April 2012
Sonntag, 22. April 2012 – Vierzehnuhrneun, dreizehnkommaneun Grad. Wind, Wolken, Wasser.
“Aber die knappen Zeilen, die Günter Grass unter der Überschrift ‘Was gesagt werden muss’ veröffentlicht hat, werden einmal zu seinen wirkmächtigsten Worten zählen. Sie bezeichnen eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ‘Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.’ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. (…) Es muss uns nämlich endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen, die sie im Jahr 2008 in Jerusalem gesprochen hat.”
(Holger Apfel, Bundesvorsitzender der NPD)
Richtigstellung: Anders als oben behauptet, stammt das Zitat nicht vom Bundesvorsitzenden der NPD, sondern von Jakob Augstein, Kolumnist bei “spiegel online” und Herausgeber der Wochenzeitung “freitag”.
Yoav Sapir, Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung “Ma’ariv”, kommentiert: “Grass hat eigentlich nur das geschrieben, was die Mehrheit in Deutschland seit Jahren denkt und fühlt. (…) Durch das Loch, das Grass in ihn gebohrt hat, bricht zusehends der Damm der politischen Korrektheit. Das Schlussstrich-Verbot ist dahin. Kein anderer als Walsers leiblicher Sohn, Jakob Augstein, hat es so explizit zum Ausdruck gebracht.”
Käthe Kollwitz ist tot.
Mittwoch, 18. April 2012 – Sechzehnuhreinunddreißig, zwölfkommasechs. Wolkig, sonnig, schaurig, aprilig.
Spiegel online enthüllt: “Tierfreunde ahnen es schon lange, jetzt scheint es bewiesen: Pferde sind wahre Meister im Erkennen von Menschen. Ein Experiment ergab, dass die Vierbeiner allein anhand von Geruch, Aussehen oder dem Klang der Stimme eine fremde von einer vertrauten Person unterscheiden können.”
Da muss die Frage erlaubt sein, anhand von was ein Spiegel-online-Redakteur sich von einem Vierbeiner unterscheiden kann?
Königin Elisabeth I. habe, so wird berichtet, von ihren Hoffräulein verlangt, “so jungfräulich wie möglich zu bleiben”, was nun wirklich eine hübsche Formulierung ist. – “To remain in virgin state as much as may be”.
Hoffmann von Hoffmanswaldau ist tot. Aber schon ziemlich lange.
Donnerstag, 12. April 2012 – Zehnuhrvierundfünfzig, siebenkommadrei. Alles zu.
Ist es eigentlich normal, in diesem Alter umgeben zu sein von ebenfalls in die Jahre gekommenen Freunden und Bekannten, Männern wie Frauen, die immer noch schwer an ihrer Herkunft zu tragen haben? Die von ihren Eltern, den Vätern öfter als den Müttern, vor Jahrzehnten tyrannisiert, gezüchtigt, gedemütigt, misshandelt, missbraucht, verlassen oder einfach ignoriert wurden? Seitdem, was sonst, hat das Leben der Kinder einen Knacks. Die Mütter und Väter sind zumeist längst gestorben, der Knacks ist geblieben und wird nun bis ins Alter hinein analysiert und therapiert auf Teufel komm raus. Und ob er nun rauskommt oder nicht, der Teufel, er arbeitet weiter. Vergällt den Töchtern und Söhnen bis heute das Leben, zerstört ihre Freundschaften und Ehen, macht sie nervös, säuerlich, verbittert, schlaflos, abergläubisch, depressiv, verrückt, krank, unzumutbar.
Und forscht man nach, was denn das für Eltern gewesen sein mögen, findet man heraus, dass es, die Väter öfter als die Mütter, Nazis waren, kleine oder große, solche oder solche – oder sich von den Nazis zumindest ermuntert fühlen durften, ihre schlechtesten Seiten als erwünschte auszuleben.
Was ja heißt, dass diese zwölf Jahre bis heute ihr Gift verbreiten – bis in jede Verästelung unseres Alltags, bis in die nächste und übernächste Generation. Immer neue Opfer produzierend, die zu immer neuen Tätern werden – solchen oder solchen.
Ist es angesichts dessen spinös, sich wenigstens einmal das Andere, Bessere, Schönere vorzustellen? Dass es nicht so gekommen wäre, wie es gekommen ist. Dass Deutschland eine Republik geblieben wäre, ein ziviles, unzerstörtes Land mit unzerstörten Städten und einer reichen jüdischen Kultur. Was wäre dann heute anders? Die Antwort dürfte sein: Alles wäre anders, fast alles. Wir hätte andere Zeitungen, andere Nachrichten, andere Debatten, andere Bücher, eine andere Kunst, ein anderes Theater, andere Tage, andere Nächte, andere Freunde.
Todestag von Heinrich Nordhoff, ab 1942 Wehrwirtschaftsführer, später mit allen Orden der Bundesrepublik ausgezeichnet.
Mittwoch, 4. April 2012 – Fünfzehnuhrdrei, vierzehnkommanull. Wolken.
Mit seinem als Gedicht bezeichneten Text “Was gesagt werden muss” ist Günter Grass wieder dort gelandet, wo er herkam und hingehört – an der Seite seines Volkes. Die so genannte linksliberale Weltpresse druckt heute diesen Text, und in den Internet-Kommentaren johlt die gebildete Leserschaft (hier: der “Süddeutschen Zeitung”):
“Recht hat er.”
“Die Antisemitismuskeule wird wieder geschwungen … Danke für Ihren Mut, Herr Grass!”
“Der Mann hat so was von Recht.”
“Recht hat er, aber da kommt gleich wieder die Nazikeule raus.”
“Danke Hr. Grass und Danke SZ, dass Sie den Mut haben, die Wahrheit so poetisch brillant auf den Punkt zu bringen.”
“Es wird langsam Zeit, dass wir uns aus dem Schatten der Vergangenheit lösen … Die Ausführungen von Herr Grass sind von daher nicht nur richtig, sondern auch ausgewogen.”
“Grass hat Recht. Das zeigt deutlich die Reaktion aus Israel und vom Zentralrat der Juden.”
“Getroffene Hunde jaulen halt auf, umso stärker, umso mehr.”
“Es ist an der Zeit, dass die Welt ihre Stimme erhebt … Eine dieser Stimmen ist Grass. Endlich.”
“Interessant ist übrigens, dass Volkes Stimme, soweit sie hier im SZ-Forum halbwegs repräsentativ ist, zu völlig anderen Ergebnissen kommt als die offiziellen Verlautbarungen.”
“Glückwunsch, Herr Grass, dass Sie aussprechen, was 80% unserer Landsleute denken.”
“Ich freue mich, dass Herr Grass so schreibt … Sagt man etwas, ist man antisemitisch.”
“Endlich – das Schweigen der deutschen Intellektuellen, Literaten, Künstler war und ist skandalös. Gott sei Dank, wagt Grass es endlich zu sagen, was längst überfällig ist und macht sich unabhängig von der Staatsräson des Schweigens und der allumfassenden Manipulation der nackten Kaiser mit ihrer Propagandaabteilung.”
“Ich kann diesen antisemitischen Zirkus langsam nicht mehr hören. Mein Opa hat keinen Juden getötet …, mein Vater nicht und ich kenne noch nicht mal einen.”
“Nobelpreis war gerechtfertigt – Ganz große Poesie. Ich habe geweint. Danke, dass wir so einen großen Dichter haben!”
“Unsere feige Politiker-Mischpoke schweigt, weil sie die Reaktion der (Rothschild-) Zionisten fürchtet.”
“Meine Meinung ist mein menschliches Geburtsrecht – Da ich niemals einem Juden jemals etwas angetan habe, habe ich alles Recht der Welt, Israel zu kritisieren, was ich hiermit tue.”
“Eine unberechenbare, labile Regierung wie die israelische kann sich die Welt jedenfalls nicht leisten.”
Wenn das Volk einer Meinung ist, will auch die Partei “Die Linke” nicht abseits stehen. Deren Bundestagsabgeordneter Wolfgang Gehrcke teilt mit: “Günter Grass hat Recht … Günter Grass hat den Mut auszusprechen, was weithin verschwiegen wurde.”
Am 4. April 1945 starb im KZ Mittelbau-Dora im Alter von 38 Jahren der französische Widerstandskämpfer Jean Burger .
Montag, 2. April 2012 – Neunuhrsiebenundzwanzig, fünfkommanull. Bedeckt.
Am Freitag landet auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses ein Graureiher, rutscht – bedächtig, wie es scheint – die Schräge hinab, bleibt einen Moment auf der Regenrinne stehen, schaut sich um, segelt dann auf die Rasenfläche des Gartens, schreitet hochmütig über den schmalen Weg zwischen den Häusern, erhebt sich schließlich flügelschlagend, um die Enge der Siedlung zu fliehen, ins Offene, den Himmel …
Am Samstag mit dem Mountainbike durch die Stadt. Überall Polizeifahrzeuge, Motorräder, Streifenwagen, zahllose Mannschaftswagen. Im Kaisersack vor dem Hauptbahnhof Fahnen, Menschen, viele dunkel gekleidet, ein Lautsprecherwagen. Breit grinsen wir uns an, als ich überraschend auf Alex treffe. Dann Jutta, die ich frage, wer denn eigentlich aufgerufen habe zu dieser Demonstration. Nun, sagt sie, die reformistischen Kräfte habe man fürs Erste absichtsvoll außen vor gelassen, einfach, um mal zu sehen, wie viele Leute man selbst auf die Beine bringe. Immerhin, einige Tausend sind es geworden, ein Aufgebot, gegen das die Occupy-Aktionen wie ein Streichelzoo wirken. Knallt auch bald. Andrea und Peter sind ebenfalls da, eine Weile sind wir beieinander, verlieren uns aber schließlich. Martialisch, die hochgerüsteten Massen vermummter Polizisten, die in bedrohlich schweigenden Kordons die Straßen säumen. Eine solche Kulisse entschlossener Staatsschützer dürfte die Stadt zuletzt im Mai 1990 gesehen haben – während der “Nie-wieder-Deutschland!”-Demonstration.
Tot seit einem Jahr: Marc Fischer.