal zum Gegenstand einer Performancekunst, womit man gar nicht mehr rechnen durfte”.
So dankbar ich Ihnen bin, verehrter Oliver Reese, nicht mehr allein zu sein in meinem Feldzug gegen dieses Schandmal unserer Stadt, schlage ich doch vor, dass wir uns nicht zufrieden geben mit seiner optischen Infragestellung, sondern stattdessen eines Nachts im Schutze der Dunkelheit, jeder mit einer Stange Dynamit in der Hand …
Tot ist der Zahnarzt und Revolverheld Doc Holliday
Donnerstag, 3. November 2011 – Siebenuhrvier, achtkommaneun. Im Osten über den Dächern ein langer Streifen blau und rot und pink und grau und violett …
Bin zum zweiten Mal in den Erinnerungen von Chotjewitz versunken und lese ganze Passagen wie zum ersten Mal. Ich hatte sie bei der ersten Lektüre nicht aufgenommen, weil hier jede Seite so anregend ist, dass man dauernd freudig ins Sinnieren kommt oder aufspringen möchte, um einen vorher nie gedachten Gedanken zu notieren. Unendlich viele Überraschungen, Erfrischungen stecken in diesem Text. Und man ahnt, dass seine außerordentliche Wirkung auch darauf beruht, dass es eben zunächst eine mündliche Erzählung war, deren Abschrift allerdings von Jürgen Roth zu einem so federnden, luftigen, offenen Buch gemacht wurde, dass man meint, den Autor sprechen zu hören und das einem, egal, wo man es aufschlägt, schon seiner Form wegen gute Laune bereitet. Ein armer Tropf, wer meint, auf dieses Vergnügen verzichten zu können.
Sonst? Steuererklärung abgegeben. Mit Occupy demonstriert. Internationale gesungen. Die Freitreppe der Commerzbank besetzt. Die erste Hälfte der “Geisterbahn” korrigiert. Mit dem Wintertraining begonnen …
Am 3. November 1783 wurde der Straßenräuber John Austin als letzter Verurteilter am Galgen von Tyburn gehängt. Tyburn hatte bis dahin sechs Jahrhunderte lang als öffentliche Hinrichtungsstätte der City of London gedient. Die Redewendung “You’ll dance the Tyburn jig” hieß: Du wirst am Galgen zappeln.