Mittwoch, 27. Juni 2012 – Achtuhrsiebzehn. Vierzehnkommaacht. Könnte was werden.
Als mir die nette Sandra Kegel dringend empfiehlt, den neuen Roman von Houellebecq trotz meiner Vorbehalte zu lesen, denke ich: Na also, hat sich der Abend doch gelohnt. Und trage den Tipp wie eine Beute nach Hause.
Auf der Suche nach einem wenigstens erträglichen Restaurant in Baunatal, gerate ich an die Speisekarte von “K.Toffels” und schaudere zurück: Dort sind für den Juni “Cola-Wochen” gemeldet. Es gibt einen “knackigen Schmandsalat mit Putenfleisch und Cola-Erdnußsoße”, es gibt “Schweinemedaillons auf Mango-Colasoße”, es gibt ein “Cola-libre-Schnitzel” und “Wackel-Colapudding”. Ist eine zweite Weltgegend denkbar, wo man auf ähnliche Geschmacklosigkeiten verfallen würde?
Mit Schimmel und Raul über die documenta. Sehr heiter und später sogar sonnig. Dass es nirgendwo auf dem Gelände der Kunstausstellung Coca-Cola zu kaufen gebe, erzählt Schimmel, sei ein Verdienst der Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev, die in Kassel Lady Gaga genannt werde.
“Kunst will zum Nachdenken anregen” – Mit diesem Diktum haben ganze Generationen von Kunstlehrern ihre Schüler in dumpfes Brüten versetzt. Wenn Kunst nur noch aus Luft besteht – wie im Eröffnungsraum des Fridericianums – bleibt reichlich Raum zum Grübeln. Und zum ausgedehnten Reden, das meist in einer wohligen Ratlosigkeit endet: “Ist halt Kunst, da weiß man nie so genau, da kann halt jeder seine Sicht …” Nun ja.
Viel Wissenschaft, viel Technik, viel Politik, viel Natur und viel Pädagogik sind in Kassel zu finden, aber wenig Kunst. Stattdessen programmatisches Kunsthandwerk oder Fundstücke, Ausgrabungen, Artefakte, die allerdings auch etwas bedeuten sollen.
Ziemlich krude ist das alles, aber nicht unsympathisch. Im Konzept wenig überzeugend, im Einzelnen selten gelungen, bleibt merkwürdigerweise trotzdem ein entspannter, demokratischer Eindruck zurück. Vielleicht liegt es daran, dass hier keinerlei Größe behauptet wird, dass die Kunstmarktnamen fast vollständig fehlen, dass man hier mal nicht mit diesem ewigen Richter-Meese-Rauch-Getöse beeindruckt und zur Anbetung gezwungen werden soll.
Und ein in Kürze überwucherter Trampelpfad – wie der in der Karlsaue – lässt mich allemal friedfertiger zurück als ein diamantbesetzter Totenkopf in einer Panzerglasvitrine. Eh man noch ins Nachdenken kommt …
Entdeckung: Die von hinten beleuchteten Kritzeleien und Montagen von Anna Boghiguian, die wie säkulare Kirchenfenster wirken. Und wieso habe ich die nicht fotografiert?
Abends dann, auf der Heimfahrt, im Autoradio Dvořáks Violinkonzert mit den HR-Sinfonikern unter Paavo Järvi mit Frank Peter Zimmermann. Viel zu leicht, viel zu heiter. Das Publikum ist begeistert. Als Zugabe spielt Zimmermann seine eigenen Variationen über ein Thema von Haydn: eine brav aufgepeppte Version der Nationalhymne – schließlich ist Europameisterschaft. So darf endlich auch der kritische Kulturbürger das Deutschlandlied goutieren … und applaudiert frenetisch. Wie man als Musiker dem Dumpfsinn dermaßen zu Diensten sein kann …
Von Jan B. eine Mail mit dem Titelblatt eines amerikanischen Comic-Heftes aus den frühen vierziger Jahren. “HANGMAN” steht groß und fett auf der ersten Seite. Darüber etwas kleiner, als Motto des Heftes, die Zeile: “Nazis and Japs, you rats! Beware! The Hangman is everywhere!”
Das Landgericht Köln hat entschieden, dass die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen eine “rechtswidrige Körperverletzung” und deshalb grundsätzlich strafbar sei.
Tot ist Wolfgang Grams, der “Förster oder Pastor” hatte werden wollen.
Donnerstag, 21. Juni 2012 – Achtuhrsiebenundfünfzig, achtzehnkomma- zwei. Grau – wie immer.
Ein Stoßseufzer der Erleichterung und ein Dank an Niklas Maak. Gerade schimpfte man noch über die Boulevardisierung des Feuilletons, da liest man in der FAZ eine ebenso profunde wie gedankenreiche Abrechnung mit der Frankfurter Museumspolitik aus Anlass der beiden Jeff-Koons Ausstellungen, die in der städtischen Szene einen so überdreht-schrillen Hype ausgelöst haben, als handele es sich um ein Zeichen des Erlösers und nicht um die ins Gigantische aufgeblasenen Bubble-Gum-Gimmicks eines esoterischen Kunsthandwerkers. Freilich, der zahlungskräftigen Halbintelligenz kommt es immer entgegen, wenn man sie nicht mit Gedanken belästigt, sondern stattdessen ihren schlechten Geschmack zur Kunst nobilitiert. Die Ahnenreihe wird länger: Tamara de Lempicka, Dalí, Mel Ramos, Roy Lichtenstein, Murakami …
Tot und gründlich vergessen ist der Schrifsteller Max Fürst. Er starb am 21. Juni 1978 in Stuttgart, wo er zuletzt als Tischler gearbeitet hatte.
Mittwoch, 20. Juni 2012 – Neunuhrelf, achtzehnkommaacht. Es langt jetzt mal mit dieser Gräue.
“Gutschein sichern – Jetzt liken auf fem.com und Accessoires shoppen …”
Was Großmama wohl gesagt hätte, wenn sie diesen Satz noch hätte lesen müssen?
Unter dem Titel “Vom Wert des Verbietens” fordert Martin Mosebach, dem man ausgerechnet den Büchner-Preis nachgeworfen hat, in der Frankfurter Rundschau dazu auf, die Gotteslästerung unter Strafe zu stellen: “In diesem Zusammenhang will ich nicht verhehlen, dass ich unfähig bin, mich zu empören, wenn in ihrem Glauben beleidigte Muslime blasphemischen Künstlern – wenn wir sie einmal so nennen wollen – einen gewaltigen Schrecken einjagen … Es wird das soziale Klima fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird.” So prächtig würde das soziale Klima für Künstler in Deutschland gedeihen, wie es im Iran für die iranischen schon längst gediehen ist.
Martin Mosebach ist ein aufgeklärter Obskurant, der nach der Knute ruft, und dabei versucht, uns die Zensur schmackhaft zu machen, indem er prophezeit, sie werde unsere Gedanken und unseren Stil genauer machen.
Kommentar von F.: “Man würde diesem Mann womöglich einen Gefallen tun, wenn man ihn bei Wasser und Brot in den Keller schickte. Dann hätte er Gelegenheit, seinen Geschmackssinn zu verfeinern.”
Ich bin nicht schlecht, ich bin nicht gut,
Nicht dumm und nicht gescheute,
Und wenn ich gestern vorwärts ging,
So geh ich rückwärts heute;
Ein aufgeklärter Obskurant,
Und weder Hengst noch Stute!
Ja, ich begeistre mich zugleich
Für Sophokles und die Knute.
Herr Jesus ist meine Zuversicht,
Doch auch den Bacchus nehme
Ich mir zum Tröster, vermittelnd stets
Die beiden Götterextreme.
Heinrich Heine
Mubarak ist klinisch tot.
Mittwoch, 13. Juni 2012 – Sechsuhrdreiundvierzig, vierzehnkommaacht. Stahlgrau der Himmel, nass die Luft, was für ein Juni …
“Die Lust aufs Gewinnen ist das, um was es geht, das weckt die Gier in dir, das macht dich aus, das lässt dich leicht laufen, das lässt dich leicht über deine eigentlichen Möglichkeiten hinauswachsen. Das macht dich besonders stark. Und diese Lust aufs Gewinnen, die tobt in mir.”
Bin ich eigentlich der Einzige, den das kalte Grausen anspringt, wenn ein zähnebleckender Jürgen Klopp allabendlich vor, zwischen und nach den Spielen sein imperiales Mantra wiederholt?
Könnte man doch austreten aus einem Volk, in dem so etwas als Werbung für eine Genossenschaftsbank taugt.
“Erfolg beruht darauf, dass ihn nicht jeder haben kann.” (Ernst Alexander Rauter)
Tot sind Sunshine Sue und Jennifer Nitsch.
Freitag, 8. Juni 2012 – Zehnuhrneunundzwanzig, vierundzwanzig- kommanull. Fette Wolken überall.
Es ist Thomas von der Osten-Sacken zu danken, dass er in seinem Jungle-World-Blog auf eine bemerkenswerte Entscheidung hinweist: auf die geplante Verleihung des Frankfurter Theodor-W.-Adorno-Preises an Judith Butler. Egal, was diese Frau sonst noch gesagt und geschrieben hat, folgendes Zitat sollte ausreichen, diese Ehrung zu überdenken: “Yes, understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important.”
Judith Butler ist nicht nur eine Freundin von Hamas und Hisbollah, sie ist außerdem Unterstützerin des antizionistischen BDS-Movements, auf dessen Internet-Seite sich folgender Boykottaufruf an Wissenschaftler, Künstler und Kulturschaffende aus aller Welt findet:
1. Unterlassen Sie jede Teilnahme in jeder Form an akademischen und kulturellen Gemeinschaftsprojekten mit israelischen Einrichtungen.
2. Unterstützen Sie auf nationaler und internationaler Ebene einen umfassenden Boykott von israelischen Institutionen; was auch heißt, jede Form der Unterstützung und Förderung dieser Institutionen zu unterlassen.
3. Befürworten Sie es, Israel von der Förderung durch internationale akademische Einrichtungen auszuschließen und fernzuhalten.
4. Befördern Sie die Verurteilung der israelischen Politik dadurch, dass Sie auf Resolutionen drängen, die von wissenschaftlichen und kulturellen Vereinigungen und Berufsorganisationen verabschiedet werden.
5. Unterstützen Sie akademische und kulturelle Einrichtungen der Palästinenser direkt, ohne für diese Unterstützung eine direkte oder indirekte Zusammenarbeit dieser Einrichtungen mit Israel zu verlangen.
Und eine Frau, die für solche Forderungen eintritt, soll einen in Deutschland verliehenen und nach Adorno benannten Preis bekommen. Wahrhaftig, man schluckt trocken.
Tot ist George Sand.
Mittwoch, 6. Juni 2012 – Neunuhrsiebenundzwanzig, fünfzehnkommanull. Wolken.
Das kleine Dorf Insel gehört zu Stendal und liegt etwa hundertdreißig Kilometer westlich von Berlin. Seit sich dort Mitte vorigen Jahres zwei entlassene ehemalige Sexualstraftäter niedergelassen haben, kommt es immer wieder zu wütenden Protesten der Dorfbewohner, die regelmäßig – mit Unterstützung der NPD – vor dem Haus der beiden demonstrieren und deren Wegzug fordern. Die Männer, die sich in der Haft kennen gelernt hatten und deren Straftaten mehr als 25 Jahre zurückliegen, würden das Dorf gerne wieder verlassen, wissen aber nicht wohin. Zwanzig Wohnheime haben ihre Aufnahme verweigert. Als letztes Wochenende einige Demonstranten versuchten, das Grundstück der Männer zu stürmen, erklärte der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts endlich, dass man sämtliche Rechtsmittel ausschöpfen werde, um künftig solche Demonstrationen zu verhindern, “die sich gegen die Menschenwürde von anderen Personen richten”. So steht es heute in der Süddeutschen Zeitung. Was dort nicht steht: Es war der Ortsbürgermeister des Dorfes Insel, Alexander von Bismarck (CDU), der Namen und Adresse der beiden Männer öffentlich gemacht und die rechtsradikalen Hilfstruppen als “Gäste” begrüßt hatte.
Am 6. Juni 1948 starb in der Emigration in New York Aron Freimann, der letzte Vorsitzende der Frankfurter Jüdischen Gemeinde vor dem zweiten Weltkrieg.