Geisterbahn

Oktober 2011

Termine

Samstag, 29. Oktober, 12 Uhr, Rathenau-Platz, Frankfurt, Demonstration OCCUPY:FRANKFURT

Freitag, 18. November, 20 Uhr, DGB Haus Frankfurt, Ein Konzert für OCCUPY:FRANKFURT mit Jan Seghers und Atilla Korap (Ein kleiner Abend Glück) und Komaläufer (Musik für die kommende Zeit)

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Freitag, 28. Oktober 2011 – Sechsuhrdrei, vierkommazwei. Dunkel. Das erste Mal auf der Rolle gesessen, mühsam, was auch sonst. Heute zweiter Versuch.

Gestern weiter mit der Steuererklärung. Zwischendurch anderthalb Seiten für das Pressematerial des ZDF geschrieben – “Die Braut im Schnee” wird am 9. Januar um 20.15 Uhr ausgestrahlt. Angenehmes Hin und Her wegen der Flyer für unser Konzert im DGB-Haus. Abends nach Gelnhausen in die Marienkirche, wo Heiner und Sarkowicz ihre Grimmelshausen-Biografie vorstellen. Kurz ins Romanische Haus mit Alf, der erzählt, dass Gelnhausen von den Nazis zur “ersten judenfreien Stadt” Deutschlands erklärt worden sei. Döneria in der Frankfurter Str. 22, Autobahn, heim, Bett.

Schönste Lektüre des Tages: Der Erfahrungsbericht einer Bewohnerin des Frankfurter Occupy-Camps. So hat man gedacht, dass es sein würde.

Kann denn das sein – schon der fünfte Todestag von Peter Gingold?

Dienstag, 25. Oktober 2011 – Achtuhracht, achtkommavier. Himmel: blau. Und Wolken mit hübschen Lichträndern.

Die Offenheit der Occupy-Bewegung ist momentan ihre Qualität. Weil sie Projektionsfläche vieler Unzufriedenheiten ist, hat sie eine Dynamik entwickelt wie kaum eine andere Bewegung der letzten dreißig Jahre. Erstaunlich ist das, da es in ihr ja nicht um Partikularinteressen geht – wie um die Verhinderung einer Startbahn, eines Atomkraftwerks oder eines unterirdischen Bahnhofs -, da sie stattdessen ja auf das unsichtbare Herz des Systems zielt, da sie die Eigentumsfrage zu ihrer zentralen macht. Sie nennt sich mit einer gewissen Keckheit “revolutionär”, erklärt die Überwindung des Kapitalismus zu ihrem Ziel und scheint damit weder die christliche Buchhändlerin abzuschrecken, noch den esoterischen Chemiestudenten oder den pensionierten Wirtschaftskundelehrer. Die Offenheit der Bewegung ist keine taktische, sondern eine faktische. Ausgeschlossen werden von den Aktivisten lediglich rassistische, nationalistische, antisemitische, sexistische und homophobe Inhalte. So nennt sich die Bewegung zwar nicht links, kann aber kaum anders genannt werden – wenn auch in einem recht vagen Sinne. Wer sich an ihr beteiligt, bestimmt ihre Richtung mit. Es gibt für einen Linken im Moment keine wirklich guten Gründe, sie nicht zu begrüßen, zu unterstützen und durch eigene Erfahrungen und Einsichten zu stärken.
Freilich: Die Occupy-Bewegung ist so bunt, so offen, dass in ihr jede Dummheit zu Wort kommen kann und auch zu Wort kommt. Anstatt nun korrigierend einzugreifen, nehmen einige linke Kritiker solche Dummheiten zum Anlass, sich wortreich zu distanzieren. Mehr noch: Sie suchen geradezu nach Fehlern und nach Verstößen gegen das Reinheitsgebot der eigenen Lehre, um unter sich bleiben zu können und ihre Einsichten auch diesmal wieder nicht in politische Praxis münden lassen zu müssen. Bei manchen dieser linken Kritiker hat man den Eindruck, dass ihr gedanklicher Aufwand allein das Ziel hat, die eigene politische Praxis zu verhindern. Man darf noch unentschieden sein, ob es sich hier nur um akademisches Muckertum oder doch um eine Form von Feigheit handelt.
So offen sie jetzt noch ist, kann und wird die Occupy-Bewegung nicht bleiben. Was momentan ihre Stärke ist, würde andernfalls zu ihrer Schwäche werden.

Tot ist Geoffrey Chaucer.

Mittwoch, 19. Oktober 2010 – Fünfuhrfünfundfünfzig, sechskommaacht. Leichter Regen.

Gestern Nachmittag erst zu Meister Gepetto, der ganz aufgeräumt wirkt, dann weiter in die Stadt.
Direkt unter dem Euro-Symbol gegenüber vom Theater campen seit Samstag die Occupy-Leute. Sie haben ein Schild aufgestellt: “Wir sind die neuen Nachbarn”. Zwei junge Männer stehen in der Feldküche, geben Kaffee und Müsli aus. Von weiter hinten kommt Musik, Gitarre und Bongos. Ein Feuer blakt in der Tonne. Schon erstaunlich, was sich hier innerhalb nicht mal einer Woche getan hat. Unentwegt kommen ganz unterschiedliche Menschen vorbei, um Spenden zu bringen, Geld, Kleidung, Lebensmittel. Und um zu reden, zu gucken, zu hören, um etwas Demokratie zu schnuppern. Wie offen, zuversichtlich, freundlich, neugierig man hier ist. Die junge Frau hinter dem Infostand sagt den Satz, den man gerne von ihr hört: Sie habe in den letzten fünf Tagen mehr gelernt als in den bisherigen fünf Semestern ihres Politik-Studiums. Und dass sie dauernd merke, wie viel sie noch lernen muss. Sie erzählt, dass immer wieder Angestellte aus den umliegenden Banken vorbeikommen, die den Protestierern zu ihren Aktionen gratulieren und dabei bekennen, dass sie selbst nicht mehr weiter wissen. Da steigen also diese bedrängten, grauen, gut verdienenden Kreaturen aus ihren Türmen herab und wärmen sich am Anblick ihrer ungezähmten Gegner. Wäre es nicht eine Illusion, so könnte man vermuten: Das System zerbröselt von innen. Und dieses zottelige Zeltlager wird zum Gegenentwurf: Seht ihr, so geht es auch! – Ach, die Tage der Commune …
Dann klingelt das Handy der jungen Frau, sie entschuldigt sich und nimmt den Anruf entgegen: “Hallo, Papa. Ja, ich steh gerade am Infostand und erklär ein paar Leuten, was wir hier machen. Klar war ich heute Morgen in der Uni; ich bin doch eine fleißige Studentin. Hier ist alles gut. Bisschen windig halt. Ja, wenn du ein paar Seile mitbringen könntest, das wäre prima. Bis später!”

Occupy:Frankfurt !

Heute vor 15 Jahren haben Spürhunde der Polizei die Leiche Jakub Fiszmans in einem Waldstück bei Reckenroth im Taunus entdeckt.

Montag, 17. Oktober 2010 – Elfuhrzweiunddreißig, achtkommafünf. Grau.

Kaum dreht man der Welt den Rücken zu, schon spielt sie aufs Verrückteste verrückt. Am Freitag mit Christiane und Jürgen nach Verdun – Fort Douaumont, Toter Mann, Höhe 304 – was man so gesehen haben muss. Weiter ins Burgund. Und während wir uns in Accolay bekochen lassen, in Vezelay erleuchtet werden und in Fontenay den Hüftschwung der Madonna bewundern, wird in den USA der Klassenkrieg ausgerufen, marschieren in Rom 200.000 Regierungsgegner auf, brennt zuhaus in Frankfurt vor dem Euro-Symbol ein Lagerfeuer, werden die Kreditinstitute von führenden Politikern zu Staatsfeinden erklärt und der Deutsche-Bank-Chef vom Acker- zum Buhmann umbenannt. Und die FDP wird als verfassungsfeindliche Organisation verboten. Oder? Jedenfalls: schon ein wenig komisch, wie jetzt alle versuchen, ihren Hintern noch rasch ins Trockene zu bekommen. Obwohl doch die letzte, die allerletzte Schlacht noch lange nicht gekommen ist.

Willi Eichler ist tot.

Donnerstag, 13. Oktober 2011 – Zwölfuhrsechsundzwanzig, elfkommasieben. Wieder Sonne.

Gestern mit Grusche und Jan Weiler im Taxi aus dem Holbein zur Schirn. Wir sind zu spät, C. wartet schon, ist aber gnädig. Am Eingang gleich Feridun, will nach draußen. Warum? Zeigt mir die hohle Hand: Zigarette und Feuerzeug. Dann Helge – alles wieder ganz unverkrampft, gelöst. Bittermann geherzt, den ich seit … wie vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte? Trägt immer noch die spitzen, weißen Schuhe. Paar Worte mit Delius. Tanja kommt, im Schlepptau: Veruschka Lehndorff. Ein Blick auf diese Frau und ich bin gefangen. Sie ist nicht gekleidet, sie ist gewandet. Hat wahnsinnig dicke Plastikschuhe an und irgendwelche Tücher um den Kopf und die Schultern. Eine scheue Exzentrikerin, eine schüchterne Exhibitionistin. Und dann diese hübsche, spontane, nudelige Geste von KS, als sie erfährt, wer ihr da gegenübersteht: Lacht, beugt den Oberkörper kurz nach vorne und schwingt ihren Handrücken leicht auf den Oberarm von Frau Lehndorff: “Ach, Sie sind das!” Später noch länger mit Rudi und Eva-Marie. Viel Rotwein, viele Frikadellen. Taxi. Heim. Bett.

Erich Auerbach ist tot.

Montag, 10. Oktober 2011 – Zehnuhreinundfünfzig, vierzehnkommaeins. Wolken im Wind.

Gestern früh mit Jörg durch den sonnig-wabernden Nebel über die Berger Höhe und zwischen den Streuobstwiesen hindurch nach Niederdorfelden. Eine Morgenwelt wie von Caspar David Friedrich. Das Thermometer im Auto warnt vor Bodenfrost. Mit Lutz und Ralf und sechs weiteren Waden auf die Straße. Hundertzehn Kilometer Achterbahn durch die Wetterau. Letzte Kontrollstelle in Stammheim. Es riecht nach faulenden Äpfeln, moderndem Laub und Pferdedung. Zum Schluss machen Jörg und ich noch leckere Beute: für jeden zehn hausgeschlachtete Bratwürste, tiefgefroren und in Plastik verschweißt.

Das Buch von Chotjewitz lege ich nicht aus der Hand. Nehme es mit in die Küche, an den Frühstückstisch, ins Bett, selbst ins Bad. Das passiert nur ganz selten und nur mit Büchern, in denen mich alles etwas angeht oder längst etwas hätte angehen sollen. Bin begierig auf jede Seite, jeden Satz. Ob er Sonnenaufgänge beschreibt, seinen Zusammenstoß mit Helmut Kohl, seine Besuche bei Andreas Baader in Stammheim, seine Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr und im Männergesangsverein von Kruspis – wie dumm ich war, wie sehr ich diesen Mann unterschätzt habe. Schon jetzt fast unvorstellbar, dass es dieses Buch um ein Haar nicht gegeben hätte … (Peter O. Chotjewitz / Jürgen Roth: “Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß”, Verlag Büchse der Pandora)

Am 10. Oktober 1966 starb in Wesel am Niederrhein Otto Pankok, Maler und Freund der Zigeuner vom Düsseldorfer Heinefeld.

Freitag, 7. Oktober 2011 – Tag der Republik. Zwölfuhrzweiundzwanzig, elfkommazwei. Schweres Gewölk. Immer noch mit der Buchausgabe der Geisterbahn beschäftigt.

Die brachialen, gockelhaften Auftritte von Pit Chotjewitz waren mir jedes Mal ein Greuel. Aber was für ein wunderbares Buch hat Jürgen Roth dem bereits todgeweihten Autor entwunden. 360 Seiten mäanderndes, atemloses und zugleich lässiges Erzählen. Und erst jetzt begreife ich, welch unkorrumpierbaren Mann wir da verloren haben. “Aber rühmen wir nicht nur den Weisen / Dessen Name auf dem Buche prangt! / Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. / Darum sei der Zöllner auch bedankt: / Er hat sie ihm abverlangt. ” (Brecht)

Zum Eintrag vom 4. Oktober eine reizende Mail von Alf mit dem Betreff: “je m’accuse”: “… ich muss jetzt doch mein Gewissen erleichtern: die ‘Börne-Spitzfeder-Anmod’ stammt, glaube ich, tatsächlich von mir; ist allerdings schon 1 1/2 Jahre alt, d.h. entstanden, bevor ich von Deinem Kreuzzug gegen das Spitzfederwesen in  hr2-kultur erfahren habe. Wird wahrscheinlich nicht wieder vorkommen.  – So, jetzt kann ich wieder reinen Gewissens weiterarbeiten.”

Gar nicht zu zählen, wie oft Steve Jobs in den Sendungen des gestrigen Abends ein Visonär genannt wurde, ein Genie. Und wenn das nicht reichte, auch noch ein genialer Visionär, ein visionäres Genie. Passend dazu dann die Bilder der Occupy-together-Aktivisten, wo eine Frau ein Plakat trug mit der Aufschrift: MORE JOBS!

Vor zwei Jahren starb Irving Penn.

Dienstag, 4. Oktober 2011 – Siebenuhrdreiundfünfzig, zwölfkommavier. Schon wieder die Sonne. Bis zum Wecker geschlafen.

Gestern Nachmittag der alte Herr mit seinem Einkaufstrolley vor der verschlossenen Tür des Supermarktes: “Feierdahch? Was dann fürn Feierdahch?”

Auf HR2 die hübsche Formulierung: “Ludwig Börne, der Altmeister der spitzen Feder”. Wobei man sofort geneigt ist, das Gegenteil zu versuchen – vielleicht so: “… der Jungstümper des stumpfen Keyboards.”

Max Planck ist tot.