Mai 2011
Samstag, 28. Mai 2011 – Zwölfuhreinundzwanzig, sechzehnkommasechs. Wolken. Wind.
Gestern Literaturhaus. Fast ein wenig gespenstisch, wie gut die Stimmung ist, wenn sich die Gesellschafter des Verlags der Autoren einmal im Jahr treffen. Wie durchsichtig alles gemacht wird. Wie genau hier alles genommen wird. Wie haushälterisch auch mit kleinen Beträgen gerechnet wird. Wie angenehm man mit einander umgeht. Gelöst, gespannt. Fast nur Wohlwollen, Offenheit auf den Gesichtern. Kaum zum Aushalten. Eine Tankstelle für den Alltag.
Kurz vor neunzehn Uhr fährt Christian im Offenen vor. Ich springe rein. Sonnenschub. Zu Bärbel Gräßlin in die Schäfergasse. Eröffnung der Ausstellung mit Bildern von Helmut Dorner. Hier dieselbe Stimmung. Leicht schwebend, manchmal ein Wort, das witzig zuschnappt. Man lacht, geht weiter, trifft sich vor einem anderen Bild wieder. Ein guter Ort. Was ist los? Oder liegt es an uns? Sind wir heute einfach gut bei einander? Kurz zu Iwase San einen Sake mit Salz aus dem Holzkästchen schlürfen. Dann wieder ins Literaturhaus. Bis halbdrei. Schwer heim.
Gestern sagte Brigitte, der letzte Geisterbahn-Eintrag sei aus ihrem Computer verschwunden. Heute von Martin eine Mail, ob alles in Ordnung sei: “Seit fast einer Woche Geisterstille auf der Geisterbahn.”
Kann das denn sein … ? Ja, doch, stimmt. Aber es ist alles in Ordnung.
Immerhin ein Satz, den vor ihm lange kein amerikanischer Präsident mehr gesagt hat, immerhin ein Satz, an dem man die Politik des Westens wird messen dürfen: “Wir haben die Chance zu zeigen, dass Amerika die Würde eines Straßenhändlers in Tunesien höher schätzt als die rohe Macht eines Diktators.” (We have the chance to show that America values the dignity of the street vendor in Tunisia more than the raw power ot the dictator.) – Obama.
“Omega de Ville Automatik Herrenuhr Traumuhr Bestzustand + Klassiker + Elegant + Zeitlos” – Ob das Adjektiv “zeitlos” bei einer Uhr wirklich eine Empfehlung ist?
Am 28. Mai 1936 starb Bertha Pappenheim in Neu-Isenburg.
Sonntag, 22. Mai 2011 – Fünfuhrdreiundfünfzig, dreizehnkommafünf. Hell. Seit zwei Stunden wach.
Götz berichtet, er habe in der Kulturgruppe des Butzbacher Gefängnisses die Fragebögen aus Max Frischs Tagebüchern vorgelesen. Schließlich sei er auch zur 22. Frage gekommen, welche lautet: “Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie sich, dass es dazu nie gekommen ist?”
Als keiner der Häftlinge reagierte, habe er, Götz, erwartungsvoll in die Runde geschaut. Darauf der Gefangene F.: “Was schauen Sie mich so an: Ich erfülle leider die Voraussetzungen dieser Frage nicht, sondern quäle mich seit nunmehr fünf Jahren mit der Frage rum, wie es dazu kommen konnte.”
“I mean, everybody does something for everybody else – your shoemaker does shoes for you, and you do entertainment for him – it’s always an exchange, and if it weren’t for the stigma we give certain jobs, the exchange would always be equal … But there’ll always be people who don’t clean who think they’re better than the people who do clean.” – Warhol
Charles Aznavour wird heute siebenundachtzig Jahre alt.
Donnerstag, 19. Mai 2011 – Zwölfuhrzwölf, sechsundzwanzigkommaeins. Schäfchen.
Wieder dauernd auf youtube Nina Simones “Ain’t got no” vom Harlem Festival 1969 angeschaut. Als ginge allein von diesem Song, von diesem Gesicht, von dieser Stimme die Rettung aus. Bis gestern wurde das Video fast siebeneinhalb Millionen mal angeklickt. “Gefällt 19.197, gefällt 260 nicht.” Ich stelle mir diese 260 Gefällt-Nicht-Menschen als ganz und gar Verlorene vor.
Gestern noch über Dolores Ibárruri gelesen. Von ihr stammen der Satz “Lieber stehend sterben, als auf Knien leben” und die Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg: “No pasarán!” Heute nun kommt die Nachricht, dass genau diese zwei Worte auf den Transparenten der Jugendlichen stehen, die dieser Tage zu Zehntausenden in Spanien protestieren.
Gabriele Münter ist tot.
Dienstag, 17. Mai 2011 – Siebenuhrdreiundvierzig, dreizehnkommafünf. Bewölkt.
Gestern, die kluge Kamerafrau, die schon vielen Schuften ins Auge geblickt hat.
Über Rainer Körppen sagt sie: “Absolut zu allem fähig”.
Über Magnus Gäfgen: “Ein vollkommen leerer Mensch. Da war nichts: keine Reue, kein Trotz, kein Hass – nur Leere”.
Über Volker Bouffier: “Zitronenhäubchen. – Aber man muss ja auch erstmal einen Friseur finden, dem es gelingt, immer denselben Gelbton ins Haar zu zaubern.”
“Seit zwanzig Jahren fotografiere ich meinen Mann. Aber er ist auf allen Fotos unscharf.” – Dann solltest du dich vielleicht damit abfinden, dass es sich bei deinem Mann um einen unscharfen Charakter handelt.
“Everybody has a different idea of love. One girl I know said, ‘I knew he loved me when he didn’t come in my mouth.” – Warhol
Sehe gerade, dass sich Sven Körppen bereits im November letzten Jahres das Leben genommen hat.
Samstag, 14. 5. 2011 – Fünfuhrneunundzwanzig, achtkommasieben. Wieder wach seit vier. Schlieriger Himmel. Kurz noch aufs Rad? Ja! Heute Vormittag Probe, heute Abend Auftritt.
Samstagmorgen, vielleicht irgendwo in der Provence. Vielleicht in Apt. Ein kleines Hotel am Marktplatz, das Zimmer im ersten Stock. Ich hätte gut geschlafen. Ich würde die grünen Fensterläden öffnen und die Sonne herein lassen. Ich würde lächeln. Ich würde eine Dusche nehmen, mich anziehen und nach unten gehen. Über die Schultern hätte ich einen dünnen Pullover geworfen wie in einem alten Alain-Delon-Film. Am runden Blechtisch unter den Platanen würde ich einen Kaffee trinken und an einer Tartine knabbern. (“Müssen es denn immer Platanen sein?” – Ja, es müssen Platanen sein!) Ich würde den Marktleuten zusehen, wie sie ihre Stände aufbauen. Ich würde nicht so tun, als gehörte ich dazu. Ich würde den Mädchen nachschauen. Ich würde in der Süddeutschen Zeitung von gestern, die ich bei der Abfahrt noch schnell aus dem Kasten geholt hatte, eine Reportage von Renate Meinhof lesen. Mich würde kurz frösteln. Ich würde froh sein, hier zu sitzen. Ich würde den Satz denken: Im Schatten ist es noch recht frisch. Ich würde hoffen, dass heute nichts passiert.
“Junger Mann, Sie haben Ihr Brot liegen lassen!”
“Wenn Sie mich noch Mal junger Mann nennen, lasse ich es morgen wieder liegen!”
“Love and sex can go together and sex and unlove can go together and love and unsex can co together.” – Warhol
Ludwig Meidner ist tot. Ich wusste gar nicht, dass er so viel mit Frankfurt zu tun hat.
Donnerstag, 12. Mai 2011 – Zwölfuhrachtunddreißig, achtzehnkomma- sieben. Der Himmel ist zu. La Longines Présence – C’est à moi!
Um halbsechs aufgewacht, sofort extrem bewegte Kopfmaschine. Nicht gut. Anderthalb Stunden mit dem Olmo über die Hohe Straße. Keiner begegnet mir. Niemand! Doch: Auf dem Hühnerberg flitzt ein Feldhase fünfzig Meter vor mir her und bricht dann nach rechts ins Unterholz aus.
Sie ist Lehrerin. Er ist Polizist. Beide stammen aus der kleinen Stadt Spangenberg im Südosten von Kassel. Sie haben sich in der Schule kennen gelernt, geheiratet, ein preiswertes Grundstück gekauft und mit viel Nachbarschaftshilfe ein ansehnliches Haus gebaut, in dessen Garten sie im Sommer gerne mit Freunden grillen. Sie lesen jeden Tag die HNA, ihre nordhessische Lokalzeitung, so wissen sie immer, was in der Umgebung los ist und wo es die besten Angebote gibt. Sie fühlen sich wohl in dem Ort und waren sich immer einig, nie von hier wegziehen zu wollen, wo ihre Eltern wohnen, wo sie jeden kennen, wo das Leben bezahlbar und gemächlich ist. Die Großstadt wäre nichts für sie, auch wenn beide in Frankfurt arbeiten. Da sich ihre Arbeitszeiten nur selten decken, brauchen sie zwei Autos. Frankfurt liegt knapp hundertachtzig Kilometer von Spangenberg entfernt. Jeder von ihnen ist jeden Tag vier Stunden unterwegs. Unter seinen Kollegen bei der Frankfurter Polizei, unter den anderen Lehrern an ihrer Schule in Bockenheim gibt es viele, die es ähnlich machen. Pendler, die aus ihren Orten im Odenwald, in der Rhön oder vom Edersee kommen und dorthin jeden Abend zurückfahren. Sie alle wussten, als sie ihre Berufe wählten, dass man als Polizist oder Lehrer kaum eine Chance hat, eine Stelle in der Heimat zu bekommen. Fragt man sie, warum sie sich trotzdem dafür entschieden haben, antworten sie fast einhellig: Weil es sich um sichere Berufe handelt.
So weit die Geschichte. Aber wie sie mich aufregt, wie mich diese Haltung wahnsinnig macht. Wie kann jemand, der nicht in Frankfurt lebt, Frankfurter Kinder erziehen wollen, wie kann er sich hier mit Autofahrern, Jugendlichen und Dealern anlegen? Es geht nicht, es kann nicht funktionieren. Diese Stadt hat einen anderen Sound, einen anderen Rhythmus, eine andere Sprache als Spangenberg, Lorsch oder Biedenkopf. Niemand kann etwas dafür, wo er herkommt, aber jeder kann sich entscheiden, wo er lebt. Was wollen uns diese verdrückten Hinterwäldler über unsere Stadt erzählen, wie wollen sie unser Leben mitbestimmen, wenn sie nicht in unserem Saft zu Hause sind? Es sind Provinzspießer, die nicht einmal wissen, wie ein Großstadtspießer tickt. Sie schlendern mal über die Zeil, sie gehen mal in den Elektronikmarkt an der Konstabler, um sich einen Automatikheber für ihr beschissenes Provinzdoppelgaragentor zu kaufen … und dann … nichts wie weg, nach Hause, nach Spangenberg, wo man am Wochenende den Freunden am Kugelgrill wieder schaurige Geschichten aus der großen Welt erzählt. Und was ist das überhaupt für ein verkrüppelter Grund, Polizist oder Lehrer zu werden: Sicherheit? Ich will nicht, dass so ein Sicherheitsspießer meine Tochter erzieht. Ich will nicht, dass mir so ein Sicherheitskretin sagt, dass ich auf dem Radweg zu fahren habe. Was für ein beschissenes, verkrüppeltes Nummersicherleben! Ich will das nicht auch noch bezahlen. Ich will’s nicht!
Kall, mei Droppe!
Ich trink heut mal nur Wasser.
Dritter Todestag von Robert Rauschenberg.
Mittwoch, 11. Mai 2011 – Fünfuhrsechs, fünfzehnkommanull. Draußen: unglaubliches Gezwitscher, dämmert schon, Wolken. Wach seit kurz vor vier. Alptraum: P. weint und schluchzt und weint und ist nicht zu beruhigen. Stehe auf, schaue nach, aber sie liegt ganz ruhig in ihrem Bett. Ich nun nicht mehr.
Spiegel: Zu den Oscar-Verleihungen erschienen Sie bauchfrei oder im Irokesen-Look. War das Provokation?
Cher: Nein, ich hatte Lust dazu. Ein Dresscode für Künstler, das ist doch Schwachsinn. (…) Künstler sollen frei sein. Wie kann jemand frei sein wollen und sich gleichzeitig vorschreiben lassen, wie er sich anzuziehen hat?
Da widerspricht man, da legt man sich an, da setzt man der Wirklichkeit Sprachwiderstände entgegen, da setzt man der Sprache Wirklichkeits- widerstände entgegen, dann kommt die Dame von der Volkszählung, die jetzt Zensus heißt, überreicht den Fragebogen … und … wo findet man den eigenen Beruf wieder? Unter: SONSTIGE DIENSTLEISTUNGEN.
C: “Einmal macht jeder den Fehler, dich einzuladen”.
ich will nicht dazugehören
ich will nur dabei sein
Lex Barker ist tot.
Dienstag, 10. Mai 2011 – Sechsuhrvierunddreißig, dreizehnkommazwei. Nach dem Aufwachen gleich eine Runde über die Ländereien. Der Dill ist hinüber, das ganze Kräuterbeet eine einzige Verheerung. Verdächte: der Nachtfrost, die Mittagssonne, zu viel Wasser, zu wenig Wasser, die Katzen, die Schnecken, mein Unvermögen.
Ich möchte Sie zu einem fröhlichen Beisammensein am Montag, dem 9. Mai 2011 von 16.30 bis 18.30 Uhr, in die Schwanenhalle und das Römerhöfchen bitten.
Dr. h.c Petra Roth
Oberbürgermeisterin
Frankfurt am Main, im April 2011.
Der Eingang zur Schwanenhalle befindet sich gegenüber der Paulskirche, Paulsplatz 3.
U.A.w.g. auf beiliegender Antwortkarte bis 5. Mai 2011.
Bitte wenden.
Diese Einladung gilt als Einlasskarte.
Wir bitten, sie bei Betreten des Römers dem Aufsichtspersonal vorzuzuzeigen.
Die Karte ist gültig für eine Person und nicht übertragbar.
Frische Jeans, frisches Hemd, Jackett, Crockett & Jones. Eigentlich ganz passabel. Auf dem schwarzen Mountainbike in die Stadt. Hoffentlich bin ich nicht gleich durchgeschwitzt. Zu spät losgefahren. Kurz nach halb am Römer. Vor dem Eingang eine Gruppe älterer Herren, alle in dunklen Anzügen, alle mit Krawatten. Sofort komme ich mir falsch vor. Kurz der Impuls: Junge, kehr um! Du. Bist. Hier. Falsch. Du bist untenrum nackt. Ein Paria. Underdressed. Ich hasse es, underdressed zu sein, weil es immer so wirkt, als wolle man damit etwas ausdrücken, als wolle man provozieren. Aber ich will nicht provozieren. Das Problem ist bloß, dass ich so viele Jahre nur Jeans getragen habe, dass ich mich in jeder anderen Hose unbehaglich fühle, verkleidet – wie ein Banker, der ich nicht bin, wie ein Rechtsanwalt, der ich nicht bin, wie ein Verleger, der ich nicht bin. In diesem Leben werde ich kein Anzugträger mehr werden. Ich bin falsch hier, aber stehe schon in der Schlange. Anstehen für das Gästebuch. Ich kenne wirklich NIEMANDEN. Ich werde hier nicht fröhlich beisammen sein, sondern einsam rumstehen wie ein untenrum nackter Paria. Dann eine kleine Erleichterung: Hinter mir kommt Joachim Unseld rein. Er hat ein mit Plastikfolie umwickeltes Paket in der Hand. Bücher. Sagt er. Was sonst? Was soll ein Verleger der Oberbürgermeisterin sonst zum Geburtstag schenken? – Zum GEBURTSTAG? Ich hatte ja keine Ahnung, dass das hier die Geburtstagsfeier … Wie komme ich dann hier her? Was habe ich hier verloren? Aber es ist zu spät. Da steht sie schon. Ich gratuliere ihr und sage, dass ich ja keine Ahnung hatte, dass sie heute … Sie lächelt, dann schaut sie Joachim an: “Und da haben Sie ihn einfach mitgebracht?” – Das heißt … oh Gott … sie weiß nicht mal, dass sie mich eingeladen hat, sie denkt, ich hätte mich hier REINGEWANZT. Wie grauenhaft peinlich mir das alles ist.
Aber wie immer, wenn etwas wirklich peinlich ist, setzt sofort der Gegenreflex ein: Wenn es peinlich ist, ist es eigentlich lustig. Man muss einfach ein anderer werden; dann ist es, als würde man einen Woody-Allen-Film sehen. Ich bin nicht mehr ich. Ich bin nicht mehr peinlich. Ich bin der, der dem peinlichen Woody zuschaut.
Achtzig, hundert Gäste. Ein paar erkenne ich nun doch. Adel. Geld. Journalismus. Magistrat. Und Moritz Hunzinger. Jutta Ebeling hält eine Rede. Sie sagt, dass dank der Oberbürgermeisterin die Stadt Frankfurt in der “Pool Position” sei – PUHL POSISCHN. Dass wir der kürzlich verstorbenen Mutter der Oberbürgermeisterin dankbar sein müssen, weil sie ihre guten Gene an die Oberbürgermeisterin weiter gegeben habe. Dass man den Geburtstag der Oberbürgermeisterin eigentlich mit allen Frankfurtern feiern müsse, aber hier heute wenigstens die wirklich wichtigen Leute versammelt seien. Denn wenn sie nicht wichtig wären, wären sie nicht hier. – Wie kann jemand von sich selbst sagen, dass er wichtig sei? Was ist wichtig daran, wichtig zu sein? Ich will nicht wichtig sein. Wichtig ist kein wichtiges Wort für mich. Aber jetzt will ich auch nicht mehr weg hier. Jetzt will ich mitschreiben.
Jetzt will ich aufschreiben, dass ich einen Mann sehe, der ebenfalls eine Jeans trägt. Aber statt froh zu sein, dass wir jetzt zu zweit sind, denke ich: Was hat denn der hier zu suchen, dieser untenrum nackte Paria? Der will wohl provozieren … Ich mache mit ihm, was die anderen mit mir machen: Ich werfe einen kurzen, abschätzigen Blick auf seine Jeans, hebe leicht die Brauen, blähe kurz die Nüstern und wende mich ab. Ich lasse ihn ABPERLEN! Aber er lässt sich nicht abperlen. Wir kennen uns doch, sagt er. Es ist der Boris von der FNP, der früher beim Journal war. Wir waren doch schon beim Du, sagt er. Und dass er bald mal ein Gespräch mit mir führen will, dazu aber meine Kontaktdaten braucht. KONTAKTDATEN. Zehn Minuten lang fummelt der Boris an seinem Smartphone rum, dann hat er meine Kontaktdaten abgespeichert. GESAVED. Das da ist Frau Rottmann, sagt der Boris. Frau Rottmann hat heute ebenfalls Geburtstag. Sie empfängt ebenfalls Glückwünsche. Sie bekommt ebenfalls ein Geschenk. Sie ist das jüngste Magistratsmitglied. Sie wird, flüstert mir der Boris zu, als neue OB-Kandidatin gehandelt. Aber dann will der Boris noch eine Runde bei den wirklich wichtigen Leuten drehen.
Als ich den Arning sehe, wird alles anders. Ich bin wieder ich, und meine Jeans ist mir nicht mehr peinlich. Der nette Herr Münster vom Presseamt kommt hinzu, und wir unterhalten uns zu dritt über Politik. Ganz richtig und ganz konzentriert. Über Guttenberg und die Moral und die Erziehung und die Demokratie und die Banken. Und der nette Herr Münster sagt, wie sehr man geschluckt habe in der Stadtverwaltung, damals vor zehn Jahren, als mein Text über Frankfurt in der Zeit erschienen sei. Aber, sage ich, das war doch eine Liebeserklärung. Doch das sieht der nette Herr Münster anders. Darf er ja auch. Wir leben ja in einer Demokratie. Und als ich dann von weitem das schöne, freundliche Gesicht von Eva Demski sehe und wir uns eine halbe Stunde lang freundlich anhimmeln, will ich eigentlich nie mehr weg aus der Schwanenhalle und dem Römerhöfchen, sondern will meine Isomatte und meinen Schlafsack auf den Boden legen und für immer hier bleiben und mir einbilden, dies sei das Herz der Demokratie, wo ich gar nicht falsch sein kann, sondern hingehöre wie alle anderen jeanstragenden Parias dieser Welt.
Setze mich dann aber doch wieder auf mein schwarzes Mountainbike und fahre zu Feivel Szlomowicz in die Töngesgasse, um ihm meine mechanische Glashütte-Uhr zu bringen, die er sofort öffnet und durch seine riesige Kopflupe anschaut: “Alte DDR-Kunst, aber leider total verdreckt”, sagt der Mann mit dem schönsten Namen Frankfurts.
Heute vor einundfünfzig Jahren ist Juri Olescha gestorben.
Samstag, 7. Mai 2011 – Siebenuhrzweiunddreißig, zehnkommasechs. Schon da, die Sonne.
B: Gut geschlafen?
A: Immerhin bis zur ersten Dämmerung, bis um fünf. Then I had to pee. Und jetzt rufst du an.
B: Du solltest länger schlafen. Nimm dir ein Beispiel an mir. Ich räkle mich noch …
A: Schon in Ordnung. Ich musste auch gucken, ob die Kräuter über Nacht gewachsen sind. Und was meine Auktionen machen. Ich brauche einen kleinen Arbeitstisch aus Holz, ein paar neue Reifen für das Olmo und eine Uhr.
B: Aber du hast dir doch erst letztes Jahr die schöne Glashütte gekauft, was brauchst du schon wieder für eine Uhr?
A: Kann ich nicht verraten, sonst schaust du sie dir an, verliebst dich in sie und schnappst sie mir weg. Sie ist in Tel Aviv.
B: Ist irgendwas passiert diese Woche, das wir aufschreiben müssen?
A: Lass mich überlegen. Am Mittwoch war Jürgen da; wir haben Hans-Ulrich Schlumpfs vierzig Jahre alten Film über Armand Schulthess geguckt …
B: Nicht so schnell. Das waren wieder zu viele Namen in einem Satz …
A: Schulthess, dieser Schweizer Einsiedler … Ich hab dir von ihm erzählt. Er war zweifellos verrückt. Sein Haus war eine Müllhalde. Aber alles, was er gemacht hat, war Kunst … Seine Objekte, seine Montagen. Das war besser als Schwitters, besser als Brinkmann, besser als Warhol …
B: Mach mal halblang. Sonst noch was?
A: Am Freitag waren wir in Königstein. Auf der Rückfahrt haben wir in der Nähe vom Opel-Zoo diesen alten, leerstehenden Flachbau fotografiert. Es war schon fast dunkel. Falkensteiner Straße Nummer 1. Wäre ein guter Drehort. Wird wohl ein Restaurant gewesen sein. Vielleicht wird sich Süleyman dort verstecken.
B: Du fragst nie, wie es mir geht. Ich glaube, ich bin nur dazu da, dir Stichworte zu geben.
A: Ja, aber dafür liebe ich dich. Gestern gab es Kalbskotelett mit Salbei-Limetten-Butter …
B: Hör auf! Du wirst wahrscheinlich als Kalbskotelett wiedergeboren. Du weißt, ich finde es widerwärtig über Fleisch zu reden …
A: Ja, ich weiß. Manchmal wäre ich auch lieber ein schmaler, vegetarischer Künstler mit Pigmentstörungen, der morgens im Village mit B. telefoniert …
B: Was liest du gerade?
A: Andy Warhols Philosophy.
Salieri ist tot.
Mittwoch, 4. Mai 2011 – Fünfuhreinunddreißig. Dämmerung. Glaubt man’s denn: minus nullkommasieben. Wenn bloß der junge Dill nicht erfroren ist!
Der Göttinger “Mescalero”, April 1977: “Meine unmittelbare Reaktion, meine ‚Betroffenheit‘ nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen.”
Angela Merkel, Mai 2011: “Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.”
Ob der Ring Christlich-Demokratischer Studenten nun Strafantrag gegen Angela Merkel stellen wird, wie er es damals gegen den Göttinger “Mescalero” getan hat?
Das Jahr der großen Wagen? Gestern Jürgen K. mit seinem neuen Mercedes. Ziert sich ein wenig: Soll er sich schämen oder soll er stolz sein? Schon ein bisschen stolz, oder? Aber er will keinen Espresso, will keinen Wein, will kein Clausthaler – macht mich immer ganz hilflos, wenn jemand da ist, der gar nichts will.
Wie mich mein eigener Ton hier manchmal nervt. Dieses simulierte Selbstgespräch, diese hilflosen Huchs und Achs – kokette Gefühlssurrogate. Es ist eben doch nicht so, dass man ein einmal erreichtes Niveau von selbst würde halten können. Die eigene Substanz wird jeden Tag unterminiert, jeder Klick im Netz, jeder Gang durch den Supermarkt, jede Radiomoderation, jede Minute Fernsehen ist ein Angriff, der nicht ohne Folgen bleibt. In dem Moment, wo wir aufhören, uns dagegen zu wehren, werden wir sofort dümmer, gröber. Aber … ich rede ja wie ein Amish.
… sich neu erfinden
… sich neu denken
… wie fühlt sich so ein Sieg an?
… Halloooo?
Brrrrh!
Interjektionen vermeiden!
Ossietzky ist tot.
Dienstag, 3. Mai 2011 – Vieruhrdreiundfünfzig, fünkommanull. Aufgewacht, auf die Uhr geschaut und … schon vieruhrzwanzig … rasch raus … sonst wird der Tag zu kurz. Noch keine Zeitung da?
Gestern den ganzen Tag rumgefummelt an paar Sätzen, die Asche sind, ohne überhaupt gebrannt zu haben.
Abends Christian, fährt im offenen Jaguar vor, bringt Spargel und Schinken mit. Hat sich in Köln eine neue Kappe machen lassen. Hat in Paris im Café in der Rue de Seine den ehemaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac kennengelernt. Hat in Fès eine Skulptur gekauft – das Unterteil eines alten Heißwasserboilers. Fährt nach Agay, um Margarete abzuholen. Warum reden wir nicht über Bin Ladens Tod? Gibt nichts zu reden. Ist halt so. Lieber über Manet, Monet, Money.
Titelthemen: Diskutieren Sie mit! Wir fragen Deutschland: Was ist den Detmoldern bei der Alterssicherung wichtig? Sehen Sie hier alle Matussek-Folgen! Hier finden Sie Ihre Aboprämien! Ihr Hessen-Star: Stimmen Sie ab! Wer soll der nächste Stern am Schlagerhimmel sein? So denkt Deutschland. So feiert Deutschland. So teuer wohnt Deutschland. Hat sich Sarah ins DSDS-Finale geheult? Danuta, süße Polin, wartet schon auf dich. Auch Dusch- und Badeservice. Bin Ladens Seebestattung – Sein Körper glitt ins Wasser.
Shakespeare ist tot.
Montag, 2. Mai 2011 – Vieruhrfünfzig, achtkommasechs. Wach seit kurz vor vier. Dunkel. Laut.
Vor sich selbst macht Rühmkorf in den Tagebüchern unentwegt Männchen. Frauen überzieht er gerne mit seinem Schneckenblick. Hat man das als Schreib- und Lebenshaltung dieses Autors erkannt, genügt eine solche Formulierung, um die Lektüre abzubrechen: “Dolle Frau, und dann sogar noch die meine.” Wenn man dazu weiß, dass dieser Mann … Nein, still!
Als ich vor Jahren in die Sprechstunde des Literaturprofessors kam, um mit ihm das Thema meiner – dann nie zu Ende geschriebenen – Arbeit zu besprechen, schaute der kleine Mann, der es liebte, die langbeinigsten (oder muss es heißen: längstbeinigen?) Studentinnen ganzjährig zum Tanz in den Mai auszuführen, mich aus feuchten Augen an: “Hauptsache”, sagte er, “Sie kommen mir nicht mit Max Frisch.”
Gestern Abend nun wieder in Frischs Nachkriegstagebücher geschaut, mich sofort festgelesen und gedacht: Der will was, der will mehr als nur Männchen machen … Kein Wunder also, dass der Betrieb ihm übel nachredet.
Jetzt, um fünfuhrvierundzwanzig, beginnt es im Osten zu dämmern. Der Himmel in den Farben eines frischgeschmiedeten Eisens, das gerade eben aus der Esse gezogen wird.
Vierundvierzigster Todestag von Ernst Friedich, Pazifist, Anarchist, Museums- gründer.