Geisterbahn

November 2013

Samstag, 30. November 2013 – Dreizehnuhrneunundfünfzig, fünfkommanull. Jetzt grau.

Knalldoof des Tages: Marc Beise, Leiter der Wirtschaftsredaktion der “Süddeutschen Zeitung”, widerspricht der päpstlichen Kritik am Kapitalismus, indem er auf die Segnungen der Marktwirtschaft mit dem Argument hinweist, dass es in Deutschland doch recht gut laufe, obwohl …: “Es gibt Not, auch in Deutschland; das Hauptarmutsrisiko tragen alleinerziehende Mütter. Sie sind die wahren Helden der Nation.” Steht wirklich so da.

Und das noch – als Frucht der Heine-Lektüre -, damit es mal gesagt ist: “Kunst ist der Zweck der Kunst, wie Liebe der Zweck der Liebe, oder gar das Leben selbst der Zweck des Lebens ist.” Aus einem Brief an Karl Gutzkow vom 23. 8. 1838.

Tot ist Kathy Acker – The Queen of Punk.

Mittwoch, 27. November 2013 – Dreizehnuhrzwei, minus zweikommasechs. Bedeckt. Gestern der erste Schnee, heute hält sich der dicke Raureif.

Irgendwo war dieser Tage zu lesen, dass der Vorsitzende der hessischen Grünen, Tarek Al-Wazir, sogar bereit sei, in einem Pyjama von Helmut Kohl zu schlafen, wenn ihm das dabei helfe, endlich Minister zu werden.

Die sechzehnjährige Tochter einer Freundin ist zum Schüleraustausch nach Südafrika geflogen. Eigentlich hatte sie gewünscht, in einer schwarzen Gastfamilie unterzukommen und auf eine schwarze Schule zu gehen. Beides hat man ihr verwehrt mit der Begründung, dass das alles so einfach nicht sei. Immerhin durfte sie jetzt die weiße Gastfamilie verlassen, deren Schäferhunde die Namen “Goebbels” und “Hitler” tragen.

Wenn ein Journalist dich fragt, wie es dir geht, musst du damit rechnen, dass er hofft, es gehe dir schlecht, weil er sich dann womöglich in Kürze ein paar Euro mit einem Nachruf verdienen kann.

Tot ist seit dem 27. November 1959 der Offizier Irnfried Freiherr von Wechmar, Teilnehmer an beiden Kriegen, lebenslanger Soldat, Träger verschiedener Kreuze und ab 1951 Chefredakteur der Zeitschrift “Soldat im Volk”. Man ist noch jetzt froh, ihm nicht begegnet zu sein.

Mittwoch, 13. November 2013 – Neunuhrachtundfünfzig, fünfkommavier. Bedeckt. Wach seit halbvier.

Gestern ist Maxim Billers kleine Novelle gekommen: “Im Kopf von Bruno Schulz”. Das einzig überflüssige an diesem Buch ist das Lesebändchen. So kurz und aufregend ist diese Fantasy-Story, dass ich, der ich Fantasy nicht mag, sie in der Nacht gleich zweimal gelesen habe, ohne zwischendurch ein Lesezeichen zu brauchen.
Der polnische Jude Bruno Schulz schreibt im Jahr 1938 einen Brief an Thomas Mann mit der Bitte, ihm bei der Veröffentlichung einer Geschichte zu helfen. Aber dieser Bruno Schulz scheint Gespenster zu sehen. Und als er ganz am Ende “ein riesiges, schwarzes, prähistorisches Insekt vorbeirennen” sieht, “dessen Füße wie Panzerketten klirrten”, begreifen wir, dass er die realen Gespenster der allernächsten Zukunft sieht. Und zugleich begreifen wir, warum es der Fantasy bedurfte: Wie anders hätte man über einen Mann schreiben sollen, der an einer irren Wirklichkeit irre geworden ist?
Thomas Mann und Bruno Schulz sind in dieser Geschichte nicht als historische Personen, sondern als von Maxim Biller erfundene Figuren interessant. Dass Biller heute eine solche Geschichte schreibt, sagt etwas darüber, wie er, Biller, als Jude in diesem Deutschland lebt. Wie seinen Bruno Schulz die Gespenster der Zukunft plagen, so plagen Biller die Gespenster einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Und das ist wirklich so irre wie wahr. Und keine schöne Diagnose für die deutsche Gegenwart.
Die Wirklichkeit in dieser Novelle ist ein Alptraum, und nur wenn Bruno Schulz träumt, entsteht so etwas wie Normalität: “Dann träumte er von Zürich, Paris und New York, wo es Hunderte, Tausende solcher verdorbenen, zarten Männer und Frauen wie ihn gab, die sich in Cafés, Parks und Bibliotheken gegenseitig zulächelten, winkten und durch leichtes, stummes Nicken Mut zusprachen.”
Ein Satz, so hinreißend, als habe ihn Anna Seghers geschrieben.
Maxim, wie geht es Dir?

Todestag von Karen Silkwood.

Sonntag, 10. November 2013 – Achtuhrfünfzehn, sechskommavier. Wolken.

Eine Meldung aus der deutschen Provinz schaffte es vergangene Woche in die Weltpresse: Die Kristallbad-Therme in Bad Klosterlausitz wirbt für “Die lange romantische Kristall-Nacht”. Ausgerechnet am 9. November. Da mag an einen Fauxpas glauben, wer das Volk nicht besser kennen will.

Sie lernen es nicht. Sie lernen das Wort nicht, weil sie in der Sache nichts gelernt haben. Welchen Sender man in den letzten Tagen auch einschaltete, fast immer war von der “Progromnacht” die Rede. Obwohl doch schon mein doofes Korrekturprogrom den Fehler erkennt. 

Heute auf Spiegel Online: “Fotostrecke: Vietnam in Angst vor dem Supersturm” – Zuckt noch jemand zurück vor dem geilen Voyeurismus einer solchen Zeile?

Miriam Makeba ist tot.

Sonntag, 3. November 2013 – Neunuhrfünfzig, zehnkommnull. Sprühregen. Erst um halbfünf aufgewacht. Und diesmal nicht aus Furcht vor den Tigern von Elke Heidenreich.

Kein Schlamassel der Welt ist zu groß, als dass ihn unsere Journalisten nicht klein kauen würden. Während das Mobiltelefon der Kanzlerin und die Badewanne eines Bischofs seit Wochen die Herzen und Mäuler bewegen, wären die paar hundert ertrunkenen Flüchtlinge vor der Küste von Lampedusa schon fast wieder vergessen, hätte sich dieser Tage nicht der kleine schwarze Junge an den Rockzipfel des Papstes geklammert und damit den Medien die Chance geboten, das zehntausendfache Verbrechen an den europäischen Außengrenzen zu einem Rührstück zu verharmlosen. Wie gut, beim Aufräumen die zwei Wochen alte “Süddeutsche” zu finden und dort noch einmal das Gespräch mit der Kulturanthropologin Sabine Hess zu lesen. Auf die Frage “Würde es dem Wohlstand von Ländern also nicht schaden, wenn die Grenzen geöffnet würden?” antwortet sie: “Natürlich würde sich einiges ändern, aber was heißt schaden? Es ist historische Verdrängung zu glauben, wir könnten einen Wohlstand, der aus jahrhundertealter Ausbeutung entstanden ist, einfach für uns behalten. Wir können nicht glauben, dass sich nichts ändert, wenn wir die Grenzen öffnen. Aber wir können auch nicht glauben, dass wir ein System, das auf Raub basiert, über Jahrhunderte militärisch sichern können. Die Toten im Mittelmeer zeugen von einem alten Krieg, der gerade unerklärt weitergeführt wird. Vielleicht ist dieses System jetzt an eine Grenze gekommen.”
Angenehm, jemanden so unumwunden sprechen zu hören. Wie selten das geworden ist.

Noch ein paar Trouvaillen:

In einem Brief vom 10. März 2009 an die Bischöfe der Katholischen Kirche sprach Papst Benedikt von einer “sprungbereiten Feindseligkeit”, die auch Katholiken gegen ihn hegten. Wenn schon sonst nichts, diese genaue Formulierung wird bleiben von ihm: “sprungbereite Feindseligkeit”.

Wenn die Franzosen sagen wollen, dass alles andere ein frommer Wunsch sei, sagen sie: “Le reste est littérature”.

Auf die bange Frage, was wohl kommen wird, antwortet Saramago mit einem wahrhaft lässigen Satz: “Danach, alter Freund, wie immer, die Zukunft.”

In ihrer Besprechung von Castorfs Münchner Céline-Abend gelingt der Theaterkritikerin Christine Dössel das hier: “Überhaupt haben hier alle Frauen ganz große Schlampenwürde.” Es gibt Worte, die man gerne selbst erfunden hätte. Neid.

Lektüre – Simenon: “Mon ami Maigret”; Hauschild/Werner: “Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Heinrich Heine. Eine Biografie”; Jutta Ditfurth: “Der Baron, die Juden und die Nazis. Reise in eine Familiengeschichte”.

Zwölfter Todestag des großen Ernst Gombrich.