Geisterbahn

Mittwoch, 29. Februar 2012 – Achtuhreinundvierzig, siebenkommaneun Grad. Alles grau. Wach seit vier. Was ist denn jetzt los? Über Nacht hat sich die Zahl der Geisterbahn-Besucher verdreifacht – “Was soll wohl los sein? Der Fihilm!” – Ach so, der Fihilm, der Fihilm.

An kaum einem Ort benehmen sich die Leute so haltlos wie auf dem Parkplatz einer Raststätte – zumal in einer Sommernacht, zumal bei großer Hitze.
Und selten sind sie befangener, verstellter als beim Betreten eines Restaurants, das sie “fein” nennen.

Der Schrecken sitzt, den mir Annette verschafft hat, als sie darauf hinwies, wie oft das Wort “verkommen” in der Geisterbahn auftaucht. Aus welcher Gemütslage steigt ein solcher Begriff denn auf? Aus einer der Selbstgerechtigkeit? Der Bösartigkeit? Jedenfalls ist es nicht damit getan, das Wort künftig zu vermeiden.

Nur wenige Tote an diesem seltenen Tag.

Sonntag, 26. Februar 2012 – Zehnuhrsiebenunddreißig, fünfkommaneun. Wolken mit was Blau dazwischen.

Gestern Abend im Literaturhaus. Hauke Hückstädt, der freundliche Leiter, schleppt Stühle herbei. “Oh”, sage ich, “hier kocht der Chef” und helfe ihm. “So kann man sich auch beliebt machen”, sagt er und lächelt. Meint er sich oder meint er mich? Hätte ich mich wirklich beliebt gemacht, wäre das eine Premiere und sollte nicht wieder vorkommen. Ich verspreche, keine Stühle mehr zu schleppen.
Das Hörspiel “Vier Lehrmeister” des Chinesen Liao Yiwu wird heute hier als “Hörspiel des Jahres” ausgezeichnet. Mehrmals wird betont, dass der Preis nicht dotiert, mithin ein reiner Ehrenpreis sei. Nach der diesjährigen Entscheidung der Jury kann von Ehre keine Rede mehr sein. Zum Glück habe ich nichts zu sagen, sonst hätten die drei Juroren jetzt Berufsverbot. Das Werk ist eine kreuzbrave Weihestunde, poetisch infantil, ästhetisch noch nicht mal schlichtes Biedermeier. Hätte ein deutscher Autor aus einem hiesigen Stoff etwas Ähnliches gemacht, wäre er nicht zu Unrecht gepriesen, sondern zu Recht belächelt worden.
Zum Abschluss und Höhepunkt des Abends gibt uns der Chinese einige Beispiele seiner “hohen Vortragskunst”: Er traktiert eine Klangschale und jault in den Saal. Die Bevölkerung ist begeistert. Als ich wiederholt auf Beifall verzichte, wird neben mir umso frenetischer applaudiert. Ich nehme mir vor: Sollte mich gleich im Foyer jemand fragen, wie es mir gefallen hat, werde ich sagen, ich sei noch zu ergriffen, als dass ich mich schon äußern könne.

Wahrhaftig: Man kann gar nicht genug versäumen.

Todestag von Max Taut.

Freitag, 24. Februar 2012 – Zehnuhrvier, sechskommaneun. Feuchte Welt.

Das Gauck. Es gibt uns schonmal einen Vorgeschmack. Der Mann saß im Taxi, als ihn der Anruf der Kanzlerin erreichte, dass er nun doch Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten werden könne; er solle bitte ins Kanzleramt kommen. Gauck zum Taxichauffeur: “Sie fahren den neuen Bundespräsidenten. Wir ändern die Richtung.” Da war er gerade mal geworden, was er ist und bleiben sollte: ein Kandidat, sonst nichts.
Gestern dann, als in Berlin die Gedenkveranstaltung für die zehn Opfer der Nazimorde stattfand, ließ er ein Foto von sich und drei türkischen Frauen machen. Gauck: “Mit schönen Menschen lasse ich mich gerne fotografieren.”
Frau Merkel wusste schon, warum sie das nicht haben wollte.

Titelseite der rechten Wochenzeitung “junge freiheit” zur Gauck-Nominierung: “Wir sind Präsident”.

Als die Partei “Die Linke” bekannt gab, dass sie als Gegenkandidatin Beate Klarsfeld ins Rennen schicken wolle, dachte man: “Oha, das ist ein Coup!” Nur einen Tag später hieß es dann aber, es gebe innerparteiliche Vorbehalte gegen eine solche Kandidatin, viele Mitglieder hielten Frau Klarsfeld für … Na, für was wohl? Zu israelfreundlich.
Mit Antifaschismus schmückt man sich gerne in dieser Partei. Am liebsten hätte man ihn wohl “judenfrei”.

Tot ist der Rennfahrer René Le Bègue. Er starb an einer Kohlen- monoxidvergiftung. Wirklich.

Dienstag, 21. Februar 2012 – Achtuhrvier, minus dreikommazwei. Wolkig, aber wird.

Vergesst Wulff, vergesst Gauck, vergesst Kracht, vergesst die ganze Tageszeitungsscheiße! Lest Chotjewitz!
Nach “Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß” bin ich gerade durch mit “Mein Freund Klaus” – dem todtraurigen, fünfhundertsiebzig Seiten dicken Vorläufer. Klaus ist Klaus Croissant, jener Anwalt, den man uns nach Baadermeinhofensslins Tod als das damals neueste Megagruselmonster verkaufen wollte und mir erfolgreich als ein solches verkauft hat.
Chotjewitz war mit seinem geächteten, gehetzen, verfolgten, verhafteten, verurteilten Kollegen Croissant befreundet, ohne ihn recht zu kennen. Also macht er sich nach dessen Tod auf Spurensuche – akribisch, penetrant, skrupulös, neugierig, freundlich, fleißig, insistierend. Er reist durch die Republik, fragt Freunde, Geliebte, Genossen, Verwandte, Wichtigtuer, Gegner, Arschlöcher, alle, die etwas zu sagen haben oder das nur meinen und bereit sind, zu sprechen. Und schreibt das alles auf.
Es geht um die RAF, um den Staat, um Moral, um Mut, um Unterwerfung, um Verrat, um Demokratie, um Hoffnung, um Anstand, um Wahnsinn, um Hysterie, um niederträchtiges Beamtentum und täglichen Faschismus, um die DDR, die Stasi, die Nazis, die Zukunft. So. Und jetzt? Die RAF ist tot und vergessen, die DDR ist tot und vergessen, Croissant ist tot und vergessen, Chotjewitz ist tot und vergessen. Alles spricht dagegen, dieses Buch zu lesen, das keinen außer mich interessiert. Und als ich die ersten Seiten hinter mir habe, spricht alles dagegen, es nicht zu lesen.
Das Buch ist die Flaschenpost für eine Zukunft, die es nicht geben wird ohne dieses Buch. Man möchte Chotjewitz dauernd widersprechen, möchte aufbegehren gegen seinen Starrsinn, zuckt zurück vor seiner Konsequenz. Und weiß doch im selben Moment: Es geht nicht weiter, ohne das alles zur Kenntnis zu nehmen. Chotjewitz mag nicht frei von Irrtümern, von Verstiegenheiten sein, aber immerhin ist er frei von Lügen, von Kriecherei, was man von kaum einem anderen Darsteller dieser Ereignisse behaupten kann. Und glaubt mir, ich habe sie fast alle gelesen: Stefan Aust, Mario Krebs, Willi Winkler, Butz Peters und die Dokumente, Aussagen, Beichten, Kniefälle und Selbstrechtfertigungen der zahlreichen mehr oder weniger Beteiligten auf der einen oder der anderen Seite. Vergesst das alles! Lest “Mein Freund Klaus”!
Was Brigitte Reimanns Tagebücher für die Wahrheit des deutschen Ostens, sind Chotjewitz’ Bücher für die Wahrheit des deutschen Westens. Sie korrigieren einander gegenseitig. Lest beides, wenn ihr wissen wollt, wo wir herkommen! Und wenn ihr immer noch nicht ganz davon überzeugt sein wollt, dass Gauck und Merkel das Ende aller Geschichte sind.

So, und ich reite nun in die nächsten Jagdgründe. Peter Hacks, ich komme …

Und weil es so schön passt, gleich die erste Beute:
“Recht hin, Recht wieder her, das habt ihr lernen müssen:
Wenns euer Recht nicht ist, seid ihr mit Recht beschissen.”

Allein der zweite Satz hat drei Bedeutungen; und jede stimmt. Wem da nicht das Herz aufgeht …

Auch das noch: Die Reimann hat heute neununddreißigsten Todestag.

Mittwoch, 15. Februar 2012 – Elfuhrfünfzehn, dreikommacht – plus, wohlgemerkt. Trotzdem vollkommen durchgefroren vom Fototermin auf dem nasskalten Lohrberg zurück.

Im gestrigen Spiegel beschreibt Georg Diez den Schriftsteller Christian Kracht als eine Art Stehgeiger des neuen Salonfaschismus. Die Argumente und Belege von Diez scheinen schlüssig; könnte also sein, dass an seinem Befund etwas dran ist. Könnte aber auch sein, dass Kracht bewusst die Grenzen zwischen Ästhetizismus und Antisemitismus verwischt hat, damit Diez so reagiert, wie er es nun getan hat. Könnte also sein, dass Kracht nur wollte, dass es in den Feuilletons kracht. Das tut es schon heute, mithin wäre sein Kalkül aufgegangen, sein Ziel erreicht. Dumm dastehen werden, so oder so, wieder die deutschen Juden – wie nach all diesen Debatten um Jünger, Fassbinder, Botho Strauß und Martin Walser. Denn vom Betrieb nobilitiert wurden am Ende immer die kurzzeitig inkriminierten Autoren. Das weiß Kracht. Das weiß auch Diez. Mithin hätten beide die Juden instrumentalisiert. Heißt das nun, dass man auf solche Debatten lieber verzichten sollte? Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass der deutsche Jude Ignatz Bubis es vorzog, sich in Israel bestatten zu lassen.

Tot ist Daniel Fenner von Fenneberg.

Donnerstag, 9. Februar 2012 – Elfuhrneun, minus neunkommaeins. Bedeckt.

Gesternmorgen 40 Minuten auf dem eisigen Bahnsteig am Frankfurter Hauptbahnhof. Dann Köln. Maritim Hotel am Heumarkt, Bistro Irgendwas. Pressekonferenz zur Ausstrahlung der “Braut im Schnee” mit Matthias Köberlin und Lancelot von Naso. Häppchen, Tässchen, Stoffserviettchen. Die Journalisten sehen alles so mürrischmüde aus, als müssten sie seit vielen Jahrhunderten die Klatschspalten des Müngersdorfer Wochen-Anzeigers füllen. Sofort fühle ich mich zu blöden Clownereien  genötigt. Peter und Tanja kommen, setzen sich an den Katzentisch, Elvis bellt. Köberlin hat halbhohe Budapester aus Wildleder an. Lancelot reißt das Ganze raus mit seiner Geschichte von den vor Kälte “zitternden Leichen” bei den Dreharbeiten. Später auf dem Klo textet mich ein Fotograf zu, “Boulevardfotograf”, sagt er, “aber nicht von der Bild”. Und dass der Schauspieler Jan-Gregor Kremp bei ihm gegenüber wohne und dass der so ein Guter sei, den man mal so richtig hochpushen müsse, so gut wie der sei undsoweiter undsoweiter. Bis ich sage, dass ich jetzt aber echt dringend mal … Hinterher kleine Sause mit Tanja, Peter und Lancelot, ins Parkhaus, in den Hasen … Zwei Kilo Moxxa-Espresso in der Aachener Straße. Retour. Am Gleis in Frankfurt dann überraschend ein fröhlicher Martin, der einen Freund abholt, welcher heute schon dreimal mit Napoleon und zweimal mit dem lieben Gott gesprochen habe. – ??? – Die Lösung: Der Mann ist Arzt in einer psychiatrischen Klinik.

Sylvia Rafael ist tot.

Montag, 6. Februar 2012 – Neunuhrsiebzehn, minus vierzehnkommaacht. Heiter.

Anhaltender Glücksrausch seit Samstag, seit die Postbotin geklingelt hat, seit ich Katja Sämanns Paket ausgepackt habe, seit das erste Exemplar des fetten Geisterbahn-Buches vor mir liegt. Ist das schön, fasst sich das gut an, liegt das gut in der Hand! Auf einem Bein drum herum getanzt. Schon lange nicht mehr so blödestolz gewesen. Voll Dankbarkeit. Nehme es immer wieder auf, blättere darin, lese mich fest, lache.
Chr.: “Echt gut geworden, sieht aus wie Brinkmann”.
P.: “Voll cool!”

Keiner tot!

Freitag, 3. Februar 2012 – Vierzehnuhrsiebzehn, minus fünfkommaacht. Blau.

Aposkatastroph: Heute nur ein Foto – von Jörg höchstselbst in Wiesbaden aufgenommen:

Tot ist das Hend’l.

Donnerstag, 2. Februar 2010 – Achtuhrachtunddreißig, minus zehnkommaacht. Hell. Windig. Heiter.

Gestern wurde Helmut Dietls neuer Film in der Süddeutschen Zeitung prominent und gründlich verrissen (“ein sprachloses, aber immerhin gemeinschaftsstiftendes Entsetzen befiel die versammelten Kritiker”). Überschrieben wurde der Verriss mit zwei Wörtern: “Dietl’s Albtraum”. Nun darf man fragen, was der für Titel und Dietl zuständige Redakteur, der gewiss Headliner heißt, sich bei diesem Apostroph gedacht haben mag. Wahrscheinlich hielt er seine knackige Überschrift für die Abkürzung von: “Dem Dietl sein Albtraum”.

Und warum, da der Film ja “Zettl” heißt, nicht noch die schöne Anspielung auf Arno Schmidt mitnehmen: “Zettl’s Albtraum”?

Angesichts solcher Absurditäten sollte man es nicht meinen, aber: Charms ist tot.

Mittwoch, 1. Februar 2012 – Fünfuhrsiebenunddreißig, minus achtkommaeins. Dunkel.

Linker Antisemitismus, Teil III – Am 5. Januar 2012 veröffentlichte die Tageszeitung “junge welt” einen Aufruf, in dem es hieß: “Mit ständigen Kriegsdrohungen, dem Aufmarsch militärischer Kräfte an den Grenzen zu Iran und Syrien sowie mit Sabotage- und Terroraktionen von eingeschleusten ‘Spezialeinheiten’ halten die USA gemeinsam mit weiteren Nato-Staaten und Israel die beiden Länder in einem Ausnahmezustand, der sie zermürben soll”. Unterschrieben hatten diesen Aufruf unter anderem eine Reihe von Bundestagsabgeordneten der Partei “Die Linke”. Wieder prostestierte der Bundesarbeitskreis “Shalom” der Linksjugend: “Entgegen der Einschätzung des Appells sind es nicht die Nato, die USA oder Israel, die einen Bürgerkrieg in Syrien anfachen, sondern das syrische und iranische Regime … Beide Regime gehen dabei mit unglaublicher Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vor, z.B. mit Tötungen durch Scharfschützen, die sogenannte ‘Abschussquoten’ zu erfüllen haben … Mit plumpem Hass auf Amerika und Israel versuchen die Regime vom Terror gegen die eigene Bevölkerung abzulenken.” Die Protestnote von “Shalom” ist überschrieben mit den Worten: “Gegen linke Solidarität mit den Schlächtern von Syrien und Iran!”
Die Mandatsträger der Partei “Die Linke” schienen von diesen Einwänden unbeeindruckt zu bleiben und auch davon, dass ihre Unterschriften nun gemeinsam mit denen von bekennenden Antisemiten, Esoterikern, Verschwörungstheoretikern und rechtsradikalen Holocaust-Leugnern unter ein und demselben Appell stehen. Ganz im Gegenteil schien dieser Umstand die Anhänger und Funktionäre von DKP und “Die Linke” erst recht zu beflügeln: Die Zahl der Unterschriften aus diesem Spektrum vervielfachte sich in den Wochen seit Erscheinen. Egal, mit wem man paktieren muss, so scheint es derweil bei Linkspartei und DKP zu heißen, Hauptsache, es geht gegen die USA und gegen Israel. Nicht die Antisemiten, nicht Ahmadinedschad, nicht Ali Chamenei und Assad sind die Gegner, sondern die Kritiker aus den eigenen Reihen, die “Shalom-Denunzianten”, die “Dreigroschenjungen”, die “Kriegstreiber des Tages” der Bundesarbeitsgemeinschaft “Shalom” – wie die “junge welt” schreibt.

Am 1. Februar 1934 wurden die Kommunisten John Schehr, Eugen Schönhaar, Rudolf Schwarz und Erich Steinfurth von Männern der SA erschossen.