Januar 2011
Montag, 31. Januar 2011 – Achtuhrnullnull, minus siebenkommaneun. Neblig.
Kleine Sonntagsfahrt. In die Kälte, in die Sonne, an den Main. Dort ein älteres, durch und durch rechtschaffenes Ehepaar. Man kommt ins Plaudern. Über das Hochwasser, die neuerliche Kälte, das Verhältnis der Offenbacher zu den Frankfurtern, die Politik. “Nicht, dass Sie denken, ich wär’ CDU”, sagt die Frau, “aber die Geschichte muss ich Ihnen erzählen. Wir kommen hier drüben aus Bürgel. Gestern stehen wir also dort im Rewe-Markt an der Kasse. Neben uns Tarek Al-Wazir, der Landesvorsitzende der Grünen – wohnt gleich bei uns um die Ecke. In seinem Einkaufswagen liegt eine ganze Palette abgepackter Hähnchenunterschenkel … Na ja, so weit, so gut. Aber was meinen Sie, was heute Morgen passiert? Ich schlag die Sonntags-FAZ auf und wer guckt mir entgegen? Richtig, Tarek Al-Wazir, wie er gegen Dioxin-Eier und Massentierhaltung wettert. Ich meine, also … Wie gesagt, nicht, dass Sie denken, ich wär’ CDU …”
Todestag von Alexander Ypsilantis.
Sonntag, 30. Januar 2019 – Achtuhreinundzwanzig, minus fünfkommanull. Gestern sonnig-kalte Jubiläumsausfahrt der “Lokomotive Rotes Ritzel”. Einen Tag zu früh, wie sich abends herausstellt.
Jetzt entlässt Mubarak seine Regierung, verspricht Reformen, will aber Staatspräsident bleiben. Doch selbst, wenn er nun in Ägypten den Himmel auf Erden errichten würde: Er verkennt, dass es auch um seine Physiognomie geht, derer die Leute überdrüssig sind. Das Volk kann ihn nicht mehr sehen.
Durch mit “AusgeKOCHt – Hinter den Kulissen hessischer Machtpolitik” von Pitt von Bebenburg und Matthias Thieme. Reichlich deprimierend. In meiner Jugend- und Schulzeit war dieses Bundesland freisinnig, ermunternd, offen, denkfreudig, demokratisch. Jetzt herrschen vor: Selbstgerechtigkeit, Machtwille, Korruptheit, Verschlagenheit, Abgrenzung, Dünkel, Ressentiment, Angst, Duckmäusertum. “Ja, ja, früher war alles besser oder wie?” Nein, das nicht, aber die Verheerungen sind enorm. Wird ein wenig Arbeit sein, dass wieder zu ändern. Wird dauern.
Weiter in Kesslers Tagebüchern. Wir sind gerade auf Weltreise, in Darjeeling.
Nicht vergessen den norwegischen Zeichner Per Dybvig, über den Grandits dieser Tage in der “Kulturzeit” berichtete. Dybvig läuft zeichnend statt fotografierend durch die Stadt. Seine Bilder aus dem Vienna Drawing Book erinnern an jene aus dem New Yorker Skizzenbuch von George Grosz.
Bloody Sunday.
Freitag, 28. Januar 2011 – Sechzehnuhrsiebenundfünfzig, einskommanull.
Die Daten Louis-Ferdinand Célines werden aus dem französischen Jahrbuch nationaler Gedenktage gestrichen. Der Name des wütenden Antisemiten – dessen Todestag sich im Juli zum fünfzigsten Mal jährt – solle nicht neben denen bedeutender Persönlichkeiten Frankreichs stehen, erklärte Kulturminister Frédéric Mitterrand.
Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft zum Fall Mirco. Der Leiter der Soko – bärtig, wie offensichtlich fast alle Kriminalpolizisten – nutzt die Gelegenheit, um sich bei seinem Team zu bedanken und findet dafür vor laufenden Kameras die Worte: “Das sind positiv Bekloppte gewesen, die solch eine Sache mitmachen.”
Auf Aljazeera ein ständiger Livestream des Aufstandes in Ägypten. Man sieht die Brücke des 6. Oktober in Kairo, auf der sich ein Polizeikordon und Protestierer gegenüber stehen. Sie verhandeln kurz miteinander, dann sinken die Demonstranten auf die Knie, um zu beten.
Arnold Hauser ist tot.
Donnerstag, 27. Januar 2011 – Sechzehnuhrzweiunddreißig, nullkomma- drei. Der Himmel graublauer Stahl.
Zu Gast bei B., der ausschließlich Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sammelt, aber schon einige Male auf betrügerische Galeristen hereingefallen ist, entdecke ich an der Wohnzimmerwand ein großformatiges Bild, das bei meinem letzten Besuch noch nicht dort hing. Es zeigt eine ekstatisch verrenkte Frauengestalt vor einer städtischen Landschaft mit Leuchtreklamen.
“Neu?”, frage ich B.
Er schaut mich erbleichend an: “Das will ich nicht hoffen!”
Vor einem Jahr starb Salinger, vor zwei Jahren Updike.
Dienstag, 25. Januar 2011 – Fünfzehnuhrsiebenundfünfzig, zweikomma- acht. Regnerisch. Fast schon wieder gesund. Obwohl … das viszerale Gurgeln …
Nach Jahren mal wieder in den “Blitzlichtern” von Edmond und Jules de Goncourt geschmökert und endlich auf das gescheite Nachwort von Anita Albus gestoßen. Dort schildert die Herausgeberin, dass sich die beiden Brüder wie Jäger durch die Pariser Gesellschaft bewegten, ständig auf der Suche nach Beute für ihr Journal. Zitiert wird Théophile Gautier, der annahm, dass sie heimlich Notizen machten: “Sobald man sie nicht anschaut, müssen sie wohl auf ihre Manschetten schreiben.” Welcher Tagebuchschreiber würde es anders machen?
Ein Tag, zwei Nachrichten:
1. “Asien fürchtet Hungersnot – In Indien kosten manche Produkte dreimal so viel wie vor einem Jahr, in Bangladesch können sich die Ärmsten nicht mal mehr Milch leisten. Die Uno warnt vor einer Hungerkatastrophe – und Gewaltexzessen.
2. “Unternehmer sind bester Laune – Die Stimmung bei deutschen Unternehmern steigt auf den besten Wert seit der Wiedervereinigung.”
Fragt man sich, warum die Hungernden nicht einfach die gute Laune der deutschen Unternehmer teilen.
Nach dem umwerfenden “Tosca”-Abend am Freitag sollten geschrieben werden:
1. A tribute to Elke Heidenreich.
2. Ein neuerliches Loblied auf die Oper Frankfurt und ihren Intendanten Bernd Loebe.
3. Ein Stoßgebet, dass man in Kirill Petrenko den neuen Carlos Kleiber gefunden habe.
4. Ein Danklied an Andreas Kriegenburg (Regie), Harald Thor (Bühnenbild) und Tanja Hofmann (Kostüme), die mehr für die Geschmacksbildung getan haben als … ach, ich weiß nicht, wer.
6. Eine Entschuldigung an den Winzer Axel Schmitt aus Ober-Hilbersheim für die Vermutung, es gebe keinen guten deutschen Rotwein.
Todestag von Ruth Berghaus.
Freitag, 21. Januar 2011 – Zehnuhrneunundzwanzig, minus achtundzwanzigkommazwei Grad. Ach was, das Thermometer spinnt!
“Wir sind Blog – Lesung, Musik, Salon” im Museum für Kommunikation. Wenn doch mal ein Museum gegen Kommunikation gegründet würde. Da würde ich dann zur Eröffnung gerne keine Rede halten. Na, aber war doch in Ordnung gestern Abend. Tine Nowak schafft es im Handumdrehen, einen Saal mit sechzig Leuten, die sich fremd sind, in ein Wohnzimmer zu verwandeln. Alles lässig, konzentriert, ohne Hohn, ohne Polemik. Keine Erdmännchen unter den Gästen, wie sie sich sonst auf jeder Veranstaltung in Positur bringen. Auch, wer wenig Ahnung von öffentlich geführten Tagebüchern hat, meldet sich zu Wort und stellt die richtigen Fragen. Und bekommt eine ernste oder witzige Antwort. Schon macht es klick, und man ist wieder ein Stück weiter. Der erste Auftritt von Komaläufer, Atillas neuer Band. Schön, wie loyal sie miteinander umgehen, wie sie einander zugewandt sind. Und die beiden neuen Stücke rollen wahnsinnig gut. Nur die Butterblumen sollten sie weniger détaché, wieder mehr legato spielen. Sagt der Schlaumeier.
Trotzdem deprimiert nach Hause.
Der Mond ist untergegangen: Matthias Claudius ist tot.
Donnerstag, 20 Januar 2011 – Zehnuhrvierunddreißig, zweikommaacht. Wolkenbild: gemischt. Freu mich auf heute Abend.
Das Tagebuch als Registriermaschine. Dienstag die bewunderungswürdigen Schuhe zu Gipetto gebracht, dann mit dem Rad an den Hauptbahnhof. Peter kommt aus Köln, um ein paar O-Töne zum skandinavischen Kriminalroman aufzunehmen. Aber erstmal in die Düsseldorfer Straße, beim Iraner einen Reiskocher kaufen, gibt’s in Köln nicht. Brauch ich auch, so ein Ding. Lieber gleich den für acht Personen. Gute Atmosphäre in dem Laden. Zurück in die Bahnhofslounge. Nee, geht nicht, viel zu laut, wird nie und nimmer sendefähig. Runter in die kleine Bar. Der junge Tunesier hinter dem Tresen will über Tunesien sprechen, stellt die Spülmaschine aus, aber jetzt kriegen wir das MP3-Gerät nicht in Gang. Ah, geht doch. Aber dann baut sich vor uns ein kleiner, siebzigjähriger Säufer auf, ehemals Bundeswehroffizier, beschimpft uns, will selber reden, redet, redet, redet – und schaut dabei immer wieder, ob wir auch wirklich alles aufnehmen. Also raus! Schlendern die Kaiserstraße runter, wo uns vor einem Scherzartikelgeschäft der Verleger Rainer Weiss, seine Kollegin und ein lächelnder Mann im grauen Anzug begegnen. Kurzer Austausch von Jovialitäten. Peter: “Wie geht das Geschäft?” – Rainer Weiss: “Prächtig!” … verdreht die Augen und zieht gemeinsam mit der Frau ab. Der Mann im grauen Anzug bleibt stehen, lächelt weiter: “Sie sind doch Jan Seghers. Mein Onkel war vierzig Jahre lang bei der Frankfurter Kripo. Hat sowohl den Fall Nitribitt als auch den Fall Matura bearbeitet.” Schon verrückt. Die Stadt wird kleiner. Nachmittags Charlotte mit Hugo, der schon den Anfang von Herr Ribbeck aufsagen kann. Und hat in der Krabbelstube Was müssen das für Bäume sein? gelernt, das ich zuletzt vor fünfzig Jahren im Kindergottesdienst gesungen habe. Wir gucken zusammen Picasso-Bilder, wonnig. “Wie heißt der gute Maler? Piiiii …” – “… Casso!” – Gestern Druck aus dem Verlag und den ganzen Tag an der Flugzeugszene. Abends der Vollmond im Geäst. Mit C. in die Alte Oper zum Artemis-Quartett: drei Beethovenquartette und die Große Fuge op. 133. Wunderbar, nur kurz geschlafen. In der U-Bahnstation helfe ich einer Rollstuhlfahrerin, in den Waggon zu kommen. Wir reden ein wenig, dann sagt sie: “Die Akte Rosenherz lässt grüßen.” Mein Gesicht macht ein verdattertes Fragezeichen. Sie lacht. “Ich war im Frühjahr bei Ihrer Lesung in der Buchhandlung Schutt, unsere beiden Jack-Wolfskin-Jacken hingen neben einander an der Garderobe.” So klein?
Audrey Hepburn ist tot.
Dienstag, 18. Januar 2011 – Neunuhreinundzwanzig, fünfkommafünf. Wird wohl ganz schön werden.
Der große Supermarkt liegt zwischen einem Reifenhändler und einer Tankstelle. Der Parkplatz ist nur schütter besetzt – nicht viel los um diese Zeit, paar Arbeitslose, paar Rentner. Neben dem Eingang drei Reihen aneinander geketteter Einkaufswagen. Davor ein Mann um die fünfzig, groß, kräftig, Turnschuhe, eine Gehhilfe. Ich bin der Gerd, steht auf seinem Jogginganzug. Kleine Irritation, da ich nicht weiß, auf welchen Wagen der Gerd gerade zusteuert. “Was denn?” bellt er. “Ich will bloß keinen, in dem die anderen ihren Müll abgeladen haben. Warum können die nicht einfach ihre Zettel und Prospekte rausnehmen, wenn sie fertig sind mit Einkaufen? Ist doch ein Sauerei! Man fragt sich, wie es bei denen zu Hause aussieht. Wahrscheinlich genauso. Ha!” – Erst als ich an der Kasse stehe, sehe ich, dass zu dem Gerd ein zweiter Mann gehört: schulterlanges, strähniges Haar, Knopf im Ohr, sehr hager, der linke Mundwinkel hängt auffällig nach unten. Er ist höchstens vierzig, sieht aber aus wie ein hinfällig gewordener Indianer Joe. Indianer Joe schlurft davon und kommt zurück mit einer Packung Eier, die in den Wagen zu legen er sich aber offensichtlich nicht traut. Hinter dem Rücken von Gerd bleibt er stehen. Gerd dreht sich um und schaut auf die Eier: “Was ist das?” – Indianer Joe reagiert nicht, seine Augen bleiben tot, sein graues Gesicht ohne Regung. – “Was das ist, hab ich dich gefragt.” – “Eier”, sagt Indianer Joe tonlos. – “Hab ich dir nicht gesagt, dass die Eier verseucht sind? Hab ich dir nicht gesagt, dass mir ein solcher Siff nicht ins Haus kommt?” Das sportiv-rechtschaffene Rentnerpaar vor mir beobachtet die Szene, stößt sich an und wechselt ein kurzes, einverständiges Lächeln. “Bring den Siff zurück!” schnauzt Gerd. Sein Begleiter macht keine Anstalten dem Befehl zu folgen. Gerd hebt für einen Moment drohend seine Krücke. Weder zuckt Indianer Joe, noch blinzelt er. Doch als Gerd ihn bereits nicht mehr beachtet, dreht er sich um und trägt die Eier zurück. Das Leuchten in den Augen der Rentner erlischt.
“Knapp dreißig Prozent aller Fernsehzuschauer haben am Freitagabend die erste Sendung der neuen Staffel von Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! gesehen.” – Na sowas, und ich weiß nicht einmal, um was es sich dabei handelt. – “Sag ich doch schon lange: Du bist vollkommen weltfremd!”
Gerade kommt eine nette Einladung aus Budapest – aber … nein … das geht in diesem Jahr nicht auch noch.
Am 18. Januar 1977 starb in Rom im Alter von 28 Jahren der Fußballprofi Luciano Re Cecconi. Er hatte gemeinsam mit Freunden einen Juwelierladen betreten und scherzhaft gerufen: “Dies ist ein Überfall”. Der Besitzer des Ladens, der kurz zuvor bereits mehrmals beraubt worden war, erschoss den Sportler auf der Stelle.
Sonntag, 16. Januar 2011 – Neunuhrdrei, sechskommafünf. Bläulich, weißlich. Geht gleich aufs Rad.
Man hat sich darauf geeinigt, dass Schwarzweißmalerei nicht der Wirklichkeit entspreche, dass das Leben und die Menschen so unendlich widersprüchlich seien, dass man stets differenzieren und das Böse im Guten wie auch das Gute im Bösen sehen müsse. Je genauer man hinschaue, desto schillernder, auch komplizierter werde alles. Seltsam, ich mache gerade die gegenteilige Erfahrung. Je öfter ich mit den so genannten Stützen der Gesellschaft, mit politischen oder ökonomischen Entscheidungsträgern in Berührung komme, desto mehr sehe ich wie verschlossen, ressentimentgeladen, hochmütig man dort ist, wie sehr – nämlich um fast jeden Preis – an der Wahrung der eigenen Macht, des eigenen Besitzstandes, auch des eigenen Urteils interessiert. Freilich, es wird viel Geld und Zeit darauf verwandt, das zu verhehlen. Man spendet für kranke und arme Kinder, man fördert die Künstler, man engagiert sich in der Politik. Aber Politik bleibt eine flankierende Maßnahme der Ökonomie, die Kunst bleibt Dekor. Die Demokratie wird genutzt, um die eigene Bereicherung wie Gemeinwohl aussehen zu lassen. Die Mehrheitsmeinung muss gelenkt werden. Korruption ist selbstverständlich. Wer widerspricht, gilt als Ideologe oder als inkompetent. “Ja”, sagt K., “so ist es wohl, und der einzige Trost ist, dass es wohl schon immer so war.”
Gestern im Autoradio eine Sendung über Samoa. Zu Hause dann ein wenig nachgelesen. Dabei auf Lagi von Ballestrem gestoßen, die Tochter von Hanna und Wilhelm Solf, welcher von 1900 bis 1909 deutscher Gouverneur von Samoa war. Lagi, 1909 geboren, war – wie auch ihre Eltern – eine Gegnerin der Nazis. Als sie 1940 zum Verhör in das Berliner Hauptquartier der Gestapo bestellt wurde, trug sie in beiden Händen eine schwere Markttasche, um den Hitlergruß vermeiden zu können. 1944 wurde sie verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück, dann in die JVA Moabit gebracht. Als sie am 23. April 1945 aus der Haft entlassen wurde, war sie körperlich und psychisch zerrüttet. Sie starb – zutiefst resigniert – mit 47 Jahren: “Ich möchte nicht an die Vergangenheit denken, da sie ihre Bedeutung verloren hat. Die Welt hat nichts aus ihr gelernt – weder die Schlächter, noch die Opfer oder die Zuschauer. Unsere Zeit ist wie ein Totentanz, dessen unheimlichen Rhythmus wenige verstehen. Alle wirbeln verwirrt herum, ohne den Abgrund zu sehen.”
Abends nach dreißig Jahren mal wieder “Casablanca”, der blöde Kult um diesen Film hatte all seine Qualitäten überdeckt. Dann noch ein wenig in Graf Kesslers Tagebüchern.
Am 16. Januar 1936 wurde Albert Fish auf dem Elektrischen Stuhl in Sing Sing hingerichtet. Wenn das Wort pervers eine Bedeutung hat, dann in Bezug auf diesen Mann.
Dienstag, 11. Januar 2011 – Fünfuhrsiebzehn, einskommanull. Um kurz nach vier aufgewacht.
Im Tal der Nidda, außerhalb. Es ist neblig, leichter Nieselregen, menschenleer. Alles tropft. Jetzt, nachdem der Schnee geschmolzen ist, wirkt die Welt wie gewaschen. Pfützen. Gelb und braun das Gras. Braun, schwarz, bemoost das Holz. Kupferfarben das tote Laub der Buchenhecken. Rabenkrähen im schweren Sinkflug, dann hüpfend, hackend, krakeelend, ungelenk aufflatternd, möglichst irgendwas im Schnabel. “Im Abseits” heißt die Gastwirtschaft am Rande der verlassenen Sportanlage. Nicht mal die drei, vier Jungen sind heute zu hören, ihre Rufe, das harte Knallen des Leders, das Zittern der Torpfosten. Kein Spaziergänger, der Parkplatz ohne Autos. Stattdessen zwei Reiter auf großen, braunen Pferden, vielleicht Bayerisches Warmblut. Die Männer tragen wichtige Hüte, klar, auch Stiefel, schwere, dunkle Mäntel mit Schultercape. Sie sitzen fast reglos, nur diese kleinen, ausgleichenden Bewegungen, wenn das Tier sein Gewicht verlagert. Eine Frau kommt aus dem Haus, in jeder Hand ein gefülltes Weizenbierglas. Die Reiter beugen sich leicht, nehmen das Bier entgegen, prosten sich wortlos zu. Ihr stummer Ernst wirkt bedrohlich. Sie sind keine Sportler. Sie sind nicht zum Spaß hier. Sie haben einen Auftrag. Das Wort Loge passt zu ihnen. Oder: Geheimpolizei. Oder sie wollen diesen Eindruck erwecken. Dann, später, irgendwo am Rand, der Kadaver eines großen Feldhasen, schmierig-schwarz das Fell, nass, verrenkt die Läufe. Man hält kurz die Luft an, um nicht die feuchtkalte Verwesung einzuatmen. Der Innenminister lädt zum Neujahrsempfang; es spielt das Blasorchester Massenheim.
Heute vor einem Jahr starb Éric Rohmer.
Freitag, 7. Januar 2011 – Neunzehnuhrfünfzig, zehnkommazwei. Dunkel. Fast aller Schnee ist getaut.
Morgens mit der U-Bahn zur Konstabler, dann zu Fuß in die Töngesgasse. Auf der Straße treffe ich Martin. Wir gehen gemeinsam in den kleinen Uhrenladen, dessen Inhaber – ein polnischstämmiger Jude – den schönen Namen Feiwel Szlomowicz trägt. Dann nach gegenüber ins Café Mozart. Ich lerne, dass ich Margaret Atwoods “Der Report der Magd” lesen sollte, dass man es einen kalten Checkout nennt, wenn das Zimmermädchen einen toten Hotelgast findet und dass “Emotionen die Feinde der Feinmotorik” sind. “Ich gehe noch rasch in die Kleinmarkthalle”, sagt Martin zum Abschied. Gehen denn eigentlich alle dauernd in die Kleinmarkthalle? Na, jedenfalls alle, die sich ihren guten Geschmack etwas kosten lassen können. Nach Hause. Im Briefkasten: “discovery”, der Versandhauskatalog für alle, die sich ihren schlechten Geschmack etwas kosten lassen wollen: Lebensfrohes “Swinging”-Shirt – Die Swinging Sixties verdanken ihren legendären Ruf – nicht nur, aber auch – der Mode, die fröhlich gegen bürgerliche Konventionen verstieß. Wir finden, dass unser “Swinging”-Shirt diesen freien Geist besonders schön in die heutige Zeit rettet. Dem großen Butterfly-Motiv ist von vornherein sowieso alles Schwere fremd. Aber auch der federnd feine Stoff zeigt bei jeder Bewegung im Clubleben oder Office die gefühlte Leichtigkeit des Seins. Mal sehen, ob wir die umstehenden Herren nicht auch ein wenig in positive Schwingungen versetzen können.
Die Geschichte der Hillside-Strangler gelesen. Kenneth Bianchi und sein siebzehn Jahre älterer Cousin Angelo Buono haben im Herbst 1977 in einem Zeitraum von nur acht Wochen zehn junge Frauen und Mädchen entführt, gefesselt, stranguliert, vergewaltigt und ermordet. Sie brachten die Opfer in ihre Gewalt, indem sie sich als Polizisten ausgaben. Buono, der mehrmals verheiratet gewesen war, hatte immer wieder auch seine Frauen und Freundinnen und mindestens eine seiner Töchter vergewaltigt. Catherine Lorre hat das zufällige Zusammentreffen mit den beiden vermeintlichen Ordnungshütern nur deshalb überlebt, weil sie in ihrem Führerschein ein Foto liegen hatte, das sie als kleines Mädchen auf dem Schoß ihres Vaters zeigte – des Schauspielers Peter Lorre.
Anfang der achtziger Jahre, als Kenneth Bianchi bereits im Gefängnis saß, machte er Bekanntschaft mit einer jungen Frau namens Veronica Crompton, die angeblich an einem Theaterstück über eine Serienmörderin schrieb und deshalb dringend mit einem wirklichen Mörder sprechen wollte. Bereits bei ihrem ersten Besuch im Gefängnis verliebte sich die junge Autorin in Bianchi. Dieser überredete sie, einen Mord nach demselben Muster zu begehen, um so behaupten zu können, dass der wahre Mörder der zehn Frauen noch in Freiheit sei. Crompton erklärte sich einverstanden, trank sich Mut an, lockte eine fremde Frau in ein Motel und strangulierte sie. Allerdings erwies sich das Opfer als stärker und entkam. Bianchi verlor das Interesse an seiner nunmehr für ihn wertlos gewordenen Verehrerin, was ein anderer Häftling, Douglas Clark, als seine Chance sah, Veronica Crompton für seine Zwecke einzuspannen. Clark hatte gemeinsam mit seiner Partnerin Carol Bundy, die selbst in ihrer Kindheit und Jugend vielfacher sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen war, sechs junge Frauen ermordet, hatte sich an den Leichen in Gegenwart seiner Freundin vergangen, hatte eines seiner Opfer enthauptet, den Schädel tiefgefroren und ihn später als Sexspielzeug benutzt. Carol Bundy bot sowohl den sie vernehmenden Ermittlern, als auch Journalisten, die sie im Gefängnis interviewten, wiederholt an, mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben … Ach was, es langt!
Von Bernd der Hinweis auf den Pachelbel-Kanon. Und dann auf youtube die wahnwitzige E-Gitarren-Version des jungen taiwanesischen Musikers JerryC entdeckt. Aber was heißt schon: entdeckt? Das Video wurde bereits über 82 Millionen Mal angeklickt.
Wie hinfällig ich jedes Mal werde, wenn ich Nina Simones “Ain’t Got No” vom Harlem Festival 1969 höre. Und das schöne, traurige, hinreißende Gesicht dieser Frau sehe. Und eben merke ich, dass ich meinen ersten, alles auslösenden Frankreich-Urlaub keine fünf Kilometer entfernt von ihrem späteren Wohnort Carry-le-Rouet verbracht habe.
Der großartige Helmut Zenker ist tot.
Mittwoch, 5. Januar 2011 – Neunuhrfünfzehn, minus vierkommasechs. Weiß die Dächer, weiß der Boden, weiß die Autos. Weiß der Himmel. Gestern gegen dreiundzwanzig Uhr ins Bett, heute Morgen um halbneun das erste Mal auf die Uhr geschaut. Wie schön die Welt ist, wenn man geschlafen hat. Dank Baldrian-Hopfen-Dragees.
Von Gerhard Steines, der vielleicht ein, zwei Mal im Jahr von sich hören lässt, eine kurze Nachricht: “… zum letzten Geisterbahn-Eintrag mein Lieblingszitat von Karl Marx: ‘Absolute Einmütigkeit gibt es nur auf dem Friedhof.’ In meinen Kolumnen habe ich schon öfter ergänzt: ‘… und absolute Ehrlichkeit nur im Irrenhaus’.”
Und ich denke: Wenn Steines wüsste, wie genau er diesmal getroffen hat.
Vorgestern Abend ruft überraschend Helmut an. Dass er oft genug nicht einverstanden sei mit dem, was ich hier schreibe, vor allem politisch, dass ihm mein Eintrag über die Beerdigung unseres Cousins aber gefallen habe. Und dann reden wir eine Stunde, dass ich ihn gar nicht mehr loslassen will, bis endlich einer seiner ehemaligen Nachbarn kommt und unser Gespräch sanft und an der richtigen Stelle beendet. Da war es wieder, dieses grundsätzliche gegenseitige Wohlwollen, das in unserer Verwandtschaft immer galt. Kommt vielleicht daher, dass wir als Kinder in denselben Heuhaufen gelegen haben und auf den Rücken derselben Kälber geritten sind.
“Als Banker”, sagt B., “dürfte ich dein Haus eigentlich gar nicht betreten.” Da ja kein Witz nur witzig gemeint ist, grübele ich immer weiter darüber nach. Warum dürfte er eigentlich mein Haus nicht betreten? Ist meine Sicht der Welt, sind meine Haltungen, bin ich ansteckend? Oder gelten für Banker die demokratischen Grundrechte nicht?
Ich spüre es ja schon länger, aber in letzter Zeit stärker, das gelegentliche lauernde Misstrauen, das mich umgibt, dieses: “Man weiß nie genau, woran man mit dir ist. Man wird nicht schlau aus dir.” Marthaler war das recht. Ihm war nicht daran gelegen, dass man schlau aus ihm wurde.
Sylvie ist tot, die unwürdige Greisin.
Montag, 3. Januar 2011 – Vierzehnuhrzwanzig, einskommaneun. Grau.
Es ist schon wieder passiert. Ich erfahre, dass jemand sich verletzt fühlt durch zwei Sätze, die vor mehr als einem Jahr in der “Geisterbahn” standen. Wie soll es weitergehen? Wie soll das hier weitergehen? Durch Bedenken, durch Diskretion ist der Wahrheit nicht beizukommen. Und im Roman sublimieren wie im 19. Jahrhundert, geht nicht mehr. Bei Flaubert hat es noch funktioniert, bei Proust, bei Joyce. Aber auch gegen deren Werke wurde Sturm gelaufen, sie wurden angefeindet, verklagt, zensiert, verboten. Bei Musil bröckelt es schon. Hamsuns Romane sind zur Wirkungslosigkeit gealtert, in den “Überwachsenen Pfaden” hingegen ist er noch ganz da, ganz heutig. Marais “Glut” ist ein mattes Kammerspiel, in seinen Tagebüchern ist er ein stiller Gigant. Muss ich rücksichtsvoller werden? Oder rücksichtsloser? Ich will nicht gut da stehen durch das, was ich hier schreibe. Ich will nicht Recht haben. Das ist doch das Wesen eines öffentlich geführten Tagebuchs, dass man sich aussetzt mit dem, was man denkt, auch wenn man sich irrt, auch wenn es ungerecht ist, albern, dumm oder kleinlich.
Muss man erst tot sein, bis das, was man gedacht hat, ans Licht darf?
Freilich: Auf die ganze Wahrheit aus sein und schon deshalb unter der halben bleiben, das ist die Gefahr.
Eigentlich hat sich nichts geändert. Sie wollen sich mit Künstlern umgeben, aber halten nicht mal deren freundliche Seiten aus. Wir sind als Stehgeiger gefragt, als Clowns, bestenfalls als “artistische Halbtiere”, wie es bei Andersch hieß. Wir sollen bunte Kleider tragen, verwegene Frisuren, wir dürfen ein bisschen verrückt sein, ein bisschen unverständlich, nur treffen sollen wir nicht. Ach, verdammt …
Die Toten können mir heute mal gestohlen bleiben. Hab mit den Lebenden genug zu tun.
Sonntag, 2. Januar 2010 – Fünfzehnuhrzweiunddreißig, zweikommasechs. Sonnig. Fängt ja gut an.
Der Mann wird vom Regen geweckt. Er liegt auf dem Bett eines kleinen Hotels an der Côte Vermeille. Die Tür zum Balkon steht offen. Von den Möwen, die sonst um diese Zeit wie Hunde bellen, ist nichts zu hören. Der Mann ist nackt und hat eine Erektion. Er betritt den Balkon und steigt über die Feuertreppe auf das mit Teerpappe belegte Flachdach des Hotels. Er hebt die Arme und streckt sich. Unten am Strand ist eine frühe Spaziergängerin unterwegs. Sie trägt ein Kopftuch und eine kurze Regenjacke, unter der man ihre Beine sieht. Die Schuhe hält sie in der Hand. Vor ihr her läuft ein braun-weiß gefleckter Hund, der gelegentlich stehen bleibt und den Kopf zu ihr dreht. Die Frau schaut zu dem Mann hinauf. Sie lächelt. Ihr Lächeln zeigt weder Spott noch Begehren. Sie geht weiter. Der Hund ist hinter den Strandhütten verschwunden. Das Hotel heißt “Angleterre”.
Fausto Coppi ist wieder tot.