Gesetze – Stefan Brockhoff
Stefan Brockhoff: Zehn Gebote für den Kriminalroman (1937, Zürcher Zeitung)
Eine Selbstanzeige von Stefan Brockhoff, dem Autor des in der nächsten Nummer beginnenden neuen Romans “3 Kioske am See”
Ein Kriminalroman ist ein Spiel. Ein Spiel zwischen den einzelnen Figuren Spiel zwischen Autor und Leser. Auf den ersten Blick scheint der Autor sehr im Vorteil. Er teilt die Karten aus und wacht eifersüchtig darüber, dass sein Partner nur eine ganz bestimmte Auswahl in die Hand bekommt. Aber gerade darum, gerade weil er wie ein lieber Gott die Lose schütteln und austeilen darf, sollte es ihm eine Pflicht sein, seine Leser beim Spiel nicht zu betrügen und gewisse Gesetze einzuhalten, ohne die jeder Kriminalroman zu einem unfairen Schwindel wird. Eine Tafel der Gebote und Verbote habe ich darum zusammengestellt, und ich vertraue sie den Lesern meines neuen Romans hiermit an, damit sie während des Spieles, zu dem wir uns jetzt zusammensetzen, auch prüfen können, ob fair gespielt wir oder nicht. Ich weiß, dass ich es mir damit schwer mache, denn ich lege mich auf Regeln fest, die ich einhalten muss und ohne die zu spielen viel leichter für mich wäre. Aber ich hoffe, so fair zu spielen, dass ich es wagen kann, mir auf die Finger schauen zu lassen. Also geben Sie acht, die 10 geboten des Kriminalromans werden jetzt offenbart:
1.
Alle rätselhaften Ereignisse, die im Verlauf des Romans geschehen, müssen am Schluss erklärt und aufgelöst werden. wenn am Anfang 10 Einbrüche, 20 Entführungen, 30 Morde vorkommen, so müssen am Ende 10 Einbrüche, 20 Entführungen m 30 Morde aufgeklärt sein. Haben Sie keine Angst, dass es bei mir so grausam zugeht. Aber das, was bei mir geschieht, findet seine Aufklärung – im Gegensatz zu einem gewissen Klassiker des Kriminalromans, bei dem das Dreifach passiert, dafür aber nur die Hälfte aufgelöst wird.
2.
Die Ereignisse, die vor dem Leser ausgebreitet werden, dürfen nicht nur dazu erfunden sein, den Leser irrezuführen. Alles, was geschieht, muss seinen berechtigten Platz haben im Gesamtgefüge des Romans. Wer Episoden erfindet, nur um den Verdacht des Lesers in eine falsche Richtung zu lenken, ist ein unehrlicher Spielpartner.
3.
Der Erzähler soll nicht um jeden Preis originell sein wollen. Wenn ein Mord geschieht, dann soll er mit den landesüblichen Mitteln geschehen, als das sind Revolver, Schießgewehr, Gift und andere schöne Errungenschaften des menschlichen Geistes. Es gibt Kriminalromanautoren, die sich Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrechen: Wie bringe ich jemand besonders originell um? Sie erfinden zu diesem Zweck geheimnisvoll-undurchsichtige Apparate, Todesstrahlen, abgerichtete Tiere und ähnliches. Es gibt eine Grenze, wo das Raffinierte schon wieder dumm wird.
4.
Der Täter soll ein Mensch sein, gewiss ein böser Mensch (im allgemeinen), aber immerhin ein Mensch. Er soll nicht überirdische Kräfte besitzen, nicht mit okkulten Mitteln arbeiten, sondern seine Taten so ins Werk setzen, wie das Menschen gemeinhin zu tun pflegen. Er soll nicht über unbegrenzte Möglichkeiten verfügen, nicht das rätselhafte Haupt einer 200köpfigen Bande sein, nicht der verkappte Chef eines riesigen Polizeiapparates, dem alle Mittel zu Gebote stehen. Auch auf geheimnisvoll unterirdische Gänge, prompt arbeitende Falltüren und ähnlichen romantischen Zauber soll der Erzähler tunlichst verzichten. Sonst macht der Autor es sich zu leicht und dem Leser zu schwer.
5.
Auch der Detektiv soll ein Mensch sein, gewiss ein geschickter und findiger Mensch, aber immerhin ein Mensch. Er soll weder Allweisheit noch Allgegenwärtigkeit besitzen, weil das Eigenschaften sind, über die ein Mensch im allgemeinen nicht verfugt, Um zu finden, muss er suchen, um aufzuklären, muss er sein menschliches Gehirn in Bewegung setzen. Ein Detektiv, der wie der liebe Gott alles schon vorher errät, der “zufällig” bei allem dabei ist, dem hundert Lichter auf einmal aufgehen, ist zwar eine imponierende Erscheinung, aber seine Eigenschaften sind zu schön, um wahr zu sein.
6.
Ein Kriminalroman soll den Kampf zwischen den listen Taten eines Verbrechers und den klugen, planmäßigen Überlegungen des Detektivs darstellen, der ihm auf seine Schliche kommt. Er soll hingegen kein Kriegsgericht sein, in dem Materialschlachten und Heeresbewegungen erzählt werden, in dem das Waffenarsenal ganzer Völker aufgeboten wird und die Leichen rechts und links nur so fallen. Spannend zu sein – das ist seine Aufgabe, aber spannend zu sein mit den sparsamsten Mitteln – das ist seine Kunst.
7.
Der Täter muss in dem Geflecht der Handlungen und Personen an der richtigen Stelle stehen. Der lese muss ihn kennen, aber er darf ihn nicht er-kennen. Er muss eine genügend große Rolle spielen, damit man für ihn und seine Taten auch Interesse aufbringt; er darf also nicht eine Figur sein, die völlig nebensächlich am Rande des Geschehens steht. Doch er darf andererseits nicht zu weit in den Vordergrund gerückt werden, weil er sich sonst zu leicht verrät. genau den richtigen Platz für ihn auszukalkulieren, das ist eine Hauptaufgabe des Autors.
8.
Nicht alles, was geschieht, kann in einem Kriminalroman gezeigt werden. Motive, Täter, Ausführungsmittel müssen meist im Dunkel bleiben, aber von allem, was geschieht, muss der Leser etwas erfahren, sei es den endgültigen Effekt, sei es irgendeine Folgewirkung, sei es irgendein Indiz, das auf die Tat hinweist. Nie darf etwas passieren, von dem der Leser erst ganz am Schluss in der Aufklärung erfährt, dass es überhaupt passiert ist. Gewiss, der Erzähler muss vieles verstecken, aber er darf es nie ganz verstecken, ein kleines Zipfelchen muss immer herausschauen.
9.
Der Autor soll seinen Leser nicht ermüden. Endlose Gerichtsverhandlungen, ausführliche Protokolle, umständliche Lokaltermine sind zu vermeiden. Was zur Kenntnis der Tatsachen unbedingt notwendig ist, muss natürlich seinen Platz haben, aber alles, was seinen Platz hat, muss für die Handlung und deren Auflösung wirklich unvermeidlich sein. Gewiss, der Leser wird während der Lektüre nicht immer ermessen können, was diese Szene oder jenes Gespräch für eine Bedeutung hat. Aber am Schluss muss er erfahren, dass es überhaupt bedeutsam war und in welcher Hinsicht.
10
Es ist wünschenswert, dass der Leser die entscheidenden Ereignisse wirklich vorgeführt bekommt und miterlebt. Er soll nach Möglichkeit das Gefühl haben, dass er bei allem dabei war. Nicht irgendeine Person in dem Roman soll ihm nachträglich erzählen, ob und wo etwas geschehen, sondern er soll diese Geschehnisse mit eigenen Augen sehen. Vermittelte Berichte wirken leicht langweilig und schwächen in jedem Fall die unmittelbare Wucht der Ereignisse ab. Der Leser soll die handelnden Figuren und deren Tun mit seinen Augen verfolgen können. Er soll nicht mitanhören, was man ihm erzählt, sondern mitansehen, was wirklich geschieht. Er soll dabei sein.
Das sind die 10 Gebote, nach denen wir spielen wollen. Ich hoffe, dass ich nicht gegen sie gefehlt habe. In meinem ersten Roman “Schuss auf der Bühne” gab es vielleicht noch einige Blindschüsse, aber mein zweiter “Musik im Totengässlein” spielte schon eine richtigere Melodie. Und jetzt hoffe ich, dass Sie mir für meinen dritten, “3 Kioske am See”, eine gute Note ausstellen können und dass Sie sich mit ihm so angenehm unterhalten, wie man das bei einem ehrlichen fairen Spiel zu tun wünscht. Passen Sie gut auf, und wenn Sie merken, dass ich gegen die Spielregeln sündige, beschweren Sie sich bei mir.
Zitiert nach: Friedrich Glauser – Wachtmeister Studers erste Fälle, herausgegeben von Frank Göhre, 1986, Zürich: Arche