Geisterbahn

April 2011

Samstag, 30. April 2011 – Elfuhrzwölf, sechzehnkommazwei. Leicht gefleckt, der Himmel.

Nach dem kurzen, stürmischen Regenguß gestern Abend: Was für ein klares, wunderweiches Licht! Und die schwarzvioletten Tulpen, die sich in der weißen, taillierten Vase bereits neigen, leuchten matt ein letztes Mal.

… und dann von Lotte die Mail, dass ich eingeladen sei zum Patti-Smith-Konzert im Mousonturm. Sagt mal, wollt ihr mir jetzt … auf die alten Tage … die Gnade gewähren, einen kleinen Abend Glück … Dass man am Ende wird zugeben müssen, es würde sich doch noch Mal lohnen … eh man noch … ins Stammeln … vor lauter … Rührung … ach …

Gerade dachte ich noch, Ai Weiwei sei der Christoph Schlingensief des neuen Jahrzehnts, aber dank der Kulturzeit weiß ich nun: er ist der Voltaire des neuen Jahrtausends.
Dass er endlich freikommt und wieder eine Ruh ist um diesen Zausel!

Adolf Hitler ist tot.

Freitag, 29. April 2011 – Sechsuhrachtundvierzig, elfkommadrei. Rötlich.

Man kann also nicht nur friedlich einschlafen, sondern auch friedlich aufwachen. So wie heute Morgen: ausgeruht, in die Dämmerung hinein und um Viertel vor sechs das erste Mal auf die Uhr geschaut. Aufs Klo gegangen. Zähne geputzt. Espresso gepresst. Und mich gefragt: Was macht eigentlich Rainald Goetz?

Die Frage an das MacBook weitergegeben und ein schönes Gespräch mit Christoph Amend aus dem herbstlichen Zeitmagazin gefunden. – “Je weiter oben die Leute sind, je mächtiger sie sind, umso unverschämter sind die Ordinärheiten im Umgang, das ist die Erfahrung”, sagt Goetz.

Flennen und wundern. – Gibt es eigentlich anmaßendere Menschen als jene, bei denen sich Denkfaulheit und Sentimentalität treffen? Sie wundern sich über alles, sie nehmen alles persönlich und halten jeden für “kalt”, der seine Gefühle nicht wie sie exponiert. Sie weinen vor Angst, vor Rührung, vor Erschöpfung –  ein Anlass findet sich immer. Oft lächeln sie auch blöde, um ihre Gutmütigkeit zu demonstrieren.

Ich wünschte, Petra Roth wäre jetzt hier und würde sich diesen Krach, der von der Autobahn herüber weht, mal anhören.

Todestag Isaac von Sinclairs.

Donnerstag, 28. April 2011 – Fünfuhrvierundzwanzig, zehnkommadrei. Noch dunkel, aber schon die Vögel. Der fünffache Mord von Nantes, der die Pariser Zeitungen füllte, ist jetzt auch in den deutschen Schlagzeilen angekommen. Na, wird wohl der Vater gewesen sein. Aber der ist verschwunden.

In der gestrigen Kulturzeit ein Bericht über Armand Schulthess, einen Künstler, Enzyklopädisten und einsamen Erotomanen, der im Valle Onsernone in einem achtzehntausend Quadratmeter großen Kastanienwald hauste, den er mit seinen Obsessionen beschriftete und wo er sich 1972 zu Tode stürzte. Erben und Nachbarn schafften den Nachlass des verrückten Einsiedlers auf den Müll. Geblieben sind ein paar Fotos, ein Dokumentarfilm, Max Frischs “Der Mensch erscheint im Holozän” und jene selbstgebundenen Bücher, bestehend aus ebenso obszönen wie geschmackssicheren Montagen, die jedem Vergleich standhalten. Das alles wirkt so begnadet wahnsinnig, dass ich sofort eintauchen möchte in dieses zerstörte Universum.

Schon früh in den Abend gedämmert – zunächst mit dem Pachelbel-Kanon, dann mit Schostakowitschs Quintett Op. 57. Schließlich mit Schönberg in die “Verklärte Nacht” und in den Schlaf gerutscht.

Aber vor zwei Stunden – um halbvier – schon wieder missmutig aufgewacht. Seit Montag geht das so. Zieht mich was? Drückt mich was? Quält mich was? Ja, es ist wohl die neueste Attacke auf die Geisterbahn, die mir den Schlaf raubt. Alle paar Monate gerate ich durch das Journal in einen kräftezehrenden Zwist. Und fühle mich jedes Mal dermaßen angefasst, in Frage gestellt – nicht nur in meiner Arbeit, sondern in meiner gesamten Existenzform, so sehr, dass die Nerven wie Äolsharfen wimmern. Aber was soll ich machen? Mich zensieren, mich verstellen? Ein nichtöffentliches Tagebuch führen? Aber nein, das käme mir reizlos vor. Dann lieber den Betrieb hier ganz einstellen, auch wenn es ein bisschen wie Sterben wäre … Wahrhaftig, ich bin kurz davor!

Am 28. April 1945 wurden Benito Mussolini und seine Geliebte Clara Petacci von Partisanen erschossen und anschließend an den Füßen aufgehängt.

Mittwoch, 27. April 2011 – Fünfuhreinundfünfzig, neunkommadrei Grad. Heftiges Gezwitscher.

Was man sich antut.
Wie man sich windet.
Wie man sich täuscht.
Wie man davonkommt.
Und dennoch vergeht.

So ruchlos sei es zu Zeiten in den Kaschemmen des Palais Royal zugegangen, dass man den Künstlern, die dort zur Unterhaltung der Gäste auftraten, den Anblick nicht habe zumuten können, weshalb man ein Orchestre des Aveugles habe aufspielen lassen, ein Orchester der Blinden.

Dreißig Seiten in Rühmkorfs Tabu I gelesen. Eindruck: Fingerschnippender Formulierungseifer, zirkuspudelhaft.

Am 27. April 1933 sprang der Reichstagsabgeordnete Albert Funk während eines Verhörs durch die Gestapo aus dem dritten Stock des Polizeipräsidiums Recklinghausen und verletzte sich so schwer, dass er noch am selben Tag starb.

Dienstag, 26. April 2011 – Siebenuhrdrei, sechskommacht. Wach seit fünf. Schon jetzt sehr sonnig.

Am Mittwoch noch einen kurzer Schlenker zu Günter Amendts Grab auf dem Bockenheimer Friedhof gemacht.
Am Donnerstag nach Paris. Hotel Relais Bergson in der Avenue Simón Bolivar – klein, eng. Der Hotelier eine verkniffene Karikatur seiner selbst. Im Parc des Buttes Chaumont legen wir uns ein Weilchen in die Sonne. Kurze Runde durch Belleville, und zum Essen ins Röllchen. Zurück über den Boulevard de la Villette, wo lauter kurzberockte Asiatinnen stehen, die so bieder, so wenig verführerisch aussehen, dass es dauert, bis ich kapiere, was sie hier tun.
Freitagmorgen zu Manet und Berthe Morisot auf den Cimetière de Passy. Auf die Suche nach Fernandel mache ich mich gemeinsam mit einem Englisch sprechenden Franzosen, der zuversichtlich ist, dass wir das Grab finden werden: “They don’t move”, sagt er über die Bewohner des Friedhofs. Aber die schöne, unglückliche, tote Prinzessin Leila Pahlevi lächelt mir von ihrem Grabsteinfoto zu, als würde sie leben. Durch das monströse Palais de Chaillot runter an die Seine. Am Karussell unterm Eiffelturm warte ich eine Stunde in der Mittagssonne, während zwei Männer einen neuen Softeisautomaten aufstellen, fünf schwarze Arbeiter die Straße asphaltieren, zehn Eiffelturmverkäufer mir ihre kleinen Eiffeltürme verkaufen wollen und tausende Touristen an mir vorüberziehen. – Karfreitagsprozession in Saint-Germain-des-Prés, ausgerechnet vor dem Café de Flore geht der Priester auf die Knie. An das Tabou in der Rue Dauphine erinnert nichts mehr. Dann in die Rue de Tournon, wo Joseph Roth seine letzten Jahre verbracht hat. Sorbonne, École Normale Supérieure, anschließend Jardin du Luxembourg mit Maria und den Kindern. Abends wieder Belleville. Essen im Reuan Thai – geht so. Bier aus Dosen auf der Mauer an der Metrostation.
Samstag. Eine Stunde in der Schlange vor dem Musée d’Orsay, um in die Manet-Ausstellung zu kommen. Man fragt sich, warum das Werk dieses Malers plötzlich so viele Bewunderer findet. Oder ob nicht zwei Drittel der Besucher erstaunt sein werden, dass keine Seerosen auf den Bildern zu finden sind. Schade, dass die Nana in diesem Himmel fehlt. – Tuilerien, Palais Royal, Passagen. Dann Rue du Faubourg Saint-Denis zum Buffet Adelia, Passage Brady und lange auf dem Platz vor dem Centre Pompidou, wo sich zwei Artisten mit den Musikern einer Brassband streiten. Essen auf dem Boulevard de Belleville: Chez Hunza. Wieder Bier auf der Mauer, diesmal mit der verrückten Madame Isabelle, die uns eine große Dose Kronenbourg entlockt.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Garage in der Avenue Secrétan, wo der Wagen abgestellt ist, kommen wir am Etablissement Scolarie Lucien de Hirsch vorbei. Im Sommer 1944, kurz vor der Befreiung, sind von hier aus über hundert jüdische Schüler und ihre Lehrer mit dem letzten Zug nach Auschwitz deportiert worden.

John Heartfield ist tot.

Montag, 18. April 2011 – Zehnuhrzwanzig, siebzehnkommaacht. Wird ein Tag.

Ganzen Donnerstag Lektüre: “Das siebte Kreuz”. Abends Nationalbibliothek “Seghers trifft Seghers”, dann Nibelungen-Schänke.
Freitag nach Dietzenbach ins Bürgerhaus – Vor dem drohenden Desaster retten mich Jürgen K. und der unglaubliche Herr Spiegel.
Samstag Hohe Straße, abends Zanderfilet.

Gestern um halbsechs aufgewacht, durch die Streuobstlandschaften ins Sinntal. Schöner kann das Land nicht sein, als an einem Sonntagmorgen Ende April. Wieder in Schwarzenfels – auf der Burg ein blonder Riese im dicken Leinenwams, vielleicht der Herbergsvater, die Kühe brüllen, die Hähne sagen auch Guten Morgen. Auf der A 7 über Uttrichshausen hinweg (dass es wenigstens mal erwähnt sei, wenn man schon dort herstammt) nach Michelsrombach – dort Proben für das Liebesprogramm. Abends ins Schauspiel, Vorstellung des Bahnhofsviertel-Buches von Jürgen R. und Jürgen L. Dann Mosel-Eck. Weit nach Mitternacht raus – fast bewusstlos. Rettung durch Jürgen W. Mit dem Taxi heim.

Vier Jürgens allein in diesem Eintrag.

Und? Fällt dir auch was zu Ai Weiwei ein? – Na ja, dass ich dabei war, als während der documenta 12 im Juni 2007 ein Unwetter über die Kasseler Karlsaue hereinbrach, den Pavillon unter Wasser setzte und Ai Weiweis Skulptur Template in sich zusammen fiel.

Tot ist Marie de Rabutin-Chantal, die Marquise de Sévigné.

Mittwoch, 13. April 2011 – Siebenuhrdreiundfünfzig, vierkommaneun. Gemischt.

“Ich will singen – wie ein Rennpferd”
Herbert Grönemeyer in kulturzeit über seine Bedürfnisse.

“Dann heftet er Orden um Orden an verdiente Brüste der Raumfahrt”
ZDF heute über die Tätigkeit des russischen Präsidenten während des Gagarin-Jubiläums.

Vor zwei Jahren starb Abel Paz.

Sonntag, 10. April 2011 – Siebenuhrdreiundvierzig. Das Außenthermometer ist defekt. In den Häusern und Gärten alles noch ruhig. Die Rotschwänze tollen im taunassen Gras.

Lustig, dass H. mich verdächtigt, heimlich doch ein Mobiltelefon zu besitzen, ihm aber meine Nummer nicht geben zu wollen und ihn so aus dem Kreis der Eingeweihten auszuschließen. Er hingegen, der zugibt, mit seinem iPhone nichts anderes anfangen zu können, als zu telefonieren, ist der Meinung, dass dennoch jeder ein solches besitzen sollte – allein der Schönheit wegen.

Abends “Tokyo-Ga”. Wie unangenehm naiv, wie angenehm offen ist dieser Film. Kaum ein anderer Regisseur misstraut den eigenen Wahrnehmungen so stark wie Wenders.

Tot ist die Sängerin Eva Narcissus Boyd, genannt Little Eva (“Loco-Motion”).

Mittwoch, 6. April 2011 – Sechsuhracht, fünfkommafünf. Dunkel. Die Vögel.

Hütet euch vor Liberalen,
Die nur reden, die nur prahlen,
Nur mit Worten stets bezahlen,
Aber arm an Taten sind:
Die bald hier-, bald dorthin sehen,
Bald nach rechts, nach links sich drehen
Wie die Fahne vor dem Wind.

Hütet euch vor Liberalen,
Jene blassen, jene fahlen,
Die in Zeitung und Journalen
Philosophisch sich ergehn:
Aber bei des Bettlers Schmerzen
Weisheitsvoll, mit kaltem Herzen
Ungerührt vorübergehn.

Hütet euch vor Liberalen,
Die bei schwelgerischen Mahlen
Bei gefüllten Festpokalen
Turm der Freiheit sich genannt
Und die doch um einen Titel
Zensor werden oder Büttel
Oder gar ein Denunziant.

Robert Eduard Prutz (Dichter des Vormärz), um 1848

Heute vor fünf Jahren starb der gute Boehlich. Und ich war noch immer nicht an seinem Grab.

Dienstag, 5. April 2011 – Dreizehnuhreins, fünfzehnkommavier. Trotzdem frisch.

Weißt du, wer der nackte Jörg ist?
“Papa, jeder, der in dieser Stadt lebt, kennt den nackten Jörg.”
Weißt du auch noch, wann du ihn zuerst gesehen hast?
“Nein.”
Du warst drei oder vier Jahre alt. Es war vor vielen Jahren irgendwann im Spätherbst. Wir fuhren im Bus am Südfriedhof vorbei, als draußen der nackte Jörg über den Bürgersteig lief. Und du hast gesagt: ‘Guck mal, Papa, da draußen der Mann! Der kriegt ja ganz kalte Füsse.’

“Scham ist ein revolutionäres Gefühl.” (Johannes R. Becher)

Dieser Tage immer wieder die unverhoffte Freude, dem wunderschönen, blau-weiß-roten “Bildnis der Heinrike Dannecker” von Christian Gottlieb Schick zu begegnen – weil es das Plakatmotiv der gerade eröffneten deutschen Ausstellung in Peking ist.

Das Wort Zeitgenosse. Will man das sein, ein Genosse seiner Zeit? Eher ja, oder?

Tot ist Allen Ginsberg, dessen “Planet News”, ein kleines gelbes Bändchen der Reihe Hanser, ich vor sechsunddreißig Jahren eine Saison lang in den Taschen meines sandfarbenen Teddy-Mantels spazieren trug.

Freitag, 1. April 2011 – Neunuhrneunundvierzig, in der Sonne schon siebzehnkommadrei Grad. Um vier Uhr hadernd aufgewacht.

Die Goldnuss – Immer mal wieder dachte ich darüber nach, an wen mich die Grünen-Chefin Claudia Roth erinnert. Und kam nicht drauf. Bis ich merkte, dass die Frage falsch gestellt war. Richtig hätte sie lauten müssen: An was erinnert mich Claudia Roth? Nämlich an eine milchzahnbrechende Süßigkeit meiner Kindheit, an die Goldnuss der Firma Küfa aus dem lippischen Dörentrup. Fast möchte man so verwegen sein zu behaupten: Claudia Roth gleicht einer Goldnuss auf Speed.

Vernebelter Aufklärer – Kaum eine regelmäßig erscheinende Druckschrift, in der weniger sprachliche Lässigkeiten zu finden sind, als im Monatsmagazin konkret. Groß ist die Freude des Muckers, wenn er doch mal einige findet, noch dazu in nur einem Satz. Im Märzheft schreibt Jörg Kronauer: “Das Paradebeispiel schlechthin für skandalöse Besitzverhältnisse im Medienbereich ist natürlich Italien.” Warum Parade? Warum schlechthin? Was ist daran natürlich? Und wie kann etwas skandalös sein, wenn es zugleich natürlich genannt wird? So etwas heißt man wohl: Nebel der Aufklärung.

Alles – Ich wusste nichts über Winfried Kretschmann, den künftigen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Als ich las, dass er sowohl von Heiner Geißler als auch von Martin Walser geschätzt wird, hatte ich den Eindruck, alles über ihn zu wissen.

Treffer – Todestag von Hans Filbinger.