Mai 2009
Donnerstag, 28. Mai 2009 – Fünfuhrsechsundzwanzig, zwölfkommaacht. Ist ja immer noch so windig. Bedeckt.
Eben, um kurz nach fünf, die Terrassentür geöffnet, raus in die Dämmerung gegangen, kleine Runde durch den Garten gedreht, rundum sind noch alle Rollläden unten, allein in der Welt, leise die Stadt, paar Vögel undsoweiter, einfach auf die Stockrosen geschaut, zehn Minuten lang, an nichts gedacht, nur stumpfsinnig gestarrt. Und dabei glücklich gewesen.
Tot ist Georg Popel von Lobkowicz … Der hieß halt so.
Montag, 25. Mai 2009 – Sechsuhrzwanzig, achtzehnkommasieben. Wach seit fünf. Wird heiß heute.
“Ich werde nicht älter, ich werde besser!” – Es muss schon nah an der Verzweiflung sein, wer ein T-Shirt mit solch einer Aufschrift trägt.
Samstag, 14 Uhr, zur Friedberger Warte mit dem Olmo. Gipetto, der die kleine Tour ausgerufen hatte, kommt nicht. Aber leuchtend wie die Sonne und immer schlanker werdend: Jörg. Die Friedberger runter, zu Gipettos Werkstatt. Ein Lämpchen brennt, das Gitter ist geschlossen. Wir klopfen und klingeln. Nichts. Also machen wir unsere Runde zu zweit: Depot, Wehrheim, zurück dieses hübsche Stück zwischen Saalburgsiedlung und Lochmühle hindurch. Nicht hübsch hingegen, was Jörg unterwegs zu erzählen hat. Und auch nicht, dass mir eine Speiche am Hinterrad bricht und ich den Rest der Strecke im Wiegetritt fahre, um das Gewicht nach vorne zu verlagern.
Schnell duschen, umziehen. Mit dem Wagen nach Bensheim. Uff, was für ein Prollkaff. Wir wollen noch eine Kleinigkeit essen, aber überall nur diese Schnellfressen mit Monoblockstühlen davor und ein Volk …
Im grauenhaft hässlichen Parktheater dann das wunderbar feine Quatuor Ebene mit Haydn, Debussy und Schubert. Inmitten der abonnierten grauen Honoratioren.
Sonntag um halbneun die Egelsbach-Tour “Rund um den Flughafen”. Mit dem schwarzen Stevens. Gut siebzig Kilometer. Flach, Erdbeeren Spargel. Spargel, Erdbeeren, flach. Es ist so langweilig, dass man sich wünscht, ein Flugzeug würde in die Felder stürzen … Schon gegen Mittag zurück. An den Schreibtisch.
Dann essen, dann wieder Schreibtisch, 20 Uhr die Auktion, das Scapin gehört mir: Spirit R 8 – nur der Rahmen samt Gabel. Das Projekt “Leichter Stahl” geht weiter …
Mit Bernd ins Musikzimmer. Erstes Herantasten an das Liebesprogramm. Als er mir dann das Elslein-Lied vorspielt und ich die Villon-Ballade darüber spreche, ist so ein erster magischer Moment erreicht. Und damit klar: Es wird gelingen. Und viel Arbeit sein.
Tot ist Sonny Boy Williams
Dienstag, 19. Mai 2009 – Vieruhrzweiunddreißig. Neunkommasechs. Die Autobahn …
Fünf nächtliche Selbstporträts … Was man alles machen kann, um sich vom Arbeiten abzulenken.
Damit es nicht verloren geht – Gestern hat Jörg ein schönes Kant-Zitat gepostet, das wahrscheinlich superberühmt ist, das ich aber nie gelesen hatte: “In der Mode sein, ist eine Sache des Geschmacks; der außer der Mode einem besonderen Geschmack anhängt, heißt altväterisch; der gar einen Wert darin setzt, außer der Mode zu sein, ist ein Sonderling. Besser ist es aber doch immer, ein Narr in der Mode als ein Narr außer der Mode zu sein, …”
Endlich auch die Briefstelle gefunden, in der Thomas Mann über das Sexuelle schreibt: “Das Ausrotten eines schlechten Triebes geschieht allerdings nicht plötzlich mit einem moralischen Aufraffen; das bedeutet garnichts, und man ist bei einem unvermeidlichen Rückfall nur desto verzweifelter. Es ist ein langsames, behutsames Schwächen und Abdorrenlassen des Triebes nötig, wobei alle möglichen intellectuellen Kunstgriffe mithelfen, die einem der Selbsterhaltungsinstinkt suggeriert. Schließlich ist man viel zu sehr homme de lettres und Psycholog, als daß man nicht nebenbei seine überlegene Freude an solcher Selbsthandlung haben sollte. Irgendwelches Verzweifeln wäre in Deinem Alter unsinnig. Du hast Zeit, und der Trieb zur Ruhe und Selbstzufriedenheit wird die Hunde im Souterrain schon an die Kette bringen.” (Aus einem Brief an seinen Freund Otto Grauthoff, 1896)
Mal gucken, wer tot ist … Oh ja, zum Beispiel Saint-Simon, Hawthorne, José Martí, Karl Radek, Charles Ives, Jacky Onassis, Hans Wollschläger …
Sonntag, 17. Mai 2009 – Vieruhrdreiundfünfzig, neunkommanull. Im Osten beginnt der Tag mit rotvioletten Schlieren am Himmel. Seit kurz nach vier wach, aber gut …
Gestern Ründchen durch die Wetterau. Über mir dräuen die Wolken, aber bis auf ein paar Tropfen bleibt es trocken. Auf der steilen Abfahrt nach Windecken merke ich wieder, wie sehr das Olmo flattert. In Bruchköbel Besuch bei P. und I. Dann heim, dann Forellen, dann wieder Stahl, Stahl, Stahl.
Ich befinde mich in diesem Tagebuch an Orten, an denen ich mich nicht befinde, begegne Menschen, denen ich nicht begegne, tue Dinge, die ich nicht tue. Das Ich, das hier schreibt, bin nicht ich. Dieses Tagebuch ist ein Roman. Steht ja auch drüber. In Romanen wird die Wahrheit erfunden und sind die Erfindungen wahr.
Wenigstens hat Wolfsburg …, wenigstens haben die Bayern nicht …
Heute ist Todestag von Johnny Guitar Watson. Lange nicht mehr gehört …
Montag, 11. Mai 2009 – Sechsuhracht, dreizehnkommafünf. Bedeckt. Wach schon wieder seit vier.
Gestern Morgen nach Hanau-Kesselstadt in die kleine Reinhardskirche. Hundert Meter davor begegnet mir Sascha, der noch eine Runde mit dem Hund dreht. Dann Tanja, Alissa. Peter liest zum ersten Mal aus seinem Roman “Die Ängstlichen”, der im September erscheinen wird. Und gleich hier nebenan in diesem verwinkelten Fachwerkviertel, in der Ankergasse, spielt das Buch. Es scheint, als sei P., nun, da das alles lange genug her ist, da er weit genug weg lebt, ganz bei sich und seiner Geschichte angekommen. Der Text hat eine unglaubliche Wucht, ist erfahrungs-, wirklichkeitssatt und gleichzeitig kunstvoll überformt. Wie auch sonst hätte diese Menge an Material bewältigt werden sollen. Am meisten rührt mich eine kleine ländliche Impression: Licht, Geruch, Luft, Kühe, Grün. Ich ahne: die Wahrheit sagen, gerecht und zugleich gnädig bleiben – das war wohl eine der Schwierigkeiten bei der Arbeit an diesem Buch.
Nachmittags mit Ati nach Offenbach in den Bücherturm – “Ein kleiner Abend Glück”. Ute, Oda, Volker, Frau Kulzer, Herr Buchholz – man sieht und spürt so viele wohlgesinnte (oder heißt es: wohlgesonnene?) Blicke, dass eigentlich nichts schief gehen kann. Geradezu taumelig gut klappt das Programm dann auch, nachdem letzte Woche bei der Probe noch so Vieles gehakt hat. Plaudern, CDs signieren, rasch packen …
Dann schnell in die Frankfurter Stadtbücherei – schon auf der Straße geht die Sonne auf: Lotte mit Hugo. Drinnen Wein, Brezel, Texte … Aber ich habe nun eigentlich einen richtigen, echten, großen Hunger … stattdessen weiter: Wein, Brezel, Texte. Und auch hier alles gut, vergnüglich, gelungen, Boehnke at his best, nur dass mich am Ende des Abends die Erschöpfung wie ein Hammerschlag trifft und ich mich ohne Abschied verdrücke und zum Taxistand schleiche.
Durch mit Irmtrud Wojaks “Fritz Bauer” – Man darf wohl sagen, dass es ohne den hessischen Generalstaatsanwalt keine maßgebliche juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen von Seiten der deutschen Gerichtsbarkeit gegeben hätte. Die Studentenbewegung wäre anders verlaufen, die geistige Geschichte der Bundesrepublik wäre anders verlaufen, hätte es diesen Mann nicht gegeben. Dass er unentwegten Schmähungen, Beleidigungen, Morddrohungen ausgesetzt war, versteht sich fast von selbst. CDU und FDP haben ihn, den remigrierten Juden, mit öffentlichen und nichtöffentlichen Kampagnen attackiert und aus seinem Amt zu drängen versucht. Und dann dieser grauenhaft einsame Tod in der Badewanne …
Philipp Müller ist tot.
Dienstag, 5. Mai 2009 – Zwölfuhrzwanzig, dreizehnkommaacht. Frisch, windig, bedeckt. Hoffentlich regnet es wenigstens, dass ich nicht auch noch gießen muss!
“Musst mal wieder bisschen öfter ‘Geisterbahn’ schreiben”. – Ja! Ja, doch! Ja, was denn noch alles? Kopf so voll, so leer, dass ich schreien möchte …
Freitag so durch die Stadt gezockelt mit dem Olmo. Friedhof, Joschi, Bahnhof, Römerberg. Treffe Jürgen mit zwei Schülern. Angenehm, wie respektvoll die drei mit einander umgehen. Wolfgang S. lädt Atilla und mich für den Herbst ins “Autorentheater” in die Brotfabrik ein. Sehr schön.
Abends bei den Metzlers. Gleich am Eingang Uwe getroffen, der seit vier Jahren dort arbeitet, wie er erzählt. Annette stellt mir Leo von Metzler vor. Großer, bescheidener Typ. Sehe Scharping im Garten stehen, wahrscheinlich sitze ich neben ihm, wegen Rennrad … Susanne Fröhlich sieht so aus wie sie heißt. Gucke weiter so rum beim Reden. Das Ganze hat so was Balzac-Flaubert-Goncourt-Pariser-Salon-mäßiges. Ist das etwa … das ist doch nicht etwa … Doch: Erika Steinbach … Sitze dann doch nicht neben Scharping, sondern neben der netten Gundula Gause. Eins weiter: Joachim Unseld. Und auch noch am Tisch: Müller-Vogg und Leisler Kiep. Was heißt eigentlich”illuster”? Spät mit dem Taxi heim.
Sonntag schöne, entspannte Ritzelrunde. C. macht sich lustig über unsere eitlen Kleidungs- und Geschmacksdebatten. Also bitte, man wird ja wohl … Die schwarzen Assos-Söckchen sehen doch wirklich scharf aus, oder. Und vorhin ist der neue Sugoi-Bib-Short gekommen. Fühlt sich gut an. Sitzt ganz schön stramm. Also: weiter abnehmen!
Gestern erste Textauswahl für das Liebesprogramm. Und eigenen langen Text geschrieben: “Brief einer Liebenden”.
Weiter an der Steuer. Die ganze Woche läuft die neue Dylan. “Forgetful Heart” ist zum Lieblingsstück geworden. Und auch weiter in dieser fantastischen Fritz-Bauer-Biografie. Eigentlich habe ich nie etwas Besseres über die verkommenen ersten zwanzig Jahre dieser Republik gelesen. Von wegen: Stunde Null.
Und während ich dort gestern Abend wieder auf den Namen Horst Schumanns stoße, sehe ich, dass dieser vieltausendfache Mörder, der hier nebenan beerdigt ist, aber hoffentlich nicht in Frieden ruht, heute Todestag hat.