Montag, 25. Februar 2013 – Dreizehnuhrelf, fünfkommadrei. Grau. Schnee.
Am Freitag gegen Mittag in Christians altem Jaguar durch Lyon. Steil runter, dann ein Stück an der Saone entlang, über die Brücke, die SEINEN Namen trägt, rüber nach Collonges-au-Mont-d’Or. Und da liegt sie schon, wie ein buntes Zirkuszelt, die berühmte, ganz und gar geschmacksfreie Auberge von Bocuse. Ein livrierter Schwarzer empfängt uns, lächelnd. Immer schon sei der da gewesen, sagt Christian beschwichtigend. Man zeigt uns die Küchen und Backstuben, man fotografiert uns mit den Köchen und Konditoren; unser Coq hängt schon überm Feuer. Irgendwo in einem Durchgang zwischen den Wirtschafts- und Gasträumen ein verspiegeltes Eckchen mit einem kleinen Tisch, SEIN Platz. Wir werden an unseren geführt, bekommen ein Gebäckchen, eine kleine Gemüsecreme, dann jeder ein Dutzend fette Schnecken, allesamt schwimmend in ihren Häusern, die bis über die Ränder gefüllt sind mit hellgrüner Kräuterbutter. Warum flüstere ich denn? Doch wohl nicht aus Ehrfurcht? Um uns herum wird gegessen, mehr noch fotografiert, als könnten die, die hier sitzen, hinterher nicht mehr glauben, je hier gesessen zu haben. Das erste Viertel des Hahns auf Gemüse, das zweite auf Salat. Zum Dessert riesige Wagen mit Eis, Früchten, Patisserien. Die greise Madame Bocuse macht die Honneurs. Aber wer gibt hier eigentlich wem die Ehre? Zum ersten Mal, sagt Christian, passiere es ihm, dass “Le Chef” nicht selbst komme. Nun ja, in drei Jahren wird der neunzig. C’est pas grave.
Gegen Abend in Montelimar, Hotel du Parc. Am nächsten Morgen ein Stück über die alte N 7, der große, alte, schon nicht mehr wahre Saal des “Routier de Donzère”. Man meint, Jean Gabin müsse gleich herein kommen und sich zu den Camionneurs setzen. Was der nicht mehr kann, ich aber sicher tun werde.
Weiter nach Richerenches zum Trüffelmarkt. Schneidend der Mistral, kalt die Luft, blau der Himmel. In einer Nebenstraße des Dorfs stehen auf beiden Seiten der Fahrbahn aufgereiht die kleinen Lieferwagen der Produzenten. Hinter den offenen Laderäumen immer vier, fünf, sechs Leute, die Rücken rund, scheele Blicke, verschlagene Gesichter, Getuschel, eine ungeheure Drücker-Atmosphäre, als würden hier nicht die teuersten Lebensmittel der Welt, sondern Drogen gehandelt. Die Trüffelsammler (Les Producteurs) verkaufen an die Händler und Gastronomen, nicht an uns. Schwerbewaffnete Polizisten patrouillieren. Dann eine Straße mit den Ständen für die gemeinen Fresser. Nougat, Schinken, Austern und: Les Truffes. Wir kaufen.
Mittags wieder runter ans Rhône-Ufer auf die Route Nationale, nach Mondragon: “La Beaugravière”. Und das ist es nun wirklich, das Paradies. Wir nehmen das kleinere der beiden Trüffelmenüs, bekommen auch hier als Amuse Gueule ein Cremesüppchen, diesmal in orange und mit Trüffeln, dann Gemüse mit reichlich Trüffeln, dann wieder ein Hähnchenbein mit reichlich Trüffeln, dazu ein getrüffeltes Püree aus Kartoffeln und Blumenkohl, dann einen mit Trüffeln durchzogenen und belegten Brie, dann eine gigantische Scheibe geeisten frischen Nougat auf einer Art Zabaione – ohne Trüffel. Wir werden in den riesigen Weinkeller geführt (dort eine vorrevolutionäre Flasche Champagner aus dem Jahr 1743, verdorben, aber ansehnlich), dann in die Küche zum Chef, Inhaber und Koch: Guy Jullien. Ein kleiner, freundlicher, bescheidener, unscheinbarer Herr, der hier alleine schnippelt, kocht und rührt und brät. Stolz zeigt er uns seinen neuen, fünf Meter langen Herd aus französischer Produktion und noch stolzer seinen riesigen Vorrat an frischen, schwarzen Trüffeln. Seine Augen leuchten, seine Fingernägel kratzen an der festen Haut der Pilze, die er uns unter die Nase hält. Ohne zu zögern würde ich ihm, dem Unausgezeichneten, alle drei Sterne geben, die der alte Lyonnaiser aber bis an sein Lebensende wird behalten müssen, soll es in Frankreich keinen Bürgerkrieg geben. Gestern am Abend gegen zwanzig Uhr zurück. Christiane empfängt uns mit einer duftenden Quiche. Mensch, wie kann man glücklich sein.
Todestag von Christian Schad, auf den ich wohl morgen zurückkommen werde.
Freitag, 15. Februar 2013 – Neunuhrneunundzwanzig, einskommasieben. Welt wieder weiß.
Gestern Abend “Alles wird gut” im Frankfurter Autorentheater. Schön, das eigene Stück endlich so auf der Bühne zu sehen, wie es gemeint war. Schon das Bühnenbild ist wunderbar unangestrengt: eine Chaiselongue, ein Buffet, ein Beistelltisch, dahinter diese luftigen Schleier, die Leichtigkeit und Abstand schaffen. Schauspieler, die ihre Figuren Ernst nehmen und mit Spaß dabei sind. Und Ellen Schulz, die es schafft, genau die richtige Balance zu halten zwischen Groteske und Beklemmung. Die Gags sind mit Tragik unterlegt, die Hinfälligkeit wirkt komisch – so ist die Sommerkomödie daraus geworden, die ich hatte schreiben wollen. “Eben ein bisschen wie bei Tennessee Williams”, sagt Karlheinz. Genau. Und eigentlich war das nun erst die Uraufführung.
Hinterher, auf der Premierenfeier, gehen alle so freundlich, so offen miteinander um, dass man ahnt, warum es hat gelingen müssen. Um kurz nach Mitternacht glücklich durch den Neuschnee zum Bus, und auf der Rückfahrt futtere ich unablässig von der Schulkreide, die Götz mir aus den Niederlanden mitgebracht hat.
“Wenn’s dir gefallen hat”, hat Ellen zum Abschied geflüstert, “schreib doch morgen mal was in der Geisterbahn”. Aber gerne.
Nächste Vorstellungen: 15.2., 16.2., 22.2, 23.2., 24.2., 1.3., 2.3, 8.3, 9.3., 10.3.
Todestag des hinreißenden Richard Feynman.
Montag, 11. Februar 2013 – Fünfzehndreißig, nullkommaacht. Weiß nicht.
Heute, da der Papst seinen Rücktritt bekanntgibt, veröffentlicht der Spiegel ein Foto von Frank Schirrmacher, auf dem dieser aussieht wie Gerhard Polt, wenn er den Papst spielt.
Der gemalte Frauenkopf, der nun als der obere Teil von Courbets Bild “L’Origine du Monde” identifiziert werden konnte, ist auch für sich genommen – nicht nur wegen seiner extremen Untersicht – eine kleine Sensation und kaum minder explizit als der zugehörige entblößte Unterleib. Dass das ungeteilte Bild dieselbe Kraft entfalten würde wie seine beiden Einzelteile, ist kaum anzunehmen.
Das ist doch mal ein interessantes Phänomen, sagte Professor Hofmann, und rückte seine Brille zurecht.
Ungelogen, ich habe noch nie das “Dschungelcamp” gesehen.
Man kann nicht alle Kontakte aufrecht erhalten. Nicht mal dann ginge das, wenn man auf alle ausführlichen Briefe und Mails nur kurz antworten würde. Es geht beim besten Willen nicht. Also antwortet man mal dem nicht, mal der nicht, also versucht man in seiner Ignoranz halbwegs gerecht zu sein – und hat am Ende womöglich alle gegen sich aufgebracht.
Heute vor fünfzig Jahren nahm Sylvia Plath Schlafmittel, dichtete die Küchentür ab, drehte den Gashahn auf und legte ihren Kopf in den Backofen.
Sonntag, 10. Februar 2013 – Dreizehnsechsundfünfzig, einskommaacht. Blau. Sonne. Paar Wolken.
Wieder so eine Phase, in der mich fast alles interessiert. Entsprechend fahrig, zappelig. Die Bücher stapeln sich neben dem Bett, die wichtigsten liegen am Rand der Matratze. Ich switche hin und her, gerate vom hundertsten ins tausendste, gehe rasch noch mal zum Rechner, um auf Maps eine Straße in Paris zu überprüfen, verliere mich im Stadtplan, wieder ins Bett, weiterlesen, schlafe darüber ein, irgendwann in der Nacht drehe ich mich um, die Stapel stürzen ein, ich werde wach, kann nicht wieder einschlafen, beginne erneut zu lesen.
Dauernd auf der Suche nach einer gescheiten Manet-Biografie. Gibt nichts. Immerhin Ross Kings “Zum Frühstück ins Freie” (The Judgement of Paris), darüber wieder in den Otto Friedrich geraten. Und die wiederkehrende Frage, ob sich Manet und Flaubert gekannt haben. Es kann doch nicht anders sein; sie haben zur selben Zeit in derselben Stadt gelebt, hatten zum Teil dieselben Freunde. Aber in Lottmanns Flaubert-Buch kommt Manet nicht einmal vor. Gerate auf die Seite “Paris Révolutionnaire” – man kann dort danach, welche Straße in welchem Viertel mit welchen Personen und Ereignissen zu tun hatte – sensationell. Und tatsächlich immerhin ein Treffer: beide, Manet und Flauber haben im Salon von Madame Sabatier verkehrt; die wiederum die Geliebte von Baudelaire war. Heißt aber nicht unbedingt, dass sie sich dort getroffen haben. Am besten mal sämtliche Briefe Flauberts durchscannen, sind ja alle im Netz. Genau wie die Journale der Goncourts. Also los …
Vorgestern die tolle arte-Dokumentation über die Pariser Chansonszene der Nachkriegszeit. Als Serge Gainsbourg auftaucht (“Sois belle et tais toi!” – Sei schön und halt den Mund!) wieder die Frage nach der Selbstkonstruktion des Künstlers durch Selbstinszenierung. Das fing an bei Rousseau (siehe Ruthard Stäbleins Sendung “Der moderne Herr Rousseau”), Oscar Wilde war wohl eine ähnliche Nummer (welche Biografie? den Ellman?), Bob Dylan auch. Künstlerdarsteller.
Drei schöne Fundstücke aus dem Friedrich:
– “Il faut être de son temps” – Man muss seiner Zeit angehören. Angeblich eine Lebensmaxime von Manet.
– “Wir fällen die Ulmen, um Irrenhäuser für die Leute zu bauen, die durch das Fällen der Ulmen verrückt geworden sind”. – James Thurber
– Eine Geschichte, die Ernst Gombrich immer wieder erzählt haben soll: Eine Dame kommt zu Matisse ins Atelier, zeigt auf ein Bild und bemängelt, dass “der Arm dieser Frau zu lang” sei. Darauf Matisse: “Madame, Sie irren sich. Dies ist keine Frau; dies ist ein Bild.”
Spät noch in Oscar Wildes langem Brief aus dem Gefängnis an Lord Douglas gelesen, “De profundis”, mal gucken, was das ist. Aber dann sehe ich, dass ich das Buch bereits einmal ganz durchgelesen hatte, aber alles komplett wieder vergessen.
“ganz durchgelesen” und “alles komplett” – Ja, mein Gott, was denn sonst? Was man sich aber auch zusammenschmiert.
Daumier ist tot.