März 2011
Dienstag, 29. März 2011 – Siebenuhrfünfundfünfzig, fünfkommasieben. Schon schön.
Hiermit verbiete ich Eva Demski und Michael Herl, jemals – gleichgültig, ob öffentlich oder privat – zu behaupten, ich hätte gestern, am Montag, dem 28. März 2011 gegen 22 Uhr in der Nibelungenschänke in Frankfurt am Main eine für drei Personen portionierte Nachspeisenplatte – bestehend aus Mousse au Chocolat, Karamellcreme und griechischem Honigjoghurt mit Walnüssen – alleine aufgegessen. Ich verbiete es ihnen, weil es nicht stimmt, nicht stimmt, nicht stimmt. Erstens war es bereits 22.30 Uhr, zweitens habe ich sie nur fast aufgegessen, diese extrem leckere Nachspeisenplatte für drei Personen.
Am 29. März 1963 starb die Sängerin Texas Ruby Agnes Owens an einer Überdosis Mousse au Chocolat …nein, sie war mit einer brennenden Zigarette in ihrem Wohnmobil eingeschlafen.
Montag, 28. März 2011 – Zehnuhrvierundfünfzig, dreizehnkommavier. Neue Zeit. Nicht ganz so wolkenlos wie angekündigt.
“Mit spitzer Feder aufgespießt” – Wenn mein Lieblingssender hr2 kultur diese Formulierung ein weiteres Mal in die Welt entlässt, werde ich mein Autoradio mit stumpfem Hammer …
Durchmarsch der Grünen. Na und? Demokrat bleiben und nie den alten Anarchistenspruch vergessen: “Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.”
Letzte Woche brachte Erdal das Buch mit, jetzt ist es ausgelesen: “Fluchtversuche: Das Leben des Miro Sabanovic zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo und Ausländerbehörde”. Der wuchtige Bericht eines Jungen aus einer bosnischen Roma-Familie. Erstaunlich, wie gedankenlos und nassforsch der Herausgeber die Tatsache überspielt, dass hier ein Kind hundertfach durch schwule Freier missbraucht wurde.
Und jetzt – auf Hinweis von Helmut: “Menschen, Pferde, weites Land. Kindheits- und Jugenderinnerungen” von Hans Graf von Lehndorff. Dass mich aber auch fast alles interessieren muss … Na ja, ausser den exakten Wissenschaften; für die sind immer die anderen zuständig.
Virginia Woolf ist tot.
Freitag, 25. März 2011 – Elfuhrsechsunddreißig, fünfzehnkommafünf. Der Himmel weiß verschliert.
Es ist jeden Tag dasselbe. Gegen Mittag hört man einen Dieselmotor. Er gehört zu dem gelben VW Caddy der Postbotin. Der Motor wird abgestellt, die Fahrertür geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen. Die Frau ist so mittel. Mittelalt, mittelgroß, mitteldick. Sie grüßt nicht gerne. Sie hat es eilig. Vielleicht ist sie menschenscheu. Die Klappen der Briefkästen klappern. Das Klappern kommt näher. Schließlich klappert auch die Klappe unseres Briefkastens. Ich warte, bis der Caddy sich entfernt hat, dann gehe ich raus, um den Briefkasten zu öffnen. Nur Rechnungen. Fünf Tage in der Woche. Samstags kommt eine andere Postbotin. Sie ist zu Scherzen aufgelegt. Sie fährt Fahrrad. Die Rotschwänze sind wieder da und die ersten Hummeln. Am Main die Trauerweiden sehen gar nicht traurig aus. Das frische Grün der Blätter leuchtet an den langen Ruten. Man hört jetzt wieder mehr Kinderstimmen. Und Radfahren kann man mit nackten Beinen.
Heute vor zweihundertundzehn Jahren ist Novalis gestorben.
Dienstag, 22. März 2011 – Sechsuhrsechzehn, nullkommavier. Wird langsam hell. Klarer Himmel. Und was für ein schöner, fetter Mond direkt über den Dächern.
Durch mit Paul Léautauds Kriegstagebuch 1939-1945. Ein unangenehmer Charakter – kriecherisch und hochmütig zugleich, ein renitenter Anpasser. Antidemokrat, Kriegsgegner, Tierfreund. (Am 20. November 1945 notiert er: “Wo ist mein Tierbestand aus der Zeit der Mobilmachung von 1914 geblieben: 38 Katzen, 22 Hunde, 1 Ziege, 1 Gans?”). Immerhin ein interessantes Bild jener Jahre in Paris …
Und gerade, beim Herumwildern im Netz, stoße ich auf eine Ausgabe von Gerhard Hellers Erinnerungen aus den Jahren 1940-1944: “In einem besetzten Land”. Gekauft. Und gleich auch noch Goncourts “Tagebuch der Belagerung von Paris”.
Guntram schickt einen Artikel der Neuen Zürcher Zeitung, in dem erstmals nachgewiesen wird, dass die Ehefrau Joseph Roths, Friederike (Frieda, Friedl) Roth, im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis am 15. Juli 1940 in der Gaskammer von Schloss Hartheim in der Nähe von Linz umgebracht wurde. Ein Jahr zuvor war Joseph Roth im Hotel Necker gestorben. Beerdigt wurde er auf dem Cimetière de Thiais.
Kurz vor dessen Tod traf Walter Mehring seinen betrunkenen Kollegen in Paris am Straßenrand sitzend: “Roth, warum trinken Sie so viel? Sie ruinieren sich doch!” – “Und warum trinken Sie nicht, Mehring? Glauben Sie, dass Sie davonkommen werden? Auch Sie werden zugrunde gehen.”
Gestern Kräuter gesät: Basilikum, rotes Basilikum, Petersilie, Schnittlauch, Kerbel, Rosmarin, Estragon.
Nicht vergessen die Anekdote mit der nackten Anna Seghers …
Der Interbrigadist Harry Fisher ist tot. Vielleicht mal seine Autobiografie “Comrades” lesen.
Montag, 21. März 2011 – Sechsuhrachtzehn, minus nullkommaeins. Frühlingsanfang. Der Osten ist rot.
“Maudit printemps! Reviendras-tu toujours?”
Verwünschter Frühling, kehrst du stets zurück?
Béranger
Gestern Morgen Saisonauftakt in Niederdorfelden, seit anderthalb Jahren die erste RTF, siebzig Kilometer. Zurück mit Jörg und Ralf. Dann Kochen. Dann endlich mal wieder munteres Geschnattere mit Nägele und Arning – mein Gott, war das lang her.
“Wochenlang textest du die Geisterbahn mit dieser Guttenberg-Sache zu, aber kein Wort zu Libyen, kein Wort zur Katastrophe in Japan!” – Ist das wahr? Ja, tatsächlich, es ist wahr. Wird wohl etwas zu bedeuten haben. Aber von Götz kommt gerade sein “Tagebuch einer Katastrophe” mit einem Cioran-Zitat als Motto: „Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie viel mehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selber.“
Kurz der Impuls, hier eine ungeheure Obszönität abzubilden …
Nadar ist tot.
Donnerstag, 17. März 2011 – Elfuhreins, achtkommazwei, Suppe. Erschöpft.
Im Kondolenzbuch für Günter Amendt erzählt der Künstler Bernd Brummbär folgende Geschichte: Im Sommer desselben Jahres (’68 ’69?) lernte ich etwas von ihm, dass ich nie vergessen werde. Wir waren in der Frankfurter B-Ebene unterwegs, als eine fette, alte Frau uns hasserfüllt ansah, irgendwas Obszönes in unsere Richtung murmelte und dabei das Ende der Rolltreppe übersah. Sie fiel und ich dachte: “Geschieht ihr ganz recht, dieser fetten Sau!” — als Günter ganz selbstverständlich hinzusprang, sie stützte, den Sturz verhinderte und sie wieder aufrichtete. Ich sah zu und kam mir vor wie das mistigste Miststück unter allen Miststücken! (…) Ich erwischte mich als ganz hasserfüllt und beschloss, dies dürfe nie wieder vorkommen in meinem Leben.
Nachdem alles halbwegs überstanden ist, berichtet P. von einem Gespräch mit dem zuständigen Arzt, der gesagt habe: “Dreißig Prozent der Patienten in Ihrem Alter überleben einen solchen Eingriff nicht.” – Ob man so viel Aufklärung wirklich vor der Operation hätte ertragen wollen?
Lektüre: Paul Leautauds Pariser “Kriegstagebuch”. Immer wieder wird dem Autor dieser Journale seine schnörkellose Direktheit, sein Mut, sich bedingungslos zu exponieren, zugute gehalten. Was ich bisher lese, spricht eher für eine große Wendigkeit, für eine kecke Geschmeidigkeit – jedenfalls im Umgang mit den deutschen Besatzern.
Todestag von Luise Rinser, über die Michael Kleeberg im Januar schrieb:
Bei unserer ersten Begegnung war sie, soeben aus Nordkorea zurückgekehrt, von einer atemnehmenden Selbstbezogenheit, die nur mit der bekannten Anekdote zu beschreiben ist, bei der die große Persönlichkeit ihren Gesprächspartner mahnt: “Nun reden wir die ganze Zeit von mir, sagen Sie doch auch mal etwas. Wie fanden Sie denn meinen neuen Roman?”
Montag, 14. März 2011 – Vieruhrneununddreißig, fünfkommaneun. Dunkel. Wach seit halbvier.
Am Freitagmittag kommt per Overnightexpress die Verfilmung der “Braut im Schnee”. Will nur mal kurz reinschauen, bleibe dann aber die vollen neunzig Minuten sitzen. Eigentlich habe ich noch nie einen Autor getroffen, der zufrieden gewesen wäre mit der Verfilmung seines Buches. Na und, dann bin ich halt die eine große Ausnahme …
Sehr geehrter Herr Altenburg,
vielen Dank für Ihre E-Mail. Die ARD-Programmverantwortlichen wollten mit der Übertragung des Großen Zapfenstreichs ganz allgemein dem großen öffentlichen Interesse an Karl-Theodor zu Guttenberg Rechnung tragen. Mit der Programmentscheidung ist jedoch keinesfalls eine politische oder sonst wie geartete Bewertung des Falls verbunden. Ihre Kritik wird zur Kenntnisnahme der Programmverantwortlichen protokolliert. Leider gelingt es nie, allen unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden. Wir bitten Sie hierfür um Verständnis und danken Ihnen für Ihre engagierte Programmbegleitung.
Mit freundlichen Grüßen
Simone Schirra
Erstes Deutsches Fernsehen
Programmdirektion
Zuschauerredaktion
Freitagabend in Herborn nach der Lesung nochmal Guttenberg. “Aber wir haben doch alle mal abgekupfert … Aber der Enthüller gehört doch zur äußersten Linken … Aber der Trittin hat doch auch seine Bonusmeilen …” Zum Glück hab ich diesmal Guntram an meiner Seite!
Samstag Poppenhausen. Mit dem Scapin auf die Wasserkuppe, runter nach Gersfeld, noch Mal auf die Kuppe, ein Schluck aus der Fuldaquelle, über Abtsroda wieder in die Tiefe. Sonntag Kassel und retour.
Erinnerungen an Günter Amendt: wie er zu uns in die Schule kam; die gemeinsame Fernsehproduktion in Stuttgart; wie kurz darauf dieser langhaarige Mann zum Schrecken der Eltern erneut in Baunatal aufkreuzte, um sein Necessaire abzuholen und sich über den Ausdruck Kulturbeutel lustig machte; wie er – Halt machend auf dem Weg von Hamburg nach Zürich – bei uns in der Wohngemeinschaft hockte; später noch ein paar Treffen auf der Buchmesse … Am Samstag ist Amendt – zusammen mit Dietmar Mues, dessen Ehefrau Sibylle und der Bildhauerin Angela Kurrer – in Eppendorf bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Vor vier Jahren starb Lucie Aubrac.
Freitag, 11. März 2011 – Siebenuhrdreiundvierzig, achtkommazwei. Noch trocken, aber schwere Regenwolken.
Die Programmverantwortlichen der ARD brauchen keinen Berlusconi, der ihnen sagt, was sie senden sollen. Sie kriechen ganz von selbst vor der Quote zu Kreuze und ändern ihr Programm, um eine Stunde lang die militärische Verabschiedung eines überführten Betrügers zu zeigen. Es tut einem um jede Motte leid, die in den Fackeln der Soldaten verbrennt. Derweil wird bekannt: Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit Guttenberg ist im Vergleich zum Vormonat (also vor Bekanntwerden seines Plagiats) noch einmal um fünf Prozent gestiegen.
“Es gibt Lebenslagen, in denen auch der am wenigsten grausame Mensch so losgelöst von allem anderen ist, dass er ohne Herzklopfen das ganze Menschengeschlecht zugrunde gehen sehen könnte.”
(Gustave Flaubert, Die Erziehung des Herzens)
Abends dann mit Tränen der Rührung Kenneth Branaghs Verfilmung von Viel Lärm um nichts gesehen. Shakespeare als Gegengift gegen die Welt. Es funktioniert.
Tot ist Heinrich Mann.
Dienstag, 8. März 2011 – Neunuhrzweiunddreißig, dreikommadrei. Schon wieder Sonne. Und gut geschlafen.
Noch heute Morgen verärgert. Gestern im Mal Seh’n Kino den Film über Fritz Bauer geschaut (Ilona Ziok: “Fritz Bauer – Tod auf Raten”). Der Film ist handwerklich und methodisch eine einzige gut gemeinte Stümperei. Da wird mit unpassender Musik Emotion erzeugt, da wird mit der Mordthese etwas insinuiert, für das es keinerlei Belege gibt, da wird kein Wort darüber verloren, das Bauer ein linker Sozialdemokrat war, da kommt keiner seiner zahlreichen Gegner zu Wort, unscharfe Bilder, grauenhafte Kadrierung, schlechter Schnitt … aber, na klar: Besonders wertvoll. Eine vertane Chance, über eine der wichtigsten Figuren des politischen Nachkriegs-Deutschland eine gute Dokumentation zu drehen. Zum Glück gibt es Irmtrud Wojaks wunderbare Fritz-Bauer-Biografie, eines der spannendsten Geschichtsbücher überhaupt.
Am 8. März 1972 starb in München der Massenmörder Erich von dem Bach-Zelewski.
Montag, 7. März 2011 – Zehnuhreinundzwanzig, zweikommadrei. Sonnig.
“Und was, bitte, ist für dich ein Genosse?” – Wenn ich das mal so genau wissen wollte … Immerhin, versuchsweise vielleicht: Ein Demokrat, der verstanden hat, dass eine Demokratie erst dann ihren Namen wirklich verdient, wenn sie auch eine Wirtschaftsdemokratie ist. Wenn in ihr also jene, die die Werte schaffen, auch über sie verfügen.
Unglaublich, wie viele Facetten der Fall Guttenberg hat. Die jetzt veröffentlichten Fotos und Filmdokumente, welche Angela Merkel zusammen mit Anette Schavan am vergangenen Dienstag auf der Cebit in Hannover zeigen, geben der Sache noch Mal einen neuen Twist.
Kurz rekapituliert: Am Abend des 21. Februar gibt Guttenberg in Kelkheim bekannt, er wolle dauerhaft auf seinen Doktortitel verzichten, zwei Tage später wird ihm dieser von der Universität Bayreuth aberkannt. Die Union und Merkel geben ihm zum wiederholten Mal volle Rückendeckung für sein Amt. Am 28. Februar schert mit Bundesforschungsministerin Annette Schawan das erste Kabinettsmitglied aus, indem sie sagt: “Ich schäme mich nicht nur heimlich.” Dagegen erklärt noch am selben Tag Regierungssprecher Seibert im Namen Merkels: “Der Bundesverteidigungsminister genießt das Vertrauen der Bundeskanzlerin. Daran hat sich nichts geändert. Die Kanzlerin glaubt ihm.”
Am Morgen des nächsten Tages: Merkel und Schavan auf der Cebit in Hannover. Fotos zeigen die beiden während ihres Messerundgangs genau in dem Moment, als die Kanzlerin eine SMS erhält. Merkel liest die Nachricht, lächelt und reicht ihr Handy an Schavan weiter. Dann schauen die beiden einander mit sichtlicher Genugtuung an und so verschmitzt wie zwei Ordensschwestern, die gerade das erste Nacktfoto des jungen Vikars gesehen haben. Na also, geschafft! sagt beider Gesichtsausdruck. Was zu diesem Zeitpunkt niemand außer den beiden weiß: Mit dieser SMS hat der Verteidigungsminister der Kanzlerin seinen Rücktritt erklärt. Kurze Zeit später macht Guttenberg seine Entscheidung in Berlin öffentlich. Zurück in der Hauptstadt wird Merkel vor der Presse ihr Bedauern bekunden. “Schweren Herzens” habe sie das Rücktrittsgesuch angenommen. Noch am selben Abend ruft Merkel während eines Wahlkampfauftritts in Karlsruhe: “So viel Scheinheiligkeit und Verlogenheit war selten in Deutschland.”
Die Frage, wen sie damit gemeint hat, stellt sich also erneut.
Tot ist Martin Kippenberger, über den Christian sagt, er sei der Thomas Gottschalk der bildenden Kunst gewesen.
Freitag, 4. März 2011 – Zwölfuhrachtunddreißig, zweikommazwei. Kalt, sonnig. Wach seit vier. Dass man mal wieder in den Rhythmus kommt.
Von Jürgen Roth eine Mail:
“Ich bin völlig derangiert von dieser unfaßbaren Guttenberg-Scheiße. Tagelang habe ich mich aufgeregt wie lange nicht mehr, den ganzen Wahnsinn im Netz durchgepflügt. Ohne Moral kommt man nicht aus, auch als Marxist nicht. Aber das scheint ohnehin nicht die Frage zu sein. Ich habe nur eine Antwort: Das ganze sogenannte deutsche Volk gleich mitentlassen. Es ist wahrlich alles zum Vomieren.
Die Rotschwänze haben vorgestern schon leicht gesungen. Mein Hausamselpaar ist gerade beleidigt, weil meine Spezereienvorräte aus sind. Aber dagegen läßt sich etwas unternehmen, wie gegen Durst.”
Die Antwort:
Lieber Jürgen, wie schön, nicht allein in diesem Wahnsinn gesteckt zu haben. Ebenso ging es mir: Eine Woche lang fast minütlich geswitcht zwischen Spiegel online, FAZ, SZ, Tagesspiegel, Bild. Und immer gedacht: Wie denn, es ist doch Eure Moral, die ihr da gerade hohnlächelnd zum Teufel schickt … und ich soll, ich muss sie jetzt gegen Euch verteidigen? Um am Ende wieder dumm da zu stehen? Aber so ist es … Und geht wohl nicht anders … Wenn das Bürgertum pfeift auf seine Ansprüche, dann müssen wir sie in Schutzhaft nehmen, denn das heißt ja, dass wir wieder in vorbürgerlichen Zuständen angekommen sind. Und ich dachte manchmal, so müssen sich die Genossen Ende der zwanziger Jahre gefühlt haben, als ein anderer Popstar die Massen hysterisierte. Aber dass wir wirklich nochmal hinter ’89 zurückfallen würden, ich meine: hinter 1789 … Himmel auch!
Tot ist Néstor Almendros, Kameramann von Truffaut und Rohmer.
Donnerstag, 3. März 2011 – Sechsuhrdreiunddreißig, minus einskommasechs. Dämmert rötlich. Aufwachlektüre, gestern von Jürgen mitgebracht: “Harold” – ziemlich klasse.
Es gibt doch einige Wörter, die der Freiherr zu Guttenberg bis an sein Ende besser nicht mehr in den Mund nehmen sollte: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrheit, Redlichkeit, Vertrauen, Respekt, Verantwortung, Glaubwürdigkeit, Ehre, Schicklichkeit, Anstand, Sittlichkeit, Verlässlichkeit, Seriosität, Geradlinigkeit, Scham, Lauterkeit, Offenheit, Korrektheit, Klarheit, Loyalität, Moral.
Die Heranwachsende: “Papa, man darf jetzt seine Hemden wieder im Hosenbund tragen”. – Ach was, ich halte durch, bis sich die Mode wieder dreht.
Bei all dem Guttenquatsch nicht mitbekommen, dass Annie Girardot gestorben ist. Die große Annie Girardot.
Tot ist Otto Reutter, dem Degenhardt ein wunderbares Lied gewidmet hat – “In fünfzig Jahren ist alles vorbei”.
Mittwoch, 2. März 2011 – Achtuhreinundzwanzig, vierkommafünf. Hell. Sonne? Sonne! Aufwachlektüre: Piwitts “Notate zur Nacht” – Wenn man doch einmal so beisammen wäre.
Er sagt nicht: Ich habe gestohlen, betrogen, getäuscht. Er sagt nicht: Ich habe das Parlament und die Öffentlichkeit belogen. Er sagt nicht: Ich habe der politischen Kultur und dem Ansehen der Wissenschaft großen Schaden zugefügt, den ich mit jedem Tag, den ich länger im Amt blieb, weiter vergrößert habe. Er sagt nicht: Ich habe mich an die Bildzeitung verkauft.
Stattdessen inszeniert Guttenberg seinen Rücktritt als einen Opfergang. Er opfere sich seiner Partei und den Soldaten. Er sei das Opfer einer entfesselten medialen Öffentlichkeit. Noch sein Abgang sei demnach der Ausweis seines großen Verantwortungsbewusstseins. Der Mann ist ein Simulant seiner selbst. Hochmut als Bescheidenheit getarnt, Chuzpe als Demut. Noch im Fallen begriffen, bereitet er schon sein Comeback vor. Ich, ich, ich.
Allein, was für eine Gnade, dieses Salatöl ein paar Jahre lang etwas seltener sehen zu müssen.
Und das Volk? (85 Prozent der Befragten halten den Rücktritt laut einer Umfrage von ntv für falsch). Es ist reif für seinen Berlusconi.
“So viel Scheinheiligkeit und Verlogenheit war selten in Deutschland”, sagt die Kanzlerin. Da hat sie Recht. Oder meint sie gar nicht ihren zurückgetretenen Verteidigungsminister? Nein, sie meint dessen Gegner. Sie ist wohl im Moment ein bisschen durcheinander.
Am 2. März 1974 wurde der DDR-Flüchtling Georg Michael Welzel in Spanien durch die Garotte hingerichtet.