Geisterbahn

November 2012

Montag, 19. November 2012 – Fünfzehnuhrzweiundzwanzig, neunkommavier. Schöne Sonne.

Es sind noch reichlich Plätze frei im Großraumwagen, aber ausgerechnet neben mich muss er sich setzen. Rasch hole ich den kleinen Edirol raus, stülpe die Koss Porta Pro über die Ohren, lasse den “Monsieur Ibrahim” laufen und schließe die Augen. Nein, ich suche keinen Kontakt, nein, ich will nicht angesprochen werden, nein, ich bin nicht da. Aber schon nach zwei Minuten stupst mich mein Nebenmann sanft an. – “Entschuldigen Sie vielmals die Störung … Ist das ein Diktiergerät?” – Mmmh, ja, und ein digitales Abspielgerät. – “Sehen Sie, so was suche ich nämlich. Wenn ich was zu schreiben hätte, würde ich mir die Typenbezeichnung notieren, aber vielleicht kann ich sie mir ja auch so merken. Ob Sie mich wohl mal schauen lassen …” – Ich schalte das Gerät aus, krame Stift und Zettel raus, schreibe alles auf und reiche ihm die Notiz. – “Und wenn Sie vielleicht auch gleich noch … Ich meine, der Kopfhörer gefällt mir ebenfalls sehr gut, sieht praktisch aus. Sie müssen wissen, ich bin nämlich oft auf Reisen …” – Okay! Okayokayokay, ich gebe auf. Er hat mich sowieso am Wickel. Er redet auf mich ein, nein, er quatscht mich voll, ohne Punkt und Komma. Er ist ein Schwabe, und Schwaben tun so was. Aber der hier ist verrückt, ein vollkommen wahnsinniger Wahnsinns-Schwabe. Ein Esoteriker, ein abergläubischer Bescheidwisser, ein Öko-Wirrkopf, ein Missionar seines Wahnsinns. Nachdem er mir erklärt hat, dass ich mich öffnen müsse für die Anderswelt, dass ich mein Gleichgewicht finden, meine Ernährung komplett auf rechtsdrehend umstellen, den Sternzeichen folgen, meine vergangenen Existenzformen kennen und unbedingt folgende Youtube-Videos ansehen müsse, stellt er mir endlich eine Frage, so dass meine Ohren Gelegenheit haben, kurz Luft zu schnappen. Ob ich den Kopp-Verlag kenne, will er wissen. – Moment, sage ich, sind das nicht diese antisemitischen Verschwörungstheoretiker? – Na ja, sagt er, das finde er auch nicht richtig. Niemand dürfe ausgegrenzt werden. Das nämlich sei ungesund. Der Jude gehöre zum Menschheitskörper dazu. Unter ganzheitlichen Gesichtspunkten würden schließlich auch die Bakterien eine wichtige Rolle spielen … – Was er von Beruf sei, will ich wissen. – Krankenpfleger, sagt er, sei er gewesen, aber das Gesundheitswesen sei bis auf die Knochen korrupt, bevölkert von gierigen Geschäftemachern, wohin man auch schaue. – Und, frage ich, was machen sie jetzt? – “Jetzt”, sagt er, “bin ich in der Immobilienbranche tätig”. Er wird es noch gehört haben bis tief in den Schwarzwald hinein, mein wahnsinniges Lachen.

“Mir passiert so was nie”, sagt Ch., als ich ihr die Geschichte erzähle. “Warum setzten die sich immer neben dich?”

Gestern war Marcel Proust tot.

Samstag, 10. November 2012 – Zehnuhrsechsundzwanzig, siebenkommasechs. Regen, grau.

Gestern, noch an- und aufgekratzt von der Lesung, ins Sofa gesunken. Auf dem Schirm Bettina Böttinger mit Gästen, denen es allen mal auf die eine oder andere Weise “ziemlich dreckig” ging. Tim Mälzer, Friedrich Schorlemmer, Doro Pesch, Nele Neuhaus, Uli Borowka und als Fachmann für den doofen Ernst: Reinhold Beckmann. Die Betonung liegt auf “ging”. Es ging ihnen mal dreckig. Sie waren mal krank, sie waren mal auf Droge, sie hatten mal einen Karriereknick, sie wurden mal von der Stasi gegängelt. Und jetzt? Jetzt haben sie das alles hinter sich gelassen. Jetzt geht es ihnen allen prächtig. Jetzt sitzen sie ja in der Talkshow bei Böttinger und Beckmann. Sie sind geläutert. Sie haben Gottvertrauen, sie denken positiv, sie glauben an sich, sie sind mit sich im Reinen. Sie haben neue Partner, neue Kinder, neue Bücher. Man kann ihnen nichts mehr erzählen; sie kennen sich aus. Jeder, der sie jetzt noch kritisiert, ist ein Neider. Da sind sie sich einig. Sie lächeln, sie nicken, sie grinsen – Jawohl, die Neider muss man ignorieren! Positiv denken!
Ist das noch Autosuggestion oder schon Ausdruck kollektiver Verblödung?

Heute vor drei Jahren hat sich der Torwart Robert Enke das Leben genommen. Hätte er nicht einfach nur “positiv denken” müssen?

Freitag, 2. November 2012 – Zehnuhrvier, achtkommasieben. Sonnig, blau und weiß und schön. Die ewigen Martinshörner in der Stadt.

Gestern um 18.30 Uhr durch den dunklen Hohlweg am Friedhof vorbei zur U-Bahn. Am Römer raus und über den Eisernen Steg. Dann drei laute Schüsse. Sie kommen von der anderen Mainseite, von der MS Wodan, wo die Dreharbeiten zur “Partitur des Todes” stattfinden. Ich soll mal durchs Bild laufen, hatte Lancelot gesagt. Okay, dann werd ich um neun wieder zu Hause sein. Hauptsache, ich darf Christians graue Kappe aufsetzen.
Was für ein Aufgebot, was für ein wuselnder Wahnsinn. Drei Polizeiwagen auf dem Uferweg, ein Rettungswagen, die Spurensicherung, ein Boot der DLRG mit Leuten in Leuchtwesten, ein Taucher, sprungbereit, die Wasserschutzpolizei mit einem Boot. Dunkel, überall Scheinwerfer. Über allem ein riesiger, von innen beleuchteter Ballon, der aussieht wie die überdimensionierte Ausgabe dieser alten, hässlichen Ikea-Pergament-Lampenschirme, die früher in den Wohngemeinschaften hingen. Und Leute, Leute, Leute. Kameraleute, Tonleute, Schauspieler, Komparsen, Schaulustige, Assistentinnen, Produzentinnen, Kabelträger, Best Boys, Catering, Security … Erkan soll ins Wasser springen, wird aber vorher fünfmal gedoublet. Köberlin, Jürgen Tonkel, Tim Seyfi. Und Lancelot, der in seiner dickwattierten Jacke wie Cebulon herumspringt, überall gleichzeitig ist, alle antreibt, ermuntert, korrigiert, lobt. “Das war prima, das machen wir gleich nochmal” ist der meistgehörte Satz des Abends. Regen, nasskalt. Hände und Füsse werden langsam taub. Immer, wenn jemand “Matthias” oder “Marthaler” ruft, recke ich den Kopf. Aber freilich: Matthias Köberlin ist gemeint.
Und als er einmal für einen winzigen Moment die Beherrschung verliert, ahnt man, was dieser Beruf an Zumutungen bereit hält. Das alles hat immer noch die Atmosphäre von “fahrendem Volk”, von Zirkus, von “Kinder des Olymp”. Lustig, anstrengend und manchmal herzzerreißend profan, tragisch, schön.
Endlich, gegen halbzwei, sind wir fertig. Einhundertundzehn Leute, die sieben Stunden lang gearbeitet haben. Das alles für vielleicht zwei Minuten im fertigen Film.
Zurück über den Eisernen Steg, über den Römerberg zum Frankfurter Hof. Taxi. Und im Bett noch ein paar Sätze in der französischen Ausgabe des “Monsieur Ibrahim et les fleurs de coran”.

Theo van Gogh ist tot, ermordet von Mohammed Bouyeri, der beim Prozess seinem Richter sagte, er dürfe jedem “den Kopf abhacken”, der Allah beleidige.