Montag, 22. April 2013 – Neunuhrzehn, zehnkommazwei. Grau, regenschwer der Himmel.
Vor dem Ausgang des Supermarktes, dort, wo man seinen entleerten Einkaufswagen parkt, steht ein älterer, versehrt wirkender Mann und bettelt um ein wenig Geld. Ein rundum intakter, frischgeduschter Schnauzbartspießer blafft den Bettler an: “Ich bin es gewohnt, für mein Geld zu arbeiten”. – “Es hat nicht jeder Arbeit”, sage ich, hinzukommend und dem Bettler einen Euro in die Hand legend. – “Arbeit gibt’s immer” ruft der Spießer und rutscht auf den Fahrersitz seines Spießer-SUVs. – “Aber nicht für jeden eine bezahlte”, rufe ich ihm nach, der bereits lächelnd von dannen fährt.
Wohl, um mir beizuspringen, meldet sich der Bettler zu Wort: “Unn wenn erst all die Rumäne komme, werds aach ned bessä für uns”, sagt er.
Und nun? Muss ich ihm jetzt den Euro wieder abnehmen?
Heute vor achtzehn Jahren hat Axel Schulz in Las Vegas seinen Kampf gegen George Foreman verloren.
Freitag, 19. April 2013 – Dreizehnuhrzehn, dreizehnkommasieben. Diesig. (Wie seltsam einen dieses Wort anschaut: diesig.)
Heute Nacht, eigentlich schon gegen Morgen, brechen drei junge, aber nicht mehr ganz so kleine Wildschweine in unseren Garten ein. Ein Leopard kommt hinzu, geht in Lauerstellung, springt und schnappt sich eines der Tiere. Zum Glück zappelt es nur, zum Glück quiekt es nicht. Zum Glück wache ich auf.
Wie schön, dass das Abonnement des “Spiegel” endlich ausgelaufen ist. Jetzt muss ich mir nur noch abgewöhnen, dauernd auf “Spiegel online” zu klicken.
Todestag von Ernst Robert Curtius, der 1922 einen Briefwechsel mit Marcel Proust begann und dessen kleiner, 1925 erschienener, Essay bis heute zum klügsten gehört, was über Proust geschrieben wurde.
Dienstag, 16. April 2013 – Elfuhrfünfzehn, siebzehnkommaacht. Endlich Frühling. Geschlafen wie tot.
Am Samstag mit dem ICE nach Paris, Gare de l’Est. Zum Boulevard Voltaire, wo der Telefonladen lag, in dem Ilan Halimi gearbeitet hat, ist noch da, aber geschlossen. Dann zu Maria und Bernard, Mittagessen. Hotel in der rue Oberkampf, kurz ausruhen, Sachen ablegen. Runter zur Place de la Republique, Boulevard Saint Martin No. 11; hinter dieses Tor hat sich Peter Gingold vor der Gestapo geflüchtet. Dann Montparnasse, rue Campagne-Première. In der Nummer 9 hat Patti Smith gewohnt; selbe Straße: Verlaine, Rimbaud, Duchamp, Man Ray, Yves Klein. Und “Außer Atem” wurde hier gedreht. Dann zum Gefängnis. Hinter den Mauern der Santé saßen: Apollinaire, Léon Daudet, Cheb Mami, Mesrine, Carlos … Aber die Kneipe “À la bonne Santé” gegenüber dem Eingang gibt es nicht mehr. Ins Restaurant “Le Pot de Terre”, na ja, war ein Tipp, aber den Gourmets aus der Provinz ist eben nicht zu trauen.
Am Sonntag beim Frühstück im Fernsehen die Nachrichten über die Flucht von Redoine Faid, der sich durch fünf Sprengsätze aus dem Gefängnis von Lille befreit hat. Die Zeitungen sind voll davon. Raus nach Bangneux auf den riesigen Friedhof mit seinen unendlich vielen jüdischen Gräbern. Hinter dem zweiten Rond-Point nach links, dort finden wir endlich das Grab von Etty und Peter Gingold. Vor Jahren war ich mit Jürgen und Jürgen schon einmal hier, der Friedhof aber wegen Eisglätte geschlossen. Direkt hinter der Mauer das Hochhaus, in dem Youssouf Fofana bis kurz vor seiner Verhaftung gelebt hat. Rein nach Bagneux in die andere Plattenbausiedlung, rue Prokovief. In der Nummer 1 hat Fofanas Bande Ilan Halimi in einen Keller gesperrt, dann in ein Appartement im dritten Stock der Nummer 4, wo er weiter gefoltert wurde. Mit der Metro zurück in die Stadt, Hotel Lutetia, dann nach Saint-Germaine-des-Prés. Wir sind erschöpft, wollen einen Kaffee trinken, aber die Preise hier: obszön – sechseuroachtzig für ein Wasser, pfff. Weiter. Hier starb Oscar Wilde, hier hat Borges gewohnt, dies war das Lieblingscafé von Hemingway, hier hat Picasso “Guernica” gemalt undsoweiter. Place Dauphine auf der Île de la Cité, Dort war die “Zirkuswagenwohnung” von Yves Montand und Simone Signoret, über die sie in ihrer wunderbaren Autobiografie berichtet. Darunter die Galerie von Heinz Berggruen, daneben das Restaurant “Paul”. Auf dem Boulevard Saint-Michel geben wir auf, das Gedränge ist nicht zu ertragen, tout le monde ist da und die Preise – siehe oben! Schnell weg, schnell zurück nach Belleville, wo wir hingehören. Na also, wir schaffen es noch ins Röllchen – und hier ist das Essen gut und preiswert wie immer. Abends zum Charles-de-Gaulle, ein Stück die Champs-Èlysées runter, was für ein Auftrieb, die Straße ist schwarz vor Menschen bis zum Horizont. Dann nach links, wir erreichen die Salle Pleyel, die Spannung steigt. Wird SIE kommen, wird SIE auftreten? Schöne, lässige Stimmung und ein wunderbar gemischtes Publikum. Das Orchester betritt die Bühne, dann Abbado … und … Sie kommt, sie ist da, wird sofort bejubelt: Martha Argerich, die nie einen Vertrag unterschreibt, aber uns den Gefallen tut, sie einmal in diesem Leben noch sehen, noch hören zu dürfen. Beethovens erstes Klavierkonzert, die Argerich zappelt, ruckt, wirft ein ums andere Mal ihre Haare ums Haupt, schraubt an ihrem Hocker, ist supernervös. Und dann spielt sie, so weich, so entschlossen, so selbstverständlich, als wolle sie zeigen, dass man Beethoven spielen kann, wie ihr Lehrer Friedrich Gulda seinen Mozart gespielt hat. Das Publikum aus dem Häuschen, der Beifall frenetisch. Dann Mendelssohns “Schottische”, und auch die ist unter Abbado und mit dem Mahler-Chamber-Orchestra eine Offenbarung. Habe ich je ein schöneres Geschenk bekommen? Zurück ins Viertel, Hunger. Aber nur noch der Kentucky Fried Chicken an der Metro Ménilmontant hat geöffnet – und wir stopfen uns auf einer nächtlichen Bank die frittierten Hähnchenteile in den Mund. Hotel.
Montag Gare de L’Est, Gepäck einschließen, dann zu Fuß die große Runde über Barbès zur Place de Clichy. Aber auch der Laden für Malerei-Bedarf, den es hier 180 Jahre lang gab und in dem schon Manet seine Farben und Leinwände gekauft hat, ist seit kurzem geschlossen. Was für eine Scheiße. Runter zur Gare Saint Lazare und in den kleinen Park, wo Marie Antoinette und Louis XVI begraben lagen. Alles blüht und die Vögel krawallen. Zurück über die lange Rue de Provence an der Rückseite der Grands Magasins vorbei, laufen, laufen, laufen, bis wir endlich wieder auf der rue du Faubourg-Saint-Denis ankommen. Paris ist plötzlich voller Fahrräder, viele alte Peugeots, die zu Fixies umgerüstet wurden. Und die jungen Streuner haben jetzt alle dieselben Schieberkappen auf ihren Brikettschädeln, vorne kurz und hinten hoch, Casquettes bombées heißen die. – Jetzt wissen wir auch das, hätte Wallander gesagt.
Abends um fünf in den Zug.
Tocqueville ist tot.
Montag, 8. April 2013 – Elfuhrsechzehn, dreikommasechs. Schlierig.
Vor ein paar Tagen, abends in der Kulturzeit, ein Beitrag zum vierzigsten Jahrestag von Heiner Carows und Ulrich Plenzdorfs Film “Die Legende von Paul und Paula”. Ich bade in den alten Bildern. Und fange – allein vor dem Fernseher sitzend – plötzlich an, hemmungslos zu heulen. Warum bloß? Und: Darf man das schreiben? – Aber … wenn es doch so war.
Gesternfrüh mit Chr. nach Seligenstadt zum Rennen am Mainufer. Die Achillessehne schreit, also verkneife ich mir den Lauf und treibe mich in dieser unglaublich schönen Stadt herum mit ihren unglaublich vielen Eiscafés. Kirchgänger, ein paar Touristen, ein paar Bewohner. Alles gedämpft durch die sonnige Kälte und die frühe Stunde. Sonntagmorgensfrühlingsstimmung. In der Turnhalle gibt es Rindswürste, belegte Brötchen und Unmengen der leckersten, selbstgebackenen Kuchen. Und weil viele Kinder da sind, wird auch der Ehrgeiz der Sportler ein wenig gemildert. Eine Atmosphäre, wie sie immer dann entsteht, wenn der Kommerz mal draußen bleiben muss.
Gesternabend in die Katharinenkirche. Martin Lücker hat dreißigstes Dienstjubiläum. Sonne geht auf: Eva Demski ist da. Anke Sevenich spaziert durch die Reihen, ich rufe, kurze Irritation, sie lacht, setzt sich zu uns, kommt gerade vom Dreh und zeigt auf dem Smartphone die Fotos: sie als Hilde Benjamin. Fehlt nur noch der Herl, dann könnten wir – wie sonst in der Nibelungenschänke – Babycalamares bestellen. Martin schenkt uns siebzig Minuten, am Ende die Uraufführung der Orgelfassung von “Mathis, der Maler”. Klasse, eine ganze Oper auf der Orgel. (Da fällt mir ein: Orgue de Barbarie heißt in Frankreich der Leierkasten). Dann ein paar Reden. Martin ist glücklich, freut sich ganz unverhohlen. Und wir mit ihm. Schnittchen? Ach nee, lieber in die Döneria auf der Seckbacher Landstraße.
Hätt ich auch gern, so ein Dienstjubiläum. Hab aber nicht mal einen Dienst.
Unbedingt daran denken, Eva noch mal auszufragen über ihre Freundschaft zu Louise und Ernst Fischer, aus dessen Arbeit ich vor Zeiten so viel gelernt habe.
Ein Immobilienmakler wird in Österreich Realitätenvermittler genannt. Gibt es ein schöneres Wort für einen Autor von Kriminalromanen?
“Es ist schwer, die Welt zu verändern mit dem Geld von Leuten, die die Welt in Ordnung finden.” – Wolfgang Staudte.
Lektüre: “L’Affaire du Gang des Barbares” von Elsa Vigoureux.
Heute in zwei Jahren hat Louis Pergaud hundertsten Todestag. Ein Glückspilz, wer seinen schönen Roman “Der Krieg der Knöpfe” noch vor sich hat.
Freitag, 5. April 2013 – Fünfzehnuhrnull, sechskommazwei Grad. Grau. Aber gestern fast Frühling.
Die Wucht der Affären um die Regierung des französischen Präsidenten François Hollande wird verhindert haben, dass es diese Nachricht auf die Seiten der deutschsprachigen Zeitungen schaffte: Am Dienstagnachmittag hat sich Noel Robin, stellvertretender Direktor der Pariser Kriminalpolizei, in seinem Wagen mit einer Kugel aus seiner Dienstwaffe das Leben genommen. (Es ist der dritte Selbstmord eines französischen Polizisten in nur drei Tagen). Noel Robin ist nicht nur für den laufenden Fall Bettencourt verantwortlich gewesen, sondern war ebenfalls leitender Ermittler im Fall Ilan Halimi, einem Verbrechen, das in Frankreich über Jahre hinweg für großes Aufsehen gesorgt hat. Am 21. Januar 2006 fuhr Halimi, ein junger Pariser Jude marokkanischer Herkunft, nach Bagneux, einer kleinen Stadt an der südlichen Peripherie von Paris. Ilan Halimi hatte sich mit einem 17-jährigen Mädchen verabredet, das ihn kurz zuvor in einem Handy-Laden auf dem Boulevard Voltaire angesprochen hatte, in jenem Geschäft, in dem der 23-Jährige als Telefonverkäufer arbeitete. Drei Wochen lang blieb der junge Mann verschwunden. Während dieser Zeit erhielt sein Vater immer wieder Anrufe – es waren bis zu vierzig am Tag – mit Lösegeldforderungen und Drohungen. Am 13. Februar 2006 fand man Ilan an einem Bahndamm in Sainte-Geneviève-des-Bois: er war nackt, man hatte ihn mit Handschellen gefesselt, sein Körper wies zahlreiche Stichwunden auf, die Haut war zu 80 Prozent verbrannt, eine Zehe und ein Ohr waren abgetrennt. Ilan Halimi starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
In den folgenden Tagen nahm die Polizei in einer großen Sozialbausiedlung in Bagneux eine Bande von Jugendlichen und jungen Erwachsenen fest – zumeist aus afrikanischen Immigrantenfamilien stammend. Youssouf Fofana, der Kopf der Bande, die sich “Gang des Barbares” nannte, hatte sich an die Elfenbeinküste abgesetzt, wo er ebenfalls festgenommen und kurze Zeit Später nach Frankreich ausgeliefert wurde. Die Bande hatte Halimi zunächst mit Wissen des Hausmeisters in ein leerstehendes Appartement, dann in einen Keller gesperrt und ihn 24 Tage lang gefoltert. Fofana sagte aus, Ilan Halimi deshalb als Entführungsopfer ausgewählt zu haben, weil man überzeugt gewesen sei, dass ein Jude oder seine Angehörigen Geld hätten.
Von den Beschuldigten kamen 27 vor Gericht, 24 wurden verurteilt. Man geht davon aus, dass weit mehr Bewohner der Siedlung von der Entführung und Folterung gewusst haben, ohne sich bei der Polizei zu melden. Yalda, das damals 17-jährige Mädchen, hatte den “Barbaren” als Lockvogel gedient. Die junge Frau kam ebenfalls in Haft und unterhielt in den Jahren 2009 und 2010 eine Affäre mit dem verheirateten Direktor des Gefängnisses von Versailles, der daraufhin entlassen wurde und ein Buch schrieb mit dem Titel: “Verteidigung der Liebe”.
Dantons Tod.
Ostermontag, 1. April 2013 – Elfuhrsechzehn, zweikommanull. Blau mit Wolken.
Samstagvormittag im tegut-Supermarkt. Wohlstandshölle. Das vermeintlich gehobene Kleinbürgertum zeigt, was es sich noch leisten kann und packt die Einkaufswagen für die Feiertage voll. Vor jedem Regal Gedränge, an den Kassen lange Schlangen. Der Ton gereizt; die Menge stößt sich. Ein paar Scheiben Schinken will ich kaufen, warte zehn Minuten und habe es fast geschafft. Nur noch ein Kunde vor mir, ein junger Vater mit seinem dreijährigen Sohn. Verkäuferin: “Darf’s noch was sein?” – Vater: “Eine Scheibe Trüffelleberpastete, bitte.” – Verkäuferin: “Diese hier?” – Vater: “Ja.” – Die Verkäuferin legt die Pastete auf die Waage und tippt die Warennummer ein: “Sonst noch ein Wunsch?” – Vater: “Danke, das war’s.” Die Verkäuferin lässt den Betrag addieren und reißt den Zettel von der Waage. Jetzt meldet sich der Sohn zu Wort: “Die will ich nicht, ich will die andere.” – Vater: “Welche willst du?” – Sohn: “Die da!” – Vater: “Da muss die Tante wohl mal drauf zeigen, damit wir wissen, welche Pastete du möchtest.” – Verkäuferin: “Die hier?” – Sohn: “Nein!” – Verkäuferin: “Diese?” – Sohn: “Nein!” – Verkäuferin: “Meinst du vielleicht diese?” – Sohn: “Ja!” –
Verkäuferin: “Aber das ist genau die Gleiche wie die, die ich abgewogen habe.” – Vater: “Wenn er lieber dieses Stück möchte, dann geben Sie uns bitte dieses Stück.” – Verkäuferin: “Dann muss ich allerdings ein Storno machen.” – Vater: “Dann machen Sie eben ein Storno”.
Und wieder was fürs Leben gelernt, gell, Junge?
Max Ernst ist tot: “Es ist schon merkwürdig anzusehen, wie sich Künstler Männern zu Füße werfen, die nur überleben können, wenn sie Ideen morden. Armer Dalí: Tut, als sei er irre und damit berechtigt, König und Franco als göttliche Offenbarung zu betrachten.”