Dezember 2011
Dienstag, 27. Dezember 2011 – Elfuhrsieben, siebenkommazwei. Alles öde, alles grau, alles still.
Heiligabend. Der Baum ist geschmückt. Im Radio ist ein Ros entsprungen. Die Glocken läuten zum Kirchgang. Das Nordend begrüßt einander zwischen den Bänken. Feistes Lächeln, brünstiges Gestöckel. Man lässt die Plagen gewähren. So unruhig wie dieses Jahr … man versteht kaum ein Wort. Adeste fidelis, Krippenspiel, sein Name ist Wunderbar, der Herr sei mit Euch. Brot für die Welt. Der Pfarrer lächelt, reicht uns die Hand. Die Autobahn ist trocken und frei. Seid ihr gut durchgekommen? Frohe Weihnachten. Der Rote schmeckt noch besser als im vorigen … Kinder, bin ich müde, ich glaube, es wird Zeit. Gut geschlafen? Selbst die Brust ist schön saftig geblieben. Tässchen Kaffee geht aber noch. Das war’s dann fast schon wieder. Zum Glück werden die Tage jetzt länger. Kommt gut heim, fahrt vorsichtig. Und meldet euch mal.
“Jane Eyre” – was für ein hinreißendes Buch. “Lady Ingram hielt es für geraten, die Hände zu ringen, und rang sie ausgiebig …”
Kay Boyle ist tot.
Samstag, 24. Dezember 2011 – Zwölfuhrdrei, sechskommasechs. Mächtig Sonne zwischen den Wolken. Wird Frühling.
Gestern Morgen vor dem Supermarkt: “Jungä Mann, isch waaß ned, ob Sie sisch erinnern könne. Mir hatte ma’n Außenministä, der hieß Fischä. Diesä Fischä war frühä die größte Sau im Frankfurtä Taxigewerbe gewese. Der hat immä am Funk gelauert und geguckt, ob er nem annän Fahrä die Kunde abfische kann, der Fischä. Einma hab ischn erwischt, wie er in Sachsehause in de Bindingstraß grad zwei Fahrgäst von mir einlade wollt. Isch habn gejahcht, dass er Schuh und Strümp verlorn hat. Die Fischä-Sau, die dreckisch.”
Ich weiß nicht, wie viele Leute ich inzwischen kennengelernt habe, die Joschka Fischer in seiner Frankfurter Zeit gekannt haben. Es war keiner darunter, der etwas Freundliches über ihn gesagt hätte.
Tot ist Sergei Stepanowitsch Tschachotin, der Erfinder der drei Pfeile.
Donnerstag, 22. Dezember 2011 – Siebzehnuhrachtzehn, sechskomma- null. Sprühregen. Dunkel.
Gestern, in der Stettenstraße mir gegenüber sitzend, rezitierte Michael Quast über die Gans hinweg diesen Kommentar zur aktuellen Finanzkrise:
Unser Schuldbuch sei vernichtet
Unbezahlt die ganze Welt!
Die verlieren nicht ihr Geld
Die das Unglück angerichtet!
Friedrich Stoltze, 1816-1891
Dave Dudley ist tot.
Montag, 19. Dezember 2011 – Zwölfuhrfünfzig, zweikommaeins. Heute Nacht erster Schnee.
Gestern Nachmittag kleines Glück in der Basilika von Ilbenstadt – von Martin Lücker beschert. Fröhlicher, heiterer habe ich das Esurientes aus Bachs Magnificat noch nie gehört als mit diesen Musikern und unter diesem Dirigat. – “Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen” – Und die Mezzosopranistin Alison Browner sah aus, wie ich mir Mary Poppins vorstelle. Warum eigentlich arbeiten, wenn man stattdessen solche Musik hören kann? Am Ausgang treffe ich dann Wolfgang R., den revolutionären Postboten, der seinerzeit keine Briefe mehr austragen durfte, weil er nicht Gewähr bot, jederzeit für diese freiheitliche undsoweiter … na, Sie wissen schon!
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine ganzseitige Anzeige mit dem Slogan: “Streame alle Musik der Welt wireless in jeden Raum”. Grübele lange, welche Strafe für einen solchen Satz wohl angemessen wäre?
Lektüre: Jane Eyre
Gerade lese ich, dass die wunderbare Cesaria Evora am Samstag gestorben ist.
Dienstag, 13. Dezember 2011 – Siebenuhrsechsundfünfzig, fünfkomma- eins. Wach seit halbfünf. Wieder in der Albaret gelesen.
Heute mal nur ein Link:
http://wearethe99percent.tumblr.com/
Und noch einer:
http://www.guardian.co.uk/news/datablog/interactive/2011/oct/18/occupy-protests-map-world?fb=native
Vor zwei Jahren starb Lester William Polsfuss, genannt Les Paul.
Montag, 12. Dezember 2011 – Elfuhrvier, siebenkommavier. Graue, schwere Wolken. Regen.
Am Samstag schüttere, aber gut gestimmte Demonstration durch die Innenstadt. Als es ans Händchenhalten geht, schere ich rasch aus, ist mir zu touchy. Überhaupt, die Stammesfolklore dieser Bewegung ist nicht mein Ding – muss ja auch nicht. Dann zwei schöne Stunden im Camp. Eine solche Ausnahmesituation, erzählt mir einer, habe keiner der Bewohner zuvor erlebt. Das Camp sei wie ein Fleischwolf, psychisch, physisch, emotional extrem aufreibend. Ein anderer klagt über die sanitären und hygienischen Bedingungen. Untragbar, sagt er und zeigt seine verbundene Hand. Er hat sich eine Blutvergiftung zugezogen. Später wird er um ein paar Euro bitten, um sich ein Ticket für die Straßenbahn kaufen zu können. Die Schmerzen sind stärker geworden, er will in die Notaufnahme der Uniklinik … Am Sonntag soll die große Versammlung sein, wo entschieden wird, ob und wie es mit dem Camp weitergeht. Werdet ihr durchhalten?, frage ich. Schulterzucken. Mal sehen. Alle sind am Rand ihrer Kräfte. Ausgang offen.
Gestern auf die Autobahn nach Kassel. Papas fröhliche Sause im Fasanenhof. Abends erfüllt und erschöpft retour.
Heute früh gleich ins Netz. Gute Nachricht: das Camp hält durch. Es soll, hat man beschlossen, ein wenig straffer, ein bisschen geordneter zugehen. “Mehr Protest, weniger Urlaub!” sei die Devise. Gut so. Erleichtert.
Es gibt so viele Gründe, Distanz zu dieser Bewegung zu halten. Warum bekomme ich dann sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich ein paar Tage nicht im Camp habe blicken lassen?
Janácek ist tot.
Freitag, 9. Dezember 2011 – Neunuhrzweiunddreißig, siebenkommafünf. Nieselig. Westwind.
Und was, wenn wir weiter gelebt hätten, ohne diese Musik zu kennen? – Wären wir schön doof gewesen, oder? – Gestern Abend Daniel Kahn and The Painted Bird auf der Bühne der Brotfabrik. Klezmer, Irish Folk, Walzer, Märsche, Punk, Latin Groove, jiddisch, englisch, deutsch – alles vermanscht und vermischt. Das schnurrt und grölt und röhrt und lacht und stampft und schleicht und schwingt. Sehr charmant ist das, sehr entschlossen, wütend, dreckig, lässig, zärtlich. Irgendwie kommen mir dieser Daniel Kahn und seine Musik … ja, wie kommt mir das eigentlich vor? Ziemlich kommunistisch. Doch, ja, ziemlich lustig und entspannt kommunistisch. Nee, nee, Leute, das ist schon das Beste, was es im Moment zu hören gibt. Zum Schluss tritt der Sänger an den Rand der Bühne, lächelt, hebt den Arm, ballt die Faust und fordert das Publikum auf: “Steht weiter auf verlorenem Posten!”
(Am 5. Januar 2012 wird hr2-kultur um 21.30 Uhr die Aufzeichnung eines Konzertes mit Daniel Kahn and The Painted Bird senden).
Heute vor einhundert Jahren wurde Ödön von Horvath geboren. Am 1. Juni 1938 hat ihn im Pariser Exil ein herabstürzender Ast auf den Champs-Élysées erschlagen. Und eben bringt hr2-kultur das schöne Gedicht, das man in der Jackentasche des Toten fand (Überhaupt ist das meiste Angenehme, das einem in dieser Region hier widerfährt, mit hr2-kultur verbunden – dass es mal gesagt ist).
Und die Leute werden sagen
In fernen blauen Tagen
Wird es einmal recht
Was falsch ist und was echt.
Was falsch ist, wird verkommen
Obwohl es heute regiert,
Was echt ist, das soll kommen,
Obwohl es heute krepiert.
Donnerstag, 8. Dezember 2011 – Elfuhrvierundvierzig, fünfkommavier. Leicht bewölkt, Wind aus Südwesten.
Gestern Abend lief in “kulturzeit” die 12. Folge von Michael Bubacks sogenanntem Stammheim-Tagebuch, in dem es um den Prozess gegen Verena Becker und um den Versuch von Buback junior geht, Licht in das Dunkel um den Mord an seinem Vater zu bringen. Nun könnte ein filmisches Tagebuch in vieler Hinsicht reizvoll sein, wozu es allerdings eines reflektierten Umgangs mit einer solchen Form bedürfte. Stattdessen sehen wir das Ehepaar Buback im simulierten Zwiegespräch durch den herbstlichen Wald bei Göttingen flanieren, wir sehen Buback vor Gericht, in der Kantine und im Theater. Wir hören ihn und seine Frau über den Lauf der Zeit und ungerechte Behandlung lamentieren und erleben, wie andere ihnen zustimmen. Schließlich umarmt sich das Paar noch einmal im sonnendurchfluteten Wald und freut sich darüber, dass man die schlechte Welt manchmal sogar vergessen könne. Was ist das? Ein Tagebuch ist es nicht. Mit seriösem oder gar Qualitätsjournalismus hat es auch nichts zu tun, mit Aufklärung schon überhaupt nicht. Dagegen viel mit einer Werbung für Protefix-Haftcreme.
Rubén González ist tot.
Donnerstag, 1. Dezember 2011 – Neunuhrfünfundzwanzig, dreikomma- fünf. Grau, aber lau. Im November neuer Besucherrekord in der Geisterbahn.
Das Interview mit Karl-Theodor zu Guttenberg ist Anfang der Woche in Buchform erschienen. Einer der ersten Rezensenten bei amazon wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es im Berchtesgadener Land an der Graflhöhe ein Ausflugslokal gibt, das den schönen Namen “Windbeutelbaron” trägt. Allerdings wurde dieser Kommentar, wie so viele andere muntere Verrisse der letzten Tage, inzwischen von der amazon-Redaktion gelöscht.
Heute in der Süddeutschen Zeitung eine Reportage über Trinkhallen im Ruhrgebiet, die andernorts Büdchen, Kioske, Wasserhäuschen heißen. Dort wird von einem typischen Dialog vor Ort berichtet:
Wat krisse?
Tüte Lakritz.
Wie gehts?
Muss.
Ein weiterer Höhepunkt der Volksdichtung stammt aus Martin Lückers westfälischem Poesiealbum: Durch den Wald, da fliegt ein Vogel: Dies wünscht Dich Deine Tante.
Am 1. Dezember 1948 starb gegen zwei Uhr morgens im australischen Adelaide ein unbekannter Mann an einem unbekannten Gift. Herkunft und Identität des so genannten Somerton Man konnten bis heute nicht geklärt werden.