Geisterbahn

Dezember 2010

Freitag, 31. Dezember 2010 – Sechsuhrdrei, minus dreikommazwei. Wach seit drei. Schön still ist es noch. Oder will ich nur, dass hier am Ende des Jahres die Worte stehen: “schön still”?

Wir halten nochmal kurz am Bunker an der Kaiser-Sigmund-Straße, um den Mixer aus dem Probenraum zu holen. Draußen wühlt ein rotgesichtiger, bärtiger Berber im Müllcontainer und dreht sich verstohlen nach uns um. Weil wir zur früh in Butzbach sind, machen wir noch Halt am American Fried Chicken in der Griedeler Straße. Die Plastikgabeln schmelzen in den frisch frittierten Hähnchenteilen. Atilla trinkt schwarze Limonade. Eine dicke, schwarze Bedienung hinter dem Tresen, ein vierschrötiger Kerl an der Fritteuse. Warum können die es sich leisten, so unfreundlich zu sein? Um zwölf vor dem Gefängnis eine Frau, die uns darauf hinweist, dass ein Scheinwerfer kaputt ist. Wir legen unsere Ausweise in die Metallschublade, dann öffnet sich ein Rolltor. Wir sind befangen, stehen in der Schleuse, aber der Sicherheitsmann ist ganz entspannt, will uns offensichtlich beruhigen, fragt, ob in der Gitarrentasche ein Jagdgewehr steckt … Götz kommt, lacht und streckt seine Hände durchs Gitter. Er sagt, gleich würden drei Häftlinge kommen und uns tragen helfen. Wir dürfen in den Hof fahren. Ich freue mich, Apo und Herrn Fuchs wieder zu sehen. Der freundliche Timo ist neu. Wir bauen im Kirchenraum auf, fummeln so rum, Soundcheck, Apo fragt, ob er mal an die Gitarre darf, dann singt und spielt er ein türkisches Stück, dass er selbst geschrieben hat. Wir bekommen Gebäck und Kaffee serviert, hocken ein wenig, reden, hören immer wieder dieses scheppernde Geräusch der großen Schlüssel in den Schlössern und das grässliche Krachen der schweren zufallenden Metalltüren. Als die Häftlinge auf ihren Stühlen sitzen, mache ich den idiotischen Versuch zu erklären, um was für eine Art Programm es sich bei “Ein kleiner Abend Glück” handelt . Und wie alle solche Versuche endet auch dieser in haltlosem Gestammel. Los, Alter, hör auf zu quatschen, fangt endlich an! Gut. Aber ich merke nichts, bin so verunsichert wie noch nie bei einem Auftritt, spüre nicht den geringsten Reflex, kann die Gesichter nicht lesen, verspreche mich viel zu oft und denke: Nee, an diesem Publikum geht das jetzt alles total vorbei. Doch dann, als wir fertig sind, schlägt uns eine solche Welle von Zuspruch, Freundlichkeit, Neugier, Sympathie, Dankbarkeit entgegen, wie ich es nicht ein einziges Mal zuvor erlebt habe, so dass man eigentlich nie mehr irgendwo anders auftreten möchte als vor diesen Räubern, Erpressern, Zuhältern, Gewalttätern, Drogenhändlern und Mördern, von denen keiner wie der andere ist, aber jeder auf seine Weise zu erreichen. Und denen man allen sofort bereit ist, Recht zu geben, wenn sie das Wahnsystem der Gefängnisse beklagen, die man aber jeden einzeln auch fragen möchte: Was wäre aus dir geworden, was hättest du deinen Mitmenschen noch alles angetan, hätte man dich nicht erwischt und in diese Zwangsjacke gesteckt? Hier, an diesem Ort, wo all unsere Regeln außer Kraft gesetzt zu sein scheinen, stellt sich die Frage nach ihrer Gültigkeit am deutlichsten. So schwierig sei es doch gar nicht, unser Programm zu beschreiben, sagt Timo schließlich, für ihn sei es eine Seelenreise. Und genau das ist es: eine Seelenreise. Als Apo am Ende aufsteht, sich im Namen aller bedankt und sagt: “Heute gehen wir glücklich in unsere Zellen zurück”, da haut mich das dermaßen um, dass ich Mühe habe … Ach was, Schluss jetzt, eh einem noch vor Rührung …

Gestern zur Beerdigung nach Schalksmühle. Die lange, steile, enge, rutschige Straße zum Friedhof Wippekühl hinauf. So hoch liegt der Schnee hier oben, dass er die meisten Grabsteine vollständig bedeckt, eine Hügellandschaft. Den dumpfen, klampfenden Pastor verfluche ich innerlich . Aber dann sagt er, dass ihm B., der Verstorbene, als ein Tüftler beschrieben worden sei und dass Gott Tüftler gut gebrauchen könne. Und für diesen Satz hätte ich dem eitlen Zausel fast verziehen.
“Geht es Dir auch so”, schrieb Ute dieser Tage, “dass du jahrelang nicht an einen Menschen denkst und plötzlich erhältst Du die Nachricht von seinem Tod, und die Gedanken kreisen bei vielen Gelegenheiten nun um diesen, der nicht mehr bei uns ist?” Genauso ist es. Jemand lebt und ist uns fern. Dann stirbt er und weicht nicht mehr von unserer Seite.

Nie zuvor kam mir unser Leben so amerikanisch, so kaputt im Heil vor wie in diesem Winter. Das liegt nicht nur daran, dass unsere Siedlung auf dem Gelände einer ehemaligen US-Kaserne erbaut wurde und dass dort drüben, auf der anderen Straßenseite, das große, schwer bewachte Gebäude des amerikanischen Konsulates steht. Es liegt auch an unseren Häusern, diesen Käfigen mit den schmalen, verschneiten Gärten, den verschneiten Terrassen, den verschneiten Weber-Grills. Es liegt auch daran, wie wir jeder auf dieselbe Weise anders sein wollen, es liegt daran, wie wir mit unseren Wagen in die Supermärkte fahren, wie wir unsere Kinder zum Sport, in die Tanzschulen und den Musikunterricht bringen, wie wir uns grüßen, ohne uns kennen zu wollen. Es liegt auch daran, dass ich gerade John Cheever lese und gestern auf der Autobahn im Radio hörte, wie Alf über einen Roman von Joshua Ferris sprach. Und daran, dass wir vor ein paar Tagen Charlottes Sendung und ihre vertraute Stimme hörten, was mir vorkam, als hätten wir so einen kleinen Lokalsender aus Small Town eingeschaltet wie in einem alten Russ-Meyer-Film. Oft, wenn wir am Abend die Rollläden herunter lassen, stelle ich mir vor, dass wir gerade einen Engel aussperren, der hinter dem Haus steht und in unser beheiztes, beleuchtetes Wohnzimmer schaut. Oder einen alten, bärtigen Säufer, der Hilfe gebraucht hätte für diese Nacht und dem wir nun jeden Mut genommen haben.

Courbet ist tot.

Dienstag, 28. Dezember 2010 – Siebenuhrvierundvierzig, minus dreikommaacht.

Man möchte in Deckung gehen, aber es ist als Lob gemeint, wenn es im “KulturSpiegel” über einen Schauspieler heißt, er sei ein “Exzess-Extremist”: “In Bremen schleudert er jetzt seine Sicht auf das urdeutsche Intrigen- und Rachespiel der Nibelungen raus.”

“Racheengel – Ein eiskalter Plan”. Ausgedachte Figuren, eine ausgedachte Geschichte, ausgedachte Dialoge, selbst die Häuser und die Landschaft wirken ausgedacht. Und für diesen ausgedachten Mist haben wir anderthalb Stunden unseres schönen, richtigen, echten Lebens hingegeben. Und “Bauer sucht Frau” verpasst.

Ich beschimpfe den Wettermann im Fernsehen, der uns mitteilt, dass der Winter noch keinesfalls vorüber sei. Ich beleidige ihn aufs Unflätigste. “So”, sage ich, als ich endlich fertig bin, “mal sehen, was jetzt passiert.” – Was soll passieren? Der Mann sitzt am längeren Hebel. Wahrscheinlich lässt er es bis in den Juni schneien.

Man glaubt es kaum, aber heute feiert die Katholische Kirche den Tag der unschuldigen Kinder.

Montag, 27. Dezember 2010 – Siebenuhrvierundfünfzig, minus dreikommadrei. Dämmert. Seit Freitag diese stärker werdenden Schmerzen in der Hüfte.

Heiligabend, Familiengottesdienst. Wir sind eine halbe Stunde zu früh, trotzdem ist die Lutherkirche schon fast zur Hälfte besetzt. Über die Bänke im vorderen Teil sind Mäntel und Jacken verteilt, um Plätze für die Angehörigen frei zu halten. Über diesen Umstand geraten vor uns zwei junge Frauen in Streit. Sie zanken ohne jede Leidenschaft, aber ausdauernd. Ihre Gesichter zeigen keinen Hohn, die Stimmen werden nicht laut, aber die Frage, ob und wie viele Plätze man frei halten darf, gibt ihnen Stoff für einen zwanzigminütigen Disput, den sie beide gleichermaßen am Laufen halten und zu genießen scheinen, wohl einfach, weil er ihnen die Zeit verkürzt.

Was ist die Familie? Vielleicht dieser sanfte Wirbel des ersten Weihnachtstages. Zur Begrüßung ein Gläschen Sekt, der Blick auf den geschmückten Baum, zerknülltes Geschenkpapier. Wollen wir den neuen Fotoapparat doch gleich mal ausprobieren – Cheeeese! Kinder, hoffentlich wird der Braten nicht trocken. Kann sich jemand erinnern, dass wir je so viel Schnee hatten? Mensch, ist die Kleine gewachsen, schon eine richtige Dame. Was macht die Schule, die Arbeit, die Eintracht? Wisst ihr noch, voriges Jahr …? Mit dem Nachtisch warten wir noch ein bisschen, oder! Espresso? Verdauungsschnäpschen? Ich fahr nicht mehr gerne im Dunkeln. Na, dann macht euch mal lieber auf den Weg … Das ist belanglos und schön, weil es belanglos ist. Und alle wollen es so, und am Abend ist es schon wieder vorbei.

Vorne wird geschwängert, geboren, eingeschult, hinten wird gehumpelt, operiert, gestorben. Wer das Pech hat, hinten zu sein, kriegt von dem, was vorne geschieht, nicht mehr allzu viel mit. Obwohl er ja nichts anderes will als: teilhaben. Obwohl es darum ja geht: Familie.

“Du hast eine schwarze Brille auf, dein Blick auf die Welt ist verschattet. Du bist einsam. Ich möchte dich trösten …”
– Nimm die Finger weg! Vielleicht bin ich einsam, vielleicht brauche ich Trost, aber nicht von dir. Du bist ein Erlöster und von solchen will ich keinen Trost. Nicht von einem Priester, nicht von einem Psychiater, nicht von einem Dummkopf …
“Also, weißt du …”
– Ja, ich weiß. Euer Trost ist wohlfeil und wertlos. Lieber zahle ich für ein bißchen schnellen Sex, das wird mich wenigstens erleichtern.

Heike erzählt, dass B. gar nicht geschieden war. Seit zwanzig Jahren von seiner Frau getrennt, aber nicht geschieden. Ob er immer noch in der Viktoriastraße gewohnt habe? Ja, aber ganz allein, außer ihm habe im ganzen Haus seit Jahren niemand mehr gelebt. Nach einem Wasserrohrbruch habe sich dort der Schimmel in den Wänden festgesetzt und B. sei an Asthma erkrankt. Am Donnerstag wird er beerdigt.

Binnen kurzer Zeit zwei Dinge entdeckt, die von nun an dazu gehören: Cheevers Tagebücher und Shostakovichs Piano Quintett in G-moll op. 57.

Max Beckmann ist tot.

Freitag, 24. Dezember 2010 – Heiligabend, schönes Wort. Siebenuhrsiebenunddreißig, nullkommazwei. Hört sich an, als ob es regnet.

Versuche, mich an B. zu erinnern, was mir schwerfällt. Er konnte gut zeichnen. Als er ein kleiner Junge war, mochten ihn alle; später stand er immer ein wenig außen vor. – “Oder hörst du auch nur diese Schleiermusik?”, hat er mich mal gefragt, als wir fast noch Kinder waren, bevor er mir “Puppet on a String” vorspielte, was mir gut gefiel. Er hatte große Zähne und eine markante Nase. Es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal trafen, vielleicht auf einer Beerdigung, vielleicht auf einem Geburtstagsfest. Ich glaube, er hat den Biber des Obi-Baumarktes erfunden. Er sammelte die Fracht verunglückter Lastwagen ein und verkaufte sie weiter. Er war vor langer Zeit verheiratet und erzählte mir später, wie hässlich und teuer seine Scheidung war. Dann hatte er eine Freundin, von der er irgendwann verlassen wurde, wofür alle Verständnis zu haben schienen. Er war Mitinhaber eines kleinen Montageunternehmens. Manchmal kam er wohl dienstlich nach Frankfurt. “Dann können wir uns ja mal treffen”, habe ich zu ihm gesagt, ohne ihn einzuladen. Ich stelle ihn mir einsam vor. Ich stelle ihn mir rauchend und trinkend in einem Hotelzimmer vor. Sein Vater ist schon vor Jahren gestorben. Seine Mutter lebt im Heim und wird sich wahrscheinlich nicht an ihn erinnern.

Vor 21 Jahren ertrank Rudi Dutschke in seiner Badewanne.

Donnerstag, 23. Dezember 2010 – Zwölfuhrdrei, zwei Grad. Die Autobahn brüllt.

Auf zehn Euro kommt es uns nicht an. – Wir wollen die Balance halten, wollen ein normales Leben führen. Gleichzeitig suchen wir nach Auswegen oder Nebenwegen oder Ablenkungen. – Wir laden auf Parties ein und werden eingeladen, wir lernen Leute kennen. Sie ist dick und gilt als nett, sie lächelt. “Bist du denn so verzweifelt?”, möchte man fragen, aber man tut es nicht. Was würde mit ihrem Gesicht geschehen, wenn man es doch täte? Vielleicht würde sie sagen: “Nicht mehr als du auch. Also sollten wir besser lächeln.” – “Unsere Wohnung hat hundertdreißig Quadratmeter”, sagt der Nachbar des Gastgebers. Aber an den Lärm habe er sich noch immer nicht gewöhnt. Ein anderer schaut auf seinem iPhone, wie das Spiel steht. “Unentschieden. Ab in die Verlängerung!”, sagt er. – Der Zeitungsbote hat eine Weihnachtskarte in den Kasten geworfen und seine Adresse draufgeschrieben. “Na, dann will er, dass du ihm ein Scheinchen schickst, was denn sonst?” – Wir unterhalten uns über Putzfrauen und Handwerker. Über das Restaurant der Villa Rothschild in Königstein. Über die Ferrari-Anstecknadel am Revers. Über Ribera del Duero und wie die spanischen Winzer ihren Ruf verspielen. Atilla schenkt mir einen Kalender mit Fotos von Hugo. “Ich hasse Foto-Kalender”, sagt Harald, der Fotograf. “Aber Hugo ist mein Patenkind”, sage ich. “Ach so”, sagt Harald, “das ist in Ordnung”. – Atilla erzählt von einem komischen Film: “VHS-Kahloucha”, den ich am liebsten sofort anschauen würde. – Ich denke daran, dass Götz am Mittag aus dem Gefängnis angerufen und erzählt hat, dass er mit den Häftlingen “Empathie” geschaut habe, und dass es danach fast zu einer Schlägerei gekommen sei. – Jürgen gibt dem Friseur jedesmal einen Euro Trinkgeld. “Zehn Prozent”, sagt er. – “Das Perlhuhn gestern war zu trocken, oder?” – Was können wir eigentlich wissen, wenn es uns auf zehn Euro nicht ankommt?

Gerade die Nachricht, dass man meinen Cousin B. gefunden hat – tot am Rand der Autobahn in seinem Wagen sitzend.

Am 23. Dezember 1953 wurde Berija erschossen.

Mittwoch, 22. Dezember 2010 – Neunuhrelf, einskommadrei. Taut.

B. hat Medizin studiert und arbeitet seit Jahren als Abteilungsleiterin in einem großen öffentlichen Institut. Morgens, wenn sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle macht und abends, wenn sie von dort kommt, hört man die Absätze ihrer Schuhe über das Pflaster klackern. Ein Geräusch, das zu den zahlreichen Ereignissen gehört, die sich in unserer Siedlung Tag für Tag wiederholen. Säße man, wie James Stewart in Hitchcocks “Rear Window”, die meiste Zeit am Fenster, würde man wohl bald die Eigenheiten sämtlicher Nachbarn kennen. Jedenfalls sei B. die einzige Frau, die er kenne, die ihre Schuhe schonmal in den Kühlschrank stelle, erzählt M., der mit B. verheiratet ist. Ja, berichtet B. nun selbst, es habe Phasen in ihrem Leben gegeben, wo ihr solche Dinge passiert seien. Zu Zeiten hätten Beruf und Kindererziehung sie dermaßen überfordert, dass sie einmal sogar vergessen habe, sich anzuziehen. So sei sie aus dem Haus gegangen, bekleidet nur mit Unterwäsche, Pumps und Regenschirm. Erst das ungewohnt frische Gefühl auf ihrer Haut habe sie an der nächsten Straßenecke ihren Fehler merken und umkehren lassen.

In einem Gespräch erinnert sich Daniel Cohn-Bendit an seine wechselvolle Freundschaft zu Jean Luc Godard: “Wo immer auch Godard Stellung bezieht, er übernimmt die radikalste Position.” Und: “… für ihn musste es das Radikalste sein.”
Vielleicht ist es das, was mich an diesem Filmregisseur befremdet. Radikal sein zu wollen, kommt mir vollkommen lächerlich vor. Man will wach sein, klug, neugierig, entspannt, unbestechlich. Aber radikal? An den Rand gedrängt wird man von den Verhältnissen doch ohnehin, wenn man sich den Blick auf sie nicht verstellen lassen will.

Beckett ist tot.

Dienstag, 21. Dezember 2010 – Sechsuhrsiebzehn, minus dreikommaeins. … und schneit und schneit und schneit.

Warum versuche ich, das Wort Blog zu vermeiden? Genauso: Handy, shoppen, People …

Heute verlieren meine Ausweise ihre Gültigkeit. Gestern dieser Tanz auf dem Amt, in dem Fotofixautomaten. Ich warte zehn Minuten, bis mein Vorgänger hinter dem Gardinchen hervorkommt, setze mich auf das Drehhöckerchen, “Werfen Sie passendes Geld” ein, aber das Ding will mein passendes Geld nicht, dann aber doch, dann die ganze Prozedur, “Folgen Sie den Anweisungen auf dem Bildschirm!”. Biometrisch! Also: “Bitte nicht lachen!” Wieder zehn Minuten, und als ich endlich fertig bin und die Fotos ausgedruckt werden sollen: “Aus technischen Gründen können wir den Vorgang nicht beenden. Geld können wir nicht rausgeben. Rufen Sie unsere Hotline an! Merken Sie sich die Gerätenummer” … Also doch zum Fotografen, der hat geschlossen, öffnet schließlich, “Bitte nicht lachen!” Dann die ungerechten Wartenummern, die hilflosen Gesichter, aber auch Blicke, Flüstern, Verbrüderungen. Wieder Glatteis, Supermarkt, U-Bahn. Und der Wunsch, nackt über den Strand zu laufen – auf Mauritius oder in New England.

Abends nach zwanzig Jahren mal wieder: Louis Malles “Atlantic City, USA”. Hatte vergessen, wie gut dieser Film ist. Nicht nur die Geschichte und die Charaktere, jedes einzelne Bild ist gelungen. Weiter im Cheever.

Tot ist seit 1824 der Arzt James Parkinson, der unter dem Namen “Old Hubert” antimonarchistische Kampfschriften verfasste.

Montag, 20. Dezember 2010 – Dreizehnuhrneunundfünfzig, minus einskommafünf. So viel Schnee wie gestern Abend habe ich nie zuvor gesehen. Unter den weißen Massen blieb selbst der dunkle Weg hinter dem Friedhof hell. Und die Äste der Koniferen hingen so tief hinab, dass man sich bücken musste. Über Nacht hat es getaut, seit zwei Stunden schneit es wieder.

Samstag “Liebe” in der Romanfabrik. Ausverkauft. Obwohl alles andere als perfekt, war es ein guter, starker Flow. Das Publikum beweglich, bewegt, ging mit und gab Reflexe. Ein schöner Rausch, der noch den gesamten Sonntag anhielt – als wir erschöpft mit Rolf im Haus faulten, Musik hörten und dem Abend nachschmeckten. Es gibt keinen schöneren Beruf.

Die 180 Fotos der schwarzen Frauen auf der Seite der Los Angeles Times. Zwei Mal hab ich sie komplett durchgeklickt. Nachhaltige Irritation. Die Polizei hat die Aufnahmen beschnitten. Man weiß nicht, wann und wo sie gemacht wurden. Manche der Frauen scheinen zu schlafen, viele scheinen nackt zu sein. Man weiß nicht, ob einige von ihnen ermordet wurden, wie viele noch leben, warum sie sich von Lonnie Franklin Jr. fotografieren ließen, ob sie es freiwillig taten, ob sie dafür bezahlt wurden, ob sie Prostituierte waren oder zufällige Bekanntschaften. Was ist nun, wenn sie sich selbst auf diese Weise ausgestellt sehen, womöglich, ohne sich noch an ihr Treffen mit Franklin zu erinnern? Was, wenn sie von ihren Nachbarn und Verwandten, von ihren jetzigen Ehemännern und Kindern erkannt werden?  Was für ein ungeheurer Akt der Obszönität diese Veröffentlichung ist, wird mir erst langsam klar. Dann der Impuls, die Gesichter unkenntlich zu machen, zu reanonymisieren.

Vor neun Jahren starb Léopold Sédar Senghor, der sich von Arno Breker porträtieren ließ.

Samstag, 18. Dezember 2010 – Sechsuhrdreiundfünfzig, minus fünfkommafünf. Hat schon wieder geschneit.

Im Juli diesen Jahres hat das Los Angeles Police Department den 57jährigen Lonnie Franklin Jr. verhaftet. Er steht im Verdacht, jener seit Jahren gesuchte Serienmörder zu sein, der in der Öffentlichkeit “The Grim Sleeper” genannt wird. Die Polizei ist sich sicher, dem Mann zehn bislang unaufgeklärte Morde an schwarzen Prostituierten zuordnen zu können. In seiner Wohnung fand man mehrere hundert Stunden privat aufgenommenes Videomaterial und rund eintausend Fotos von zumeist unbekleideten Frauen. Weil das LAPD befürchtet, das sich unter diesen Frauen weitere Opfer des Grim Sleeper befinden könnten, hat man jetzt 180 Porträts veröffentlicht, begleitet von der Bitte um Hinweise, die zur Identifizierung der Unbekannten und zur Aufklärung ihres Schicksals führen können.

Beim Textildiscounter kik, erzählt N., gebe es Kinderpullover für einen Euro das Stück. Angesichts der eigenen finanziellen Lage habe sie ihre Tochter dort erstmal eingedeckt. Wie viele Kinder andernorts für diesen Verkaufspreis sterben müssen, wird auch mal auszurechnen sein.

Einige Jahre nach seiner Frau hat J. nun ebenfalls promoviert: “Wenn wir jetzt Sex haben, können wir mit Fug und Recht sagen, es handele sich um Doktorspiele”.

Vor zwei Jahren ist Deep Throat gestorben.

Freitag, 17. Dezember 2010 – Sechsuhreinunddreißig, minus zweikomma- vier.

Gestern, aus der Tiefgarage des deutschen Fernsehens: “Stuckrads Late Night”. Muss ich jetzt bereuen, was ich gestern geschrieben habe?

Kurz vor fünf aufgewacht. Weiter in den Tagebüchern von John Cheever. Dort, ganze ohne Ironie, nach einem Kirchgang: “Ich bin hocherfreut zu erfahren, dass Christus auferstanden ist.”

Erster Blick aus dem Fenster. Über Nacht hat sich vor dem Eingang eine dreißig Zentimeter hohe Schneewehe gebildet. – “Dass man dagegen noch nichts erfunden hat …”

“Bei dir muss man ja immer damit rechnen, dass du innerlich mitschreibst, dass man sich morgen in der Geisterbahn wiederfindet …”
Ja, Leute … und … was sollen wir machen? Wer schreibt, schreibt immer, sonst ist es nicht der Mühe wert. Das kann man nicht abschalten. Es wird mitgeschrieben. Das gehört seit ein paar hundert Jahren dazu, zu den Straßen, zu den Foyers, zu den Kneipen, zu den Gesprächen, zu den Salons, zur Demokratie. Muss man das erklären? – Vergesst mich! Spielt einfach weiter! Vergesst, dass die Kamera läuft, dann seid ihr besser.
Außerdem: Einer ist doch sowieso immer da, der alles sieht und alles hört.

Ach, du meine Güte! Schlage gerade die Seiten 52 und 53 des Zeit-Feuilletons auf. Links eine Anzeige des Museums Küppersmühle in Duisburg, rechts eine Anzeige für die beiden Kultursendungen “ttt” und “druckfrisch”. Beide Anzeigen sind – zufällig? – nach Art der bonbonfarbenen seriellen Siebdrucke von Andy Warhol gestaltet. Wahrscheinlich will man uns damit zeigen, wie modern das Museum Küppersmühle und die Kultursendungen sind. Aber diese Siebdrucktechnik hat Andy Warhol Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelt. Das ist – rechnen wir gemeinsam – fünfzig Jahre her! Und wenn seine Suppendosen und Monroes je etwas anderes waren, heute sind sie jedenfalls nur noch Deko, Möbelhaus, Ikea.

Kaspar Hauser ist tot.

Donnerstag, 16. Dezember 2010 – Neunuhrneunundvierzig, minus einskommaeins. Weißer Himmel. Wach seit viertel vor vier.

Gestern Abend die Nachricht, dass Peter O. Chotjewitz gestorben ist. “Du läufst mir auch nochmal vor die Tastatur”, schrieb er mir vor langer Zeit auf einem Kärtchen, als er sich in einem Text unangemessen porträtiert fand.

Wir müssen mal drüber sprechen, wie wir das handhaben, wenn die Geisterbahn gedruckt wird. Soll ich deinen Namen dann abkürzen oder ausschreiben? Oder willst du lieber gar nicht vorkommen?
“Ist mir eigentlich egal. Hauptsache, du schreibst nicht so Sachen wie Helmut Krausser: ‘Bea schenkt mir rote Rosen; dafür liebe ich sie so.'”
Bitte … nichts gegen Krausser! Also, was nun?
“Na, ich kann ja vorher lesen, was du geschrieben hast, und dann sprechen wir drüber.”
Dann musst du aber mehr als tausend Seiten lesen.
“Oder ich lese es einfach überhaupt nicht. Dann kann es mir ja egal sein, was drin steht.”
Na, weißt du, dass die eigene Frau so ignorant sein kann, das ist schon wieder einen Eintrag wert, dann stehst du allerdings ziemlich dumm da …
“Ja, aber da ich ja auch das nicht lesen werde …”

Man soll eben nie fragen, einfach drauf ankommen lassen, einfach machen! Schon die Frage ist ein Sündenfall.

Wahrscheinlich auch eine Deformation, dass ich nicht weiß, warum ich etwas erleben soll, wenn ich hinterher nicht drüber schreiben darf.

Benjamin vaupunkt Stuckrad-Barre: “Auch Deutsche unter den Opfern” – Der Titel ist unschlagbar. Dann lese ich rein, werde erstmal nervös und denke, das ist ja wie WikiLeaks: Alles wird so unterschiedslos ausgeplappert, und weil es bloß alles ist, wird am Ende alles egal. Aber seltsam, ich bleibe dran, lese Text um Text, und als ich bei diesem Satz angekommen bin, hat er Autor gewonnen: “Ein paar Jahre nach der ersten Begegnung mit Herlinde Koelbl geriet der Held meiner Autobiographie in gefährliche Turbulenzen.” Da ist dann das Folgende eigentlich nur noch die Petersilie auf der Kartoffel: “Und wenn ein Schlaukopf daherkommt und sagt, das sei doch Exhibitionismus, dann sage ich dem Schlaukopf: Genau, Schatz – es ist Kunst. Und die handelt von der Wirklichkeit.” Für eine solch hübsche Erkenntnis hätte sich jemand wie Diedrich Diederichsen wahrscheinlich eine ganze Doktorarbeit abgekrampft.
Außerdem dachte ich bislang immer: “dieser saublöde Künstlerdarsteller Jonathan Meese”. Dass ich das jetzt ein wenig weniger denke, finde ich schön.

Und weil es mir gerade gut in den eigenen Kopfkram passt, dies noch über einen nicht stattgefundenen Besuch Stuckrad-Barres beim bereits todkranken Christoph Schlingensief: “Vielleicht ganz gut, dass es zu dem gemeinsamen Teetrinken jetzt nicht mehr gekommen ist, davon nämlich anschließend nicht zu erzählen, wäre mir vielleicht fahrlässig erschienen – und davon eben doch zu erzählen, hätte eventuell Intimitätsverrat bedeutet.”

Am 16. Dezember 1985 wurde Paul Castellano vor Sparks Steakhouse in Manhattan erschossen.

Mittwoch, 15. Dezember 2010 – Zwölfuhreinundvierzig, minus null- kommazwei. Dass es das gibt in der Stadt: vollkommene Stille.

Montag. Mittags fährt Christian mit dem Pickup vor. Dann mit dem Mazda ins Nordend. Meister Gipetto bugsiert C. auf den Thron, um seine Füße zu vermessen. C. fragt immer wieder, ob er seine Socken ausziehen soll, da er so “extrem süße Füße” habe, deren Zehennägel er bis vor kurzem im Sommer rot lackiert habe, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung zu erregen. Als ich sage, dass wir mit Würde altern müssen, stimmt er mir emphatisch zu: “Meine Restjugend reize ich sowieso bis an die Grenze aus.”

Der schöne Montagabend mit den toten Gänsen wird in Schnee und Schweigen gehüllt. Schade eigentlich.

Am nächsten Morgen gehe ich auf den Hauptfriedhof und fotografiere um zehnuhrsiebenundvierzig das verschneite Grab von Matthias Beltz.

Walt Disney ist tot.

Sonntag, 12. Dezember 2010 – Zwölfuhrmittags, vierkommaacht. Bisschen blau, bisschen grau, bisschen weiß.

Durch den dunklen Freitagabend in den Osthafen. Regnet. Die Intzestraße runter, bis wir auf die Franzius stoßen. Links, spärlich beleuchtet, das schäbige Bordell – FKK Beach. Wir fahren nach rechts. Nummer 24, hier muss es sein. Auf der Mainseite, wo keine Häuser stehen, ein Bus, ein LKW, der Motor eines Stromgenerators ist zu hören. In der Finsternis Stimmen, das Knarzen von Funkgeräten. Alles ein wenig unheimlich. Ich drücke mich am Zaun entlang. Der Boden ist schlammig. Zwei schemenhafte Männer. – “Sind hier die Dreharbeiten?” – “Was? Wer sind Sie denn?” – Der weiße Atem vor den Mündern. Verengte Augen im künstlichen Licht. Ich sage meinen Namen. – “Ja, ach so, warten Sie, ich hole rasch den Regisseur. Hat jemand den Lancelot gesehen? Kommen Sie, der ist wahrscheinlich schon am Set.” – Gedreht wird auf dem riesigen Firmengelände einer Betonfabrik. Türme, Halden, Förderbänder, Lagerhallen, es nieselt, zerbröselnder Beton, schmelzende Schneeplacken, Metallgerüste, Taubenscheiße, von den rostigen Streben tropft das Regenwasser in die Pfützen. Dunkel. Scheinwerfer. Sieht alles ein bisschen wie in Ridley Scotts Blade Runner aus. Eine Gruppe unter einem großen Schirm, alle haben dicke Jacken an, dicke Schuhe, Kapuzen. – “Das sind die Tonleute. Die Kamera steht da oben auf dem Turm, dreißig Meter über uns. Gleich geht’s hier los.” – Ein großer Mann, dunkel gekleidet, Strickmütze, flitzt wie aufgezogen durch die Dunkelheit. Er schaut auf seinen Handmonitor, spricht in ein Funkgerät, gibt Anweisungen. – “Das ist der Regisseur, Lancelot von Naso. Schwer zu fassen, der Mann, immer in Bewegung. Lancelot, hier ist der Autor.” – Der Regisseur wirft den Kopf herum, blinzelt irritiert, als wolle er sagen: Auch das noch. Kommt kurz rüber, lächelt schmal: “Also Sie haben uns das alles eingebrockt.” – Dann ist er wieder weg, für einen Moment wird es hektisch: Ruhe jetzt, Ton ab, Kamera ab, Klappe! Rasender Stillstand. Ein alter dunkelgrüner Mercedes fährt durch den Abend, bremst, zwei Männer springen raus und kommen geduckt auf uns zu: Matthias Köberlin und Florian Panzner. “Danke, das war’s!”, ruft der Regisseur. – “Bei meiner Frau haben gerade die Wehen eingesetzt”, sagt Panzner, der den Polizisten Toller spielt. Und dass er am Samstagnachmittag, wenn die Dreharbeiten zu Ende sind, sofort nach Berlin fahren muss. – “Als Autor haben Sie sich das bestimmt alles ganz anders vorgestellt”, sagt Köberlin, der den Hauptkommissar Marthaler spielt, den ich mir wirklich ganz anders vorgestellt hatte. “Ja, stimmt”, sage, ich, “aber es gefällt mir gut hier, diese Fabrik, diese Atmosphäre, der Regen, der Schlamm, dieser energetische Regisseur.” – Und besonders gefällt er mir, der Hauptdarsteller, der so ein wenig verschmitzt wirkt und verschlossen und freundlich und mürrisch und zum Glück kein bisschen wie einer dieser kapriziösen Schauspielerdarsteller.
Und eine Stunde später, als wir schon durchgefroren sind und wieder über das Gelände Richtung Straße stolpern, taucht Lancelot von Naso unverhofft neben uns aus der Dunkelheit auf. “Ich habe fast all deine Aufgaben erledigen können”, sagt er und blinzelt. Meine Aufgaben? Kleines Grinsen. Ach so, ja. Ich hatte ihn gebeten, einen struppigen, widerständigen, schmutzigen Film zu machen, kein blödes, glattes deutsches Fernsehspiel. “Vielleicht”, sagt er, bevor er abtaucht in die Nacht, “komm ich mit dem fertigen Film einfach mal bei dir vorbei.” Echt gut, der Typ.

Todestag von Clifton Chenier.

Freitag, 10. Dezember 2010 – Neunuhrachtunddreißig, minus nullkommaneun. Vorhin ein irres, zerfleddertes Morgenrot.

Es stimmt ja nicht, dass die Normalität nur Fassade ist, dass hinter jedem Lächeln eine Fratze grinst und unter jedem Boden ein Abgrund gähnt.

Der Alltag hat auch etwas Freundliches, Starkes, Ungefährdetes: Morgens mit dem Wecker aufstehen, sich die Haare einschäumen, ein frisches Hemd aus dem Schrank nehmen, einen Schlager mitsingen, dem müden Kind, das zur Schule muss, noch einmal übers Haar streichen, eine Mandarine schälen, sich die Hände mit roter Speick-Seife waschen, an den Fingern riechen, den Schnee von der Windschutzscheibe kehren, einen Blick auf die Tannen am Friedhof werfen, der Nachbarin zunicken, sich die Schuhe abklopfen, bevor man in den Mazda steigt, den Zündschlüssel drehen und hören, wie der Motor startet, am Gefängnis vorbei in den Supermarkt fahren, ein Päckchen fettarmen Philadelphia-Frischkäse und ein Kürbiskernbrötchen kaufen, zu Hause den Briefkasten öffnen, den schwarz umrandeten Umschlag herausnehmen …

Gestern drei Texte in drei unterschiedlichen Zeitungen von drei Autoren gelesen, die ich kenne, die etwa in meinem Alter sind, die womöglich hätten Freunde sein können oder es sogar waren. Jeder der Texte war inakzeptabel. Aber statt mich nun einfach mit einer gewissen Nonchalance abzuwenden, reagiere ich drei Mal mit geradezu wütender Verachtung. Ob sie über ein Buch schreiben, von ihrem Schreibtisch auf die Straße schauen oder durch eine fremde Stadt laufen – statt bei ihrem Gegenstand zu bleiben, bringen sie sich mit jedem Satz selbst in Stellung. Sie schreiben nur für die Peergroup, für Kollegen, Redakteure, Verleger. Haltung und Pose sind eins bei ihnen geworden. Jeder Text ist Teil des Gerangels im Betrieb. Von nichts getrieben als davon, das eigene Standing zu verbessern. Freilich, sie wollen souverän, wollen lässig wirken, aber weil sie das um fast jeden Preis wollen, riecht man die Absicht, die Anpasserei, die Angst.
Nur: Warum bringt mich das so auf?
Wie erholsam, wie klug dagegen Roger Willemsens Tirade auf den deutschen Herbst des ausgehenden Jahres im aktuellen Zeitmagazin.

Jascha Heifetz ist tot.

Donnerstag, 9. Dezember 2010 – Siebenuhrdreiunddreißig, minus einskommazwei. Alles dick verschneit.

Beim Einschlafen gestern hat mich nach fast dreißig Jahren das Göttinger Drama eingeholt; mit einem Flash war alles wieder da: Die Schlägerei am Nachmittag auf der Straße, der weiße Porsche, der uns den Weg abschnitt, als wir fliehen wollten, die erlösenden Rufe aus einem offenen Fenster, dass die Polizei gleich komme, wie wir uns verschanzt haben in der Wohnung in der Reinhäuser Landstraße, der Anruf, dass ihr Exmann mit einem Gewehr zu uns unterwegs sei, wie es am Abend läutet, wir nicht öffnen, sondern den Notruf wählen, dann aber doch das Poltern der Schritte im Treppenhaus hören, wie M. sich mit dem Baseballschläger hinter der Wohungstür postiert, aber ihn nicht mehr benutzen kann, weil die Tür von vier Unbekannten aus den Angeln getreten und er darunter begraben wird, wie sie die ganze Wohnung demolieren, wie einer mit dem abgeschlagenen Flaschenhals vor meinem Gesicht fuchtelt, wie ein anderer den großen Fernseher auf den Glastisch krachen lässt, wie sie dann schließlich runter und ins Freie stürmen, dort aber von der Polizei abgepasst werden. Nachts die Gegenüberstellung auf dem Revier, die Untersuchungen in der Uniklinik, die Wochen danach, als ich mich nur noch mit einer kleinen Pistole bewaffnet auf die Straße traute, als ich bei jedem Motorengeräusch zusammen zuckte und in einen Hauseinang sprang, die anschließenden Prozesse und wie einer der Täter vor Wut mit der Faust auf die Wand im Gerichtsflur eindrosch, dann vor Schmerz aufschrie und mir zurief “Wenn meine Hand gebrochen ist, bring ich dich um”, die Flucht nach Hamburg, das ganze Unglück dort, meine Angst später, als mir einer von ihnen am Frankfurter Hauptbahnhof über den Weg lief und ich noch Monate lang nicht an einen Zufall glauben wollte …

Merke gerade, dass ich oben in dem Text mehrmals die Zeiten gewechselt habe, trotzdem kommt er mir richtig vor.

“Der Kultur- und Krimiverein des Bonner Polizeipräsidiums würde Sie gern zu einem seiner Krimiabende einladen, an denen regelmäßig rund 200 Personen teilnehmen. (…und das Landespolizeiorchester würde die Lesung mit dem Jazz- Ensemble begleiten).”
Jazz-Ensemble des Landespolizeiorchesters – das nennt man wohl: Androhung der Höchststrafe! Dann lieber gleich in die Zelle.

Nichts Neues von Assange? Außer, dass er von Interpol noch gesucht wird, obwohl er bereits im Gefängnis sitzt.

Viktor Agartz ist tot.

Mittwoch, 8. Dezember 2010 – Achtuhrelf, nullkommavier. Es taut. Die Schneebretter rutschen von den Dächern.

Gestern Abend mit Jürgen nach Enkheim zur Riedschule, die wie ein geducktes, steinernes Tier vor uns in der Dunkelheit liegt. Schneeregen. Wir tapern über das leere Gelände und suchen die Bücherei. Am Eingang eine kleine Irritation, die mir sofort behagt – wie mir so oft peinliche Situationen behagen. Nein, Jürgen ist nicht der Autor. Ich heute auch nicht. Ein Taxi fährt vor, Peter steigt aus. Er ist der Autor. Und riecht gut. “Azzaro Elixir – mit dem Instinkt des Verführers”. – Da ist sie fast wieder beisammen, die kleine Schar aus Burgas Bierhütte, wo wir vor fünfzehn Jahren jeden Mittwoch hockten. – Die beiden Sonnenscheins machen den Abend hell. Später, beim Italiener, dieser Mann mit dem dicken schwarzen Schnauzbart, der dauernd von den Weberinnen und von der Revolution spricht. Ist er ein Spanier? Er versucht sich festzuhaken mit seinen freundlichen, großen Augen, so dass ich schnell wegschaue. – Und wieder geht es um neue, “unglaublich gute amerikanische Serien”, die ich wieder nicht anschauen werde, weil ich wieder nur vor dem Fernseher einschlafen würde. – Bin zu lethargisch, um zu fotografieren. Peter erzählt, wie er Handke in Chaville besucht hat. Klingt nicht so gut.
Wir werden routinierter. Das Haar wird dünner. Aufpassen!

Ganz aufgeregt … die kleine Hubbuch-Skizze ist gekommen. Was für ein Beauty! Mir gehört ein echter, kleiner Hubbuch.

Kim Basinger hat Geburtstag. Und … ja, ja, ich weiß: John Lennon ist tot. Auf dem letzten Foto, das ihn lebend zeigt, ist er gemeinsam mit seinem Mörder zu sehen.

Dienstag, 7. Dezember 2010 – Zehnuhrsechsundvierzig, nullkommavier. Schneit.

Eine alte Frau in Hausschuhen angelt mit einem auseinandergebogenen Drahtkleiderbügel im Flaschencontainer nach Pfandware.

Gestern Abend hatte Andrea Meier, die Kulturzeit-Moderatorin, Hosenträger an, so dass ich mich nicht auf die Sendung konzentrieren konnte, sondern immer auf diese Hosenträger starren musste, die mal direkt auf ihren Brüsten, dann wieder daneben saßen, manchmal auch asymmetrisch, und ich dachte, dass das auf Dauer doch wohl scheuern muss und bestimmt ziemlich schmerzhaft ist. Allerdings erinnere ich mich nicht mehr wirklich an das Gefühl, denn ich habe seit meiner Kindheit keine Hosenträger mehr getragen. Aber mir fällt dabei ein, dass ich mit dem Rad oft an einer Straße vorbeikomme, die “Im Rosenträger” heißt.

Darin gleichen sich alle männlichen Provinzbewohner, dass in ihrem Leben das Auto und das Fleisch eine übergroße Rolle spielen.

Im Zweifel interessiert mich eine gelungene Neuinterpretation der Pastorale mehr als der Ausgang der nächsten Wahlen.

Eine Nachricht der Produktionsfirma legt vorsichtig nahe, dass die noch andauernden Dreharbeiten zur “Braut im Schnee” wohl ziemlich turbulent verlaufen. Wie kommt es, dass mich das eher zuversichtlich stimmt?

Lektüre: Die Tagebücher von John Cheever.

Nicolas Born ist tot.

Montag, 6. Dezember 2010 – Dreizehnuhrdreizehn, einskommasechs. Stummer Stillstand.

P: “Heute Nacht habe ich geträumt, jemand hätte unseren Rasen gestohlen.”

Auf dem Pferd durch die dunkle Stadt. Die Straßen sind leer. Hinter den Fenstern das blaue Flackern. Ein Straßenschild in Kopfhöhe: “Hirschkäferallee”. Der Reiter nickt, trabt ein Stück weiter, hält an und beugt sich hinab, um in ein Wohnzimmer zu schauen. Dort sitzt ein Mann in seinem Sessel und schüttelt die Faust wütend in Richtung des Fernsehers. Ohne sich umzuwenden, scheint er nun die Anwesenheit des Reiters zu bemerken und ist umgehend beschwichtigt.

Mit großer Gewissheit verkündet N., dass “Der kommende Aufstand”, den er noch nicht gelesen habe, der “heißeste Text der Saison” sei. Um sich gleich anschließend eine halbe Stunde lang von seinem Nebenmann beraten zu lassen, ob man sein Geld momentan besser in Fonds, in Gold oder in Immobilien anlegen solle.

Frage an den Achtzigjährigen: “Und? Wie geht’s?”
Antwort: “Gut, ich kann noch Auto fahren.”

“Das hört sich doch ganz ansehnlich an …”

“Pietät im Prüfling” – Die werde ich wohl nehmen, wenn ich tot bin.

Würde gerne mal wieder einen kleinen, einfachen Film sehen, der nichts von mir will, außer mir etwas zeigen – mit wenig Handlung, wenig Dramaturgie. Nur Gesichter, Worte, Bewegungen …

Gäbe es Ferdinand von Schirachs Kolumne im “Spiegel” nicht, würde ich das Magazin wohl längst nicht mehr lesen. Zu viel Personality, zu viele Enthüllungen, zu wenige Gedanken.

Drei Zeichnungen gekauft: eine Lesende von Haueisen, einen Radfahrer und eine Frauenkopfstudie von Hubbuch.

Leadbelly ist tot.

Sonntag, 5. Dezember 2010 – Sechsuhrvierundfünfzig, minus einskomma- drei. Wach seit kurz vor fünf. Es hat wieder geschneit, aber nur ein wenig. Dunkel. Noch ganz ruhig. Nur das Grollen der Flugzeuge in den Wolken und das Wasser in den Heizkörpern. Es ist so still, so friedlich, dass man nachher eigentlich in die Kirche gehen möchte. Aber dann müsste man ja grüßen und reden.

Gestern Mittag im Wagen auf der sonnigen Friedberger Landstraße. Das Bild des Viertels hat sich sehr verändert, seit überall die rotweißen Absperrungen stehen. Die Baustelle macht alle nervös. Es wird gehupt, und hinter den Autofenstern sieht man die Fahrer lautlos schimpfen. Wir brauchen eine Viertelstunde, um über den Ring zu kommen. Ein Polizeiwagen nähert sich von links, aus dem Lautsprecher eine energische Frauenstimme: “Halten Sie die Kreuzung frei!” Ein paar Meter weiter: Handgemachte Schuhe. Gipetto steht noch in seiner Werkstatt; ich sehe seine Silhouette. Wir sind fast vor seiner Tür und doch wie durch einen Ozean von ihm getrennt. Es ist kurz vor zwei am frühen Samstagnachmittag.
Dann im Hof der Anna-Schmidt-Schule. Ein wenig zu alt sind diese Eltern. Aber lächeln vor lauter Geld. Barbourjacken und Burberry-Schals. Die feuchten Handfläche des Klarinettenlehrers. Die Frau, die wie ein Gespenst in der Nähe steht. Sie schaut mich immer wieder an, als gehe von mir eine Bedrohung aus. Sonst kann ich nichts aus ihrem Blick lesen. Sie macht mir eine kleine Angst. Es wird schon Wein getrunken. Ich habe Lust auf einen Döner oder eine Bratwurst, bin aber stärker. Ein Mädchen mit einem großen Gebiss und schönen, großen Augen. Zu große junge Männer, schön und schlank, ein wenig dumm und höflich.
P. geht mit einem Jungen in die Stadt, C. fährt ins Stadion, wo sie sich das Fußballspiel gegen Mainz 05 ansehen will. “Was Frauen halt so machen”, sagt Charlotte später am Telefon. Ich fahre nach Hause, um zu kochen. Es gibt Jakobsmuscheln in Safransoße mit selbstgebackenem Baguette, dann ein Rindercarpaccio, dann Risotto mit Pfifferlingen und Kalbskotelett. Als C. zurückkommt, ist sie ganz fröhlich und erfüllt von dem Spiel und der Stimmung im ausverkauften Stadion und den guten Plätzen. Und das wiederum macht mich glücklich. Der Tatort mit Ulrich Tukur, der überall gelobt wurde und dessen Aufzeichnung wir anschauen, ist gründlich misslungen. Ich schlafe ein.
Ich schreibe das alles auf die Rückseite eines alten Vertragsentwurfs, in dem steht, dass der Autor vom Produzenten hundertfünftausend Euro erhält. Ich bin nicht gemeint.
Ein Mann: “Im Winter ist es schwerer, einer Frau durch die Stadt zu folgen. Sie soll mich ja nicht bemerken. Sie soll ja keine Angst vor mir bekommen.”
Ich wünschte, in meiner Umgebung würde etwas Schreckliches geschehen, nein, nichts Schreckliches, sondern etwas wirklich Tragisches, das ich dann aufschreiben könnte. Will ich das wirklich? Oder will ich nur wissen, wie es ist, einen solchen Satz hinzuschreiben?

Nachrichten: das große Feuer in der Nähe von Haifa; der schwere Unfall in der Fernsehshow.
Am Nachmittag nicht die Zeichnungen vergessen!

Heute vor einem Jahr ist Alfred Hrdlicka gestorben.

Samstag, 4. Dezember 2010 – Dreizehnuhrfünf, minus nullkommavier. Die Sonne leckt am Schnee, doch die kalte Erde hält ihn fest.

Seit Jahren sind es die gleichen Meldungen: “Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter, die Umverteilung von unten nach oben hat sich nochmals beschleunigt …” Man sollte meinen, das wohlhabende Bürgertum müsse spätestens jetzt den Armen gegenüber ein wenig Scham empfinden. Das Gegenteil ist der Fall.
Dieser Tage hat das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung die neuen Ergebnisse seiner Langzeitstudie zu den “Deutschen Zuständen” veröffentlicht. Dort wird festgestellt, dass es besonders in den höheren Einkommensgruppen einen signifikanten Anstieg abwertender und menschenfeindlicher Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen wie den Langzeitarbeitslosen, den Obdachlosen und den Fremden gibt. Die Forscher sprechen von einer “Vereisung des sozialen Klimas” und von einer zunehmend “rohen, entkultivierten Bürgerlichkeit”: “Die neue Formel des Abbaus von sozialstaatlichem Anrecht auf Unterstützung lautet: Gnade durch Wohlhabende und Selbstverantwortung der sozial Schwachen … Der semantische Klassenkampf von oben wird ungeniert offenbart.”

Nicht vergessen werde ich den Blick von B., als sie – die Aristokraten aus dem Musical “Evita” zitierend – meinte: “Manche gehören eben vor den Tresen und andere dahinter.”

Such a shame she wandered into our enclosure
How unfortunate this person has forced us to be blunt
No, we wouldn’t mind seeing her in Harrod’s
But behind the jewelry counter, not in front

Todestag von Adolph Kolping. Wenn das nicht passt …

Freitag, 3. Dezember 2010 – Neunuhrneunundfünfzig, minus fünfkomma- zwei. Weiß. Die Lesereise ist nach neun Monaten zu Ende. Gerade mein erstes Ciabatta gebacken.

Noch ganz durchdrungen von dem Gespräch zwischen Ulrich Greiner und Peter Handke, das ich gestern Abend, allein im Restaurant, gelesen habe. Wieder gehen davon eine sanfte Spannung und ein nachhaltiger Trost aus. Vielleicht ist es einfach so: Beide gehören zu den wenigen, die “bei Trost” sind.

Aber mit Handke ist auch Fritz wieder da. Und ist umso mehr da, weil er schon so lange nicht mehr da ist.

Im Wagen durch die Dunkelheit, im Schneetreiben am Frankfurter Flughafen vorbei, über mehrere Autobahnen, zwischen Sattelschlepper geklemmt und gehetzt von den Scheinwerfern der Raser. Wie falsch ein solches Leben ist.

“Schreiben Sie morgen denn in Ihrem Tagebuch auch, dass Sie heute Abend hier bei uns in Nieder-Olm waren?” Allein wegen einer solch kuriosen Frage soll es nicht unerwähnt bleiben. – Erinnerung an A., die vor Jahren ganz gierig in meiner Ausgabe der Warhol-Tagebücher blätterte, um zu schauen, ob sie dort vorkommt.

Wenn der Ansturm allzu groß wird, möchte ich manchmal fragen: “Merken Sie Idiot denn nicht, dass ich gar nicht da bin?”

“Du kleines geiles Fleisch”, dachte Professor Hofmann unwillkürlich. Und erschrak.

Kann man das sagen: “die Herrlichkeit dieser Schuhe”?

Stevenson ist tot.

Donnerstag, 2. Dezember 2010 – Neunuhrsiebzehn, minus sechskomma- fünf. Schneit.

“Was ist denn jetzt schon wieder los?”
“Wieso, was soll denn los sein?”
“Ich weiß nicht, aber du guckst wie eine Atombombe.”

“Jetzt fahr doch gefälligst mal rechts ran, merkst du nicht, dass ein Notarztwagen vorbei will?”
“Nee, hab ich nicht gemerkt. Aber was soll schon passieren, außer dass jemand stirbt?”

Vorgestern Abend im Konrad-Zuse-Hotel in Hünfeld. Fernsehen. Wie zu erwarten, hat es Heiner Geißler mit seinem sogenannten Schlichtungs- verfahren geschafft, die Gegner des Bahnhofsprojektes Stuttgart 21 zu spalten und ihren Protest zu brechen. In den tagesthemen ein Gespräch mit Hannes Rockenbauch, einem der Aktivisten des Widerstandes. Statt wütend zu sein und einzugestehen, dass es ein Fehler war, sich überhaupt auf dieses Verfahren eingelassen zu haben, gibt sich der junge Mann gut gelaunt und verkündet, dass man die Schlichtung schon deshalb als einen Erfolg verbuche, weil sie den Gegnern Gelegenheit gegeben habe, ihre guten Argumente einer großen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Plötzlich steht dieser eben noch patent wirkende junge Wilde da wie jeder alerte, grinsende Politfunktionär, der seine Niederlage zu einem Sieg umdeuten muss. Plötzlich steht er da wie ein Lügner.

Die nachdenkseiten veröffentlichen einen kleinen Text Niklas Luhmanns, der sich wie ein frappierender Kommentar zu dem Stuttgarter Schlichtungs- verfahren liest:
“Funktion des Verfahrens ist mithin die Spezifizierung der Unzufriedenheit und die Zersplitterung und Absorption von Protesten.
 Motor des Verfahrens aber ist die Ungewissheit über den Ausgang. Diese Ungewissheit ist die treibende Kraft des Verfahrens, der eigentlich legitimierende Faktor. Sie muss daher während des Verfahrens mit aller Sorgfalt und mit Mitteln des Zeremoniells gepflegt und erhalten werden – zum Beispiel durch betonte Darstellung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, durch Verheimlichung schon gefasster Entscheidungen, im englischen Prozess sogar durch die Regel, dass der Richter vollständig unvorbereitet zur Verhandlung erscheint und ihm alle Einzelheiten mündlich vorgetragen werden müssen. Die Spannung muss bis zur Urteilsverkündung wachgehalten werden. Die Ungewissheit wird nämlich als Motiv in Anspruch genommen, um den Entscheidungsempfänger zu unbezahlter zeremonieller Arbeit zu veranlassen. Nach deren Ableistung findet er sich wieder als jemand, der die Normen in ihrer Geltung und die Entscheidenden im Amt bestätigt und sich selbst die Möglichkeit genommen hat, seine Interessen als konsensfähig zu generalisieren und größere soziale oder politische Allianzen für seine Ziele zu bilden. Er hat sich selbst isoliert. Eine Rebellion gegen die Entscheidung hat dann kaum noch Sinn und jedenfalls keine Chancen mehr. Selbst die Möglichkeit, wegen eines moralischen Unrechts öffentlich zu leiden ist verbaut.“
Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1969

Vor zwei Jahren starb Odetta.