Mittwoch, 21. Oktober 2015 – Achtzehnuhrneun. Blauer Tag in Marseillan, aber kalt. Angeblich immer noch zwölf Grad. Na ja.
Aus der Reihe Was man längst hätte wissen können: „Die Zeit“ berichtet, dass es im Rahmen der „Kommunistenbekämpfung“ zwischen 1951 und 1968 in Westdeutschland etwa 125.000 Ermittlungsverfahren gegen Linke aufgrund ihrer Gesinnung gab. „Die Zahl der Verurteilungen – es wurden Haftstrafen von bis zu fünf Jahren Gefängnis wegen Landesverrats verhängt – war um ein Vielfaches höher als die Zahl juristisch verfolgter NS-Täter.“
Freund Fiete ist seit drei Tagen tot.
Montag, 5. Oktober 2015 – Siebenuhrneun, vierzehn Grad. Wolken.
Ich bin widerlegt. In der „Zeit“ hat Benjamin Korn aus guten Gründen schon 1994 – in einem der besten Texte, die je über Céline geschrieben wurden – vehement für eine erneute Veröffentlichung der antisemitischen Pamphlete plädiert. Korn beklagt eine „groteske Allianz“, in der sich die Erben Célines und der französische Staat verbündet hätten, um das zu verhindern. Und er nennt dieses Verbot, einen „einmaligen Skandal in der modernen Literatur Europas (…) ein Skandal, von dem man außerhalb Frankreichs nichts weiß und innerhalb Frankreichs nicht redet. Céline ist ein unbekannter Autor, über den jeder Satz falsch ist, solange seine zentralen rassistischen Elaborate nicht gelesen werden können. Céline zensiert sich selbst, Frankreich zensiert Céline, und in Céline zensiert Frankreich seine eigene Geschichte: die seines Antisemitismus und der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht.“
Für den deutschen Buchmarkt allerdings wird Benjamin Korns Forderung folgenlos bleiben. Die Übersetzungen der Pamphlete in der NS-Zeit haben die Originale verfälscht, zensiert und den Bedürfnissen der Machthaber angeglichen. Es hätte also wenig Sinn, diese Fassungen noch einmal aufzulegen. Und gegen eine Neuübersetzung spricht der Markt. Wer, außer ein paar frankophilen Nazis und den wenigen an Célines Gesamtwerk interessierten Lesern sollte diese Bücher kaufen wollen, haben doch selbst seine großen Romane hier kaum ein Publikum? Verachtet oder verehrt – in Deutschland wird Céline bis auf Weiteres ein unverstandenes Gerücht bleiben.
Camilla Jellinek ist tot.
Sonntag, 4. Oktober 2015 – Sechzehnuhrfünfzig, angeblich achtzehn Grad. Wenn das mal nicht übertrieben ist.
Im Winter 2009 stand ich mit Jürgen und Jürgen in Meudon vor der Villa von Céline. Wir waren erstaunt, dass dort noch immer, achtundvierzig Jahre nach seinem Tod, ein Schild auf dem Briefkasten klebte mit dem Namen Destouches. Aber kein Wunder, denn seine Witwe Lucette lebte zu dieser Zeit noch in dem Haus, in das die beiden 1951 eingezogen waren. Ihren eigenen Namen und ihr Geburtsjahr hatte Lucette schon 1961 in Célines Grabstein meißeln lassen. Und auch die ersten beiden Ziffern des Todesjahrs waren bereits ausgeführt: „19 . .“
Gestorben ist sie aber erst im Jahr 2012 mit einhundert Jahren. Wir hätten ihr also noch Guten Tag sagen und sie fragen können, wie sie es mit dem Stinker ausgehalten hat.
In Deutschland macht man sich keine Vorstellung, wie präsent das Gespenst Céline in Frankreich noch immer ist. Unentwegt erscheinen neue Briefausgaben, Biografien, Fotobände, Erinnerungen, Studien über sein Werk. Und wie auch im Fall Ernst Jüngers wird die Szene bestimmt von den Adepten und deren Hagiographien.
Und heute sehe ich, dass alte Ausgaben seiner antisemitschen Pamphlete auf der französischen Seite von amazon offen angeboten werden. Zudem gibt es kanadische Nachdrucke, und alle Texte stehen im Internet zum freien Download zur Verfügung.
In den letzten Tagen hat sich mein Eindruck verstärkt, dass Céline wie kaum ein zweiter Autor sein Bild in der Öffentlichkeit von Anfang an inszeniert hat, dass er ein notorischer Lügner war, der wusste, wann er die Welt mit welchen Reizen füttern muss, um maximale Aufmerksamkeit zu erzielen. Houellebecq dürfte viel von ihm gelernt haben.
Eben finde ich folgenden Satz aus der „Reise ans Ende der Nacht“: „Il faut choisir. Mourir ou mentir“ – „Man muss wählen. Sterben oder lügen“. So kann man’s auch drehen.
Heute vor sechs Jahren starb Mercedes Sosa – Gracias a la vida.
Samstag, 3. Oktober 2015 – Achtuhrvierundfünfzig, sechzehn Grad. Regen und Gewitter im Hérault. Jäckchenwetter.
Gestern, auf dem Weg ans Meer: Die acht Flamingos, die ich noch vor drei Tagen hier am Rande des Canal du Midi gesehen habe, sind wieder verschwunden. Und auch sonst alle Wasservögel.
Viel ist nicht mehr los in der Baie des Cochons; auch hier hat der Sommer seine Koffer gepackt. Aber unser Oiseau de Paradis, der hagere Transvestit mit dem schönen grünen Fahrrad und der roten Blume im künstlichen Haar, hat sich nochmal auf die langen Beine gemacht. Und zieht, nur mit seinem kurzen Hängerchen und der riesigen Sonnenbrille bekleidet, Schwänzchen schwenkend seine letzten Runden durch die Dünen. Die immer noch nach Pipi riechen.
Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière sagt im heute journal: „Bis zum Sommer waren die Flüchtlinge dankbar, bei uns zu sein. (…) Jetzt gibt es schon viele Flüchtlinge, die glauben, sie können sich selbst irgendwohin zuweisen. Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometern durch Deutschland zu fahren. Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen. (…) Aber da müssen wir klar sagen, wer hier nach Deutschland kommt (…) der muss sich dahin verteilen lassen, wohin wir ihn bringen (…)“
Hört sich an wie: Wenn der Volksgenosse an der Rampe selektiert, hat der freche Judenbengel zu parieren.
Gestern habe ich zwei der berüchtigten antisemitischen Pamphlete von Céline vollständig auf meinem MacBook gespeichert, was eigentlich gar nicht möglich sein dürfte, weil die Veröffentlichung dieser Texte verboten ist. Ist aber gar kein Problem, da sowieso alle kapituliert haben vor der Scheiße, die im Netz kursiert.
Reiche Ernte für den Tod. Bemerkenswert ist die Geschichte von Kintpuash, genannt Captain Jack, Häuptling der Modoc, dem seine Friedensliebe nichts genützt hat. Er wurde am Morgen des 3. Oktober 1873 an jenem Galgen erhängt, den man schon vor dem Urteil für ihn errichtet hatte.
Freitag, 2. Oktober 2015 – Zwölfuhrdreiunddreißig, einundzwanzig Grad. Sonne.
Habe mir gerade Célines “Mort à crédit” heruntergeladen. Regelrechter Glücksschub: Ich kann das lesen, auf Französisch. Und wenn aus “Professor Hofmann” irgendwann noch etwas werden sollte, dann so, auf diese atemlose Weise: “Sind wir also wieder alleine …”
In einem Brief aus dem Jahr 1916 berichtet Céline, wie ein Mädchen den Geistlichen in der Schulklasse fragt: “Wenn ich den ganzen Vormittag mit den Engelchen gespielt habe, erlaubt mir dann der Liebe Gott, am Nachmittag mit einem Teufelchen zu spielen?”
Und jetzt? Aufs Rad! Ans Meer!
Marcel Duchamp ist tot. Hat eigentlich irgendwann mal jemand ein Manifest gegen den Surrealismus geschrieben?
Donnerstag, 1. Oktober 2015 – Elfuhrdrei, vierzehn Grad in Marseillan. Immerhin zeigt sich die Sonne nach zwei Tagen “temps pourri”.
Als der Generaldirektor der Deutschen Bank im Jahr 1931 versuchte, den nicht eben wohlhabenden Publizisten Alfred Lansburgh zu bestechen, antwortete dieser: “Jeder Mensch ist bestechlich. Aber soviel Geld hat die Deutsche Bank nicht, um mich zu bestechen.”
Dazu ein schöner Satz von de Gaulle: “Ich bin zu arm, um mich zu beugen”.
Am 1. Oktober 1972 starb in Hamburg Kurt Hiller – Schriftsteller, Jude, Pazifist, Sozialist, Homosexueller. Es reicht bei Gott weniger, um bei diesen Landsleuten abgründlich in Verschiss zu geraten.
——————————————————