Gespräch – Dieter Paul Rudolph
Ende März 2006 erscheint im Nordpark Verlag das umfangreiche von Dieter Paul Rudolph herausgegebene „Krimijahrbuch 2006“. Daraus hier als Vorabveröffentlichung die Langfassung des „Streitgespräches“, das der Herausgeber mit Jan Seghers geführt hat.
Jan Seghers / Dieter Paul Rudolph
Dann irren wir eben gemeinsam voran
Ein „Streitgespräch“
An Jan Seghers scheiden sich die Geister. Wen wundert’s, ist er doch „nur“ die krimigenre-gerechte Abspaltung des Literaten Matthias Altenburg. Unter dem nom de plume Jan Seghers hat der bis jetzt zwei Krimis veröffentlicht, „Ein allzu schönes Mädchen“ (2004) und „Die Braut im Schnee“ (2005), höchst erfolgreich übrigens.
Seinen ersten „faux pas“ leistete sich Seghers indes, als er einige Kolleginnen „unrasierte Stricher“ zieh, weil sie es gewagt hatten, sich für die Wahlkämpferin Angela Merkel zu engagieren (siehe dazu Ulrich Nollers Anmerkungen in der Abteilung „Buntes Intermezzo“ dieses Buches). Der zweite ließ nicht lange auf sich warten und hob die Entrüstung darüber ins Grundsätzliche. Im Gespräch mit Tobias Gohlis („Die Welt“, 03.12.05) stürzte Seghers den Krimiautor als künstlerisch tätigen Literaten vom Podest: „Der Kriminalroman ist eher ein journalistisches Genre. (…) ein kunstvolles Handwerk (…) da ich auch die andere Seite kenne, weiß ich, daß ich für 500 Seiten Kunst etwa zehnmal so lange brauche wie für 500 Seiten Krimi (…)“. Mit solchen Äußerungen macht man sich keine Freunde; Horst Eckert etwa nennt in seiner Replik (u.a. auf seiner Internetseite horsteckert.de nachzulesen) den klartextenden Seghers einen „Markenpiraten auf dem Surfbrett“, und dass einige – auffällig rothaarige – Damen den weiteren literarischen Lebensweg des allzu unschön fabulierenden Mannes mit spitzen Pfeilen im Köcher verfolgen, darf gemutmaßt werden.
Auch der Herausgeber dieses Jahrbuchs hat sich über diesen großmäuligen Seghers mokiert. Beste Voraussetzungen also für ein Streitgespräch. Würde man sich an die Gurgeln gehen? „Feme, was zögerst du?“ ausrufen und mit Fingern aufs Gegenüber weisen? Oder am Ende doch schiedlich-friedlich voneinander scheiden? Lesen Sie selbst.
dpr: Guten Tag, Herr Altenburg. Sagen Sie mal: Wie halten Sie es eigentlich mit diesem „Jan Seghers“ aus, den Sie anscheinend gelegentlich aus Ihrem Ich animieren, damit er Krimis schreibt? Ich stelle mir das schlimm vor. Sensibler Hochliterat und provozierender Genreprolet. Krimischreiben ist ja nur Handwerk, „Gartenarbeit“…
JS: Sie unterschätzen offensichtlich meine Ehrfurcht vor dem Handwerk und der Gartenarbeit. Wenn ich sage, der Kriminalroman ist keine Kunst, sondern ein kunstvolles Handwerk, dann will ich lediglich für ein wenig mehr Bescheidenheit plädieren. Um einen ordentlich gebauten Krimi zu schreiben, der seine Figuren ernst nimmt, muss man sich doch nicht zum Künstler nobilitieren. Der Roman als Kunstform schreibt immer die eigene Gattung fort. Der Krimi muss das nicht, vielleicht kann, vielleicht darf er es nicht einmal. Er gehorcht seinen eigenen Gesetzen, nämlich denen eines Unterhaltungsgenres. Selbst wenn ein Kriminalroman mit den sprachlichen Mitteln der Moderne arbeitet – mit Schnitten, Perspektivwechseln, Zeitsprüngen, inneren Monologen und so weiter – so benutzt er damit doch nur Formen, die bereits vor hundert Jahren erfunden wurden. Ich glaube, der Krimi taugt nicht zur Avantgarde, selbst wenn er modern sein will, ist er immer Avantgarde von vorgestern, Avantgarde zweiter Güte. Dass er umso mehr – auch sprachlich – die Sorgfalt eines gewissenhaften Handwerkers verdient, versteht sich von selbst. Gerade das Einfache ist ja, wie wir seit Brecht wissen, manchmal schwer zu machen. Ein Krimiautor macht es sich schwer, damit es seine Leser leichter haben – so hat es ein Freund mal gesagt. Kunst oder nicht, letztlich ist ein solcher Streit wohl spitzfindig, aber – wie man sieht – trägt er eine Zeit lang zur Unterhaltung bei.
dpr: Was einen Streit über Kunst oder nicht Kunst betrifft, stimme ich Ihnen zu. Aber ist es nicht so, dass auch der heutige „ganz normale Roman“ als „Avantgarde von vorgestern“ daherkommt? Sprachlich profitiert doch ein Gegenwartsroman – ob nun Krimi oder nicht – von Verdiensten unserer Großväter und –mütter. Was ihn über das Handwerk hinaus erhebt, ist die Summe seiner Einzelteile, also Sprache, Handlung, Dramaturgie, Atmosphäre, Personenzeichnung. Man mag diese Summe nun „Kunst“ nennen oder wie auch immer – aber worin unterscheidet sich dann ein solcher Roman von einem Krimi? Entweder ist auch ersterer „nur“ gutes Handwerk oder letzterer doch ein wenig mehr als das.
JS: Freilich, auch das, was sich in der Highbrow-Literature den Namen Kunst gibt, hat ihn in den seltensten Fällen verdient. Überhaupt ist ja “der Roman” – noch dazu der immer mal wieder gefragte “große Roman” – ein arg in die Jahre gekommenes Modell. Und es ist die Frage, ob sich diese Form, nach den unzähligen Kniefällen, die sie vor dem Zeitgeist gemacht hat, überhaupt noch eignet, einen neuen Blick auf die alte Welt zu werfen. Ich jedenfalls lese schon seit langem lieber Tagebücher, die keine andere Dramaturgie kennen als die des Lebens ihrer Autoren. Die Journale von Cesare Pavese, Knut Hamsun, Sandor Marai, Rainald Goetz und Hermann Peter Piwitt haben mir in den letzten Jahren jedenfalls weit mehr Freude gemacht als die meisten Romane. Aber der Markt und die Verlage verlangen von den Autoren ausschließlich: Romane. Also wird der alte Gaul weiter geritten. Oder man schreibt Roman drauf, obwohl etwas anderes drin ist. So ist es mir einmal ergangen. Ich hatte mit meinem Verleger eine Novelle verabredet und habe diese auch geschrieben, aber als sie dann gedruckt war und ich auf den Umschlag schaute, hielt ich angeblich einen Roman in der Hand. Aber all die postmodernen Rettungsversuche haben ja auch nur dazu geführt, dass sich der Roman ganz der Simulations-Maschinerie eingegliedert hat. Er ist Teil der medialen Verblödungsoffensive geworden.
Da sehe ich nun die große Chance des Krimis. Ich halte ihn eher für eine journalistische Gattung als für eine literarische. Er ist so etwas wie eine Großform der Reportage. Die Medien haben sich ja vollkommen aus der Wirklichkeit verabschiedet. Hier springt der Krimi in die Presche. Er hat das Zeug, Wirklichkeitsforschung zu betreiben. Er stillt unseren Hunger nach Realität und weckt ihn zugleich immer aufs Neue. Der Krimi glaubt nicht an die These, dass die Welt zu unübersichtlich geworden ist, um sie zu erkennen. Er lässt die gesellschaftlichen Widersprüche kollidieren. Im Verbrechen wird die Welt bis zur Kenntlichkeit entstellt. Der Krimi besteht auf der alten Dichotomie von Oben und Unten. Dabei ist er gleichzeitig in der Lage, alle Facetten zu zeigen, alle Zwischentöne hörbar zu machen. Aber er lässt sich nichts vormachen: Die einen stehen im Dunkeln, die andern stehen im Licht. Es gibt Täter, es gibt Opfer, es gibt Nutznießer, es gibt Schuldige. Die einen leben vom Elend der anderen. Auch wenn der arbeitslose Ingenieur, der seine Familie meuchelt, in einem höheren Sinne unschuldig sein mag, dann sind eben jene schuldig, die den Mann entlassen haben. Das nenne ich das realistische Potential des Krimis.
dpr: Wenn Sie über Romane, Medien und Wirklichkeit sprechen, kann ich Ihnen leider nicht widersprechen. Wohl aber, was das angeblich Journalistische des Krimis angeht. Ein Journalist hat ja, wenn ich das kurz und grob zusammenfassen darf, vor allem zwei Aufgaben: möglichst sachlich Tatbestände wiedergeben und seine Meinung sagen. Beides, wenn’s geht, so getrennt, daß ich als Leser unterscheiden kann, was Tatsache ist und was Meinung. So wenigstens die Theorie. Und das leisten Krimis? Ich weiß nicht… Schön finde ich Ihren Satz „Im Verbrechen wird die Welt bis zur Kenntlichkeit entstellt.“ Der könnte von mir sein. Aber wird nicht genau dadurch die „alte Dichotomie von Oben und Unten“, mithin die von Gut und Böse, ad absurdum geführt? Besteht die Unkenntlichkeit der Welt nicht gerade darin, daß sie uns jenes scharf voneinander Getrennte als „Wirklichkeit“ verkaufen möchte? Während es doch weitaus unschärfer ist, was da so stattfindet zwischen den Menschen? Gut, Sie sprechen von den Facetten, den Zwischentönen, und vielleicht sind wir uns hier doch näher als es scheint. Aber gesetzt den Fall, das wäre das realistische Potential – sind solche Krimis nicht ein Minderheitenprogramm? Liest die Mehrheit nicht ganz etwas anderes, nämlich die – handwerklich vielleicht gar nicht mal schlechten – vorgestanzten Muster a la „Wer wars“? Und, soviel Provokation muss sein: Glauben Sie, daß Ihr offensichtliches Vorbild Henning Mankell so großen Erfolg hätte, wenn seinen Krimis nicht ein sehr schlichtes Weltbild zugrunde läge, das der Leser nur abzunicken braucht?
JS: Nochmal zum Verhältnis von Krimi und Journalismus: Das Geschäft der Medien besteht heute vor allem darin, durch eine Anhäufung von Fakten die Wahrheit zu verdecken. Die Wirklichkeit wird so lange differenziert, bis wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Gleichzeitig wird alles Politische so lange personalisiert, bis wir unser Weltbild mit der Fernsehsprecherin Petra Gerster auf den schönen Satz reduzieren können: „Ein schwarzer Tag für Hans Eichel“. So wird – unter dem Vorwand zu informieren – Dummheit erzeugt.
Andererseits haben wir alle die Erfahrung gemacht, dass ein Roman, dass ein Bild, dass ein Musikstück so wahrhaftig sein kann, dass wir dadurch stärker berührt werden als durch die Wirklichkeit. Etwas Erfundenes kann wirklicher sein als die Wirklichkeit selbst. Das ist es, was ich unter Realismus verstehe. Es gibt ein journalistisches Element, das unserer Literatur, vielleicht aus guten Gründen, abhanden gekommen ist, das aber bei Balzac, bei Flaubert, bei Maupassant und Zola, bei Dickens, bei Stevenson, bei Jack London und B.Traven noch da war. Jetzt fehlt es. Jetzt muss, jetzt darf der Krimi diesen Platz besetzen. Vielleicht verrenne ich mich mit meinem Vergleich zwischen Reportage und Krimi, vielleicht irre ich mich. Das ist aber nicht schlimm. Ich will gar nicht Recht behalten. Dann irren wir eben gemeinsam voran.
Ich habe Mankell nie mein Vorbild genannt. Ich habe sogar anfangs einen ganz starken Affekt gegen ihn gehabt. Aber es ist so leicht, sich über Mankell zu mokieren, ihm seine Fehler nachzuweisen. Seine Bücher sind voll davon. Trotzdem kommt mir diese Front der Kritiker, die sich gegen Mankell geeinigt hat, falsch vor. Etwas stimmt daran nicht. Genau wie an meinem anfänglichen Widerstand etwas nicht stimmte. Es war ein wohlfeiler, besserwisserischer Widerstand. Er war so selbstgefällig schweinchenschlau. Ich wollte aus lauter Selbstgerechtigkeit nicht sehen, was dieser Autor für den europäischen Krimi geleistet hat. „Mörder ohne Gesicht“ ist ein wirklich schwacher Roman. Aber ist diese Szene am Anfang nicht enorm, wie dieser alte Bauer frühmorgens neben seiner Frau im Bett liegt und merkt, dass etwas in der Nachbarschaft nicht stimmt, weil das Pferd nicht wie sonst wiehert? Oder wer könnte je den Tatort im „Mittsommermord“ vergessen, jene Schonung, in der die Leichen der kostümierten Jugendlichen gefunden werden? Ein so starkes Bild muss einem erstmal einfallen. Andere haben schon für weniger den Nobelpreis bekommen. Mag sein, dass Mankell ein schlichtes Weltbild hat. Aber Céline war ein dumpfer Antisemit und trotzdem einer der größten Romanciers des 20.Jahrhunderts.
Ich bin für einen ästhetischen Pluralismus. Wenn ich neue Formen brauche, um das zu erzählen, was ich erzählen will, dann benutze ich sie. Aber das Formale ist im Krimi kein Selbstzweck. Für die Kunst ist l’art pour l’art letztendlich die Bestimmung, jedenfalls – wie Hanns Eisler meinte – in einer freien Gesellschaft. Für den Krimi aber nicht. Er definiert sich durch seinen Inhalt, in welche raffinierte oder schlichte Form dieser dann auch immer gebracht wird. Deshalb glaube ich auch, dass der Whodunnit das Grundmuster bleibt, ebenso wie die befriedigende Auflösung des Falles. Gerne soll es alle Abweichungen von dieser Regel geben, jede Spielart ist erlaubt, aber alle Varianten leben davon, dass die alte Regel bis heute nichts von ihrer betörenden Kraft eingebüßt hat.
Wie man sich gegen Mankell geeinigt hat, so hat man sich auf Hammett und Chandler geeinigt. Auch da möchte ich Bedenken anmelden, auch da sollte man mal revidieren. In unserer lustigen Wohngemeinschaft haben wir vor 25 Jahren sämtliche Romane dieser beiden Autoren gleich mehrmals hintereinander gelesen. Sie gehörten bis vor kurzem unhinterfragt zum Olymp meiner Krimigötter. (Und selbstverständlich haben wir damals die Dialoge von „Casablanca“ auswendig gekonnt). Bis ich vor einiger Zeit versuchte, sie wiederzulesen und es einfach nicht mehr konnte. Dieser verkrampfte Lakonismus, diese selbstverliebten Pointen, dieser Verlierer-Hochmut, diese ganze hard-boiled-Attitüde war mir nicht mehr geheuer – und ich bin ein wenig entsetzt, mit welch bequemer Selbstverständlichkeit sich alle Welt auf diese beiden Autoren beruft. Aber bitte, keinen neuen Streit! Wiederum möchte ich nicht die Verdienste der beiden für die Erneuerung des Krimis schmälern – und weit schlimmer sind natürlich ihre heutigen Epigonen – ich will nur sagen: Sie waren groß zu ihrer Zeit, aber lasst uns weitergehen!
dpr: Was Sie über bestimmte Bilder und Szenen bei Mankell sagen, kann ich durchaus nachvollziehen, gerade „Mörder ohne Gesicht“ betreffend. Aber meine Abneigung gegen ihn bleibt, weil – und hier wären wir wieder am Ausgangspunkt – er sein Handwerk nicht ernst nimmt. Bei Jan Seghers hat man diesen Eindruck auch, wenn er etwa behauptet, Krimis zehnmal schneller zu schreiben als „normale Literatur“. Ich kann mir das, ehrlich gesagt, überhaupt nicht vorstellen. Da sitzt Matthias Altenburg und ringt mit der Sprache – und fünf Minuten später rasselt Jan Seghers eine Krimischwarte runter. Jetzt mal etwas überspitzt formuliert. Dieser Punkt ist es ja auch, der einige Ihrer Kollegen auf die Palme gebracht hat, Horst Eckert vor allem, der Sie „Markenpirat auf dem Surfbrett“ nennt und schreibt: „Es bleibt jedem Schriftsteller unbenommen, von sich zu behaupten: Ich kann nur Handwerk. Hut ab, wenn einer, wie es Jan Seghers über sich sagt, mit Beschränkung auf einfaches Handwerk nicht nur „zehnmal schneller„ schreibt als früher, sondern nebenher auch seinen Erfolg verzehnfacht hat. Das ist zweifellos auch eine Kunst. Doch mir dreht sich schier der Magen um, wenn ausgerechnet Seghers die alte Kamelle wiederkäut, ein Krimi sei prinzipiell nur Handwerk – also kein Vergleich mit „guter„ Literatur. Damit setzt er nicht nur das beliebteste belletristische Genre herab, sondern beleidigt seine Leser.“ Hat er nicht recht? Ist Jan Seghers am Ende gar kein Autor, sondern nur ein Zusammensetzer von Versatzstücken, ein Austeiler von vorgefertigten Leckerlis für anspruchslose Leser? Und ist es nicht so, dass jedes literarische Werk, auch ein Krimi, seine angemessene Sprache braucht und also hier wie da ein sprachlich sensibler Autor am Werk sein sollte?
JS: Legen Sie mich doch bitte nicht auf dieses „Zehnmal-schneller“-Zitat fest. Ich habe das auf der Buchmesse während eines Gesprächs mit dem verehrten Tobias Gohlis gesagt. Hätte ich gewusst, dass dieses Gespräch gedruckt wird, so hätte ich einen solch leichtfertigen Satz sicher gestrichen. Nun ja, jetzt ist er in der Welt, dann müssen die Welt und ich wohl mit ihm leben. Für meinen nächsten Marthaler-Roman quäle ich mich seit einem halben Jahr durch tausende Seiten Auschwitz-Protokolle, ohne noch ein Kapitel geschrieben zu haben. Im Buch selbst wird die Deportation der Frankfurter Juden dann nur noch als Hintergrund eine Rolle spielen. Trotzdem will ich mir da keine Lässigkeiten erlauben. Nennen Sie das einen sorglosen Umgang mit dem Krimi und der Recherche?
Sie sagen es ja selbst: Jeder Roman sollte die ihm angemessene Sprache finden. Ausgerechnet vom Genre des Kriminalromans formale Originalität zu fordern, halte ich für unsinnig. Für den Krimi gilt das alte Motto der Chikago School und der Bauhaus-Künstler: „Form follows function“. Der Krimi lebt von der Kunst der Variation. Jetzt habe ich es also doch gesagt: Kunst.
Der kluge Thomas Wörtche hat einmal am Beispiel Simenons nachgewiesen wie ein Autor bewusst einen sehr viel kleineren Wortschatz verwendet als den, der ihm zur Verfügung steht. Für den Autor des Maigret war der sprachliche Minimalismus ein ästhetisches Prinzip. Er wollte gelesen und verstanden werden. Das halte ich nicht für ehrenrührig. Im Übrigen darf man sich an das schöne Wort Albert Einsteins halten: „Man soll alles so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher!“
Vielleicht mache ich mir ja mal die Mühe und formuliere für das Krimijahrbuch 2007 meine „Zehn Gesetze des Kriminalromans“. Aber das Geschrei, das darauf ertönen wird, höre ich schon jetzt.
dpr: Darüber lässt sich reden… Nebenbei: „sprachliche Feinarbeit“ heißt ja nicht zwangsläufig, in die große Kiste der blumigen Formulierungen und Schachtelsätze zu greifen. Au contraire. Begrenzung ist auch eine Kunst. Bei dieser Gelegenheit: Man hört, die ersten Seiten Ihrer „Braut im Schnee“ seien eine Paraphrase von Kafkas „Die Verwandlung“. Hat da der Literat Altenburg dem Krimischreiber Seghers mutwillig ins Handwerk gepfuscht? Könnten Sie mir erklären, was Sie damit erreichen wollen? Und vor allem: WEN? Die Kafka-Exegeten?
JS: Es stimmt schon, die Verknappung ist eine sprachliche Möglichkeit. Aber ich habe in meiner Arbeit als Kritiker so viele apodiktische Urteile gefällt, so viele apodiktische Forderungen gestellt – und bin später so oft von der Praxis widerlegt worden, dass ich mir inzwischen ein wenig Vorsicht angewöhnt habe. „Die messerscharfe Präzision“ eines Textes, die gerne gelobt wird, halte ich inzwischen nicht mehr unbedingt für ein Qualitätsmerkmal. Ebenso wenig das „Offene“ oder gar die „Subversivität“. Auch Geschlossenheit und Redundanz haben ihre Berechtigung.
Dass ich den Anfang der „Braut im Schnee“ dem Anfang von Kafkas „Verwandlung“ nachgebildet habe, war nichts als ein Scherz. Für mich und für jene, die es merken. Solchen Anspielungen und Verrätselungen gehören doch zum Spaß eines Autors dazu. Ein Leser, der es nicht erkennt, hat nichts verpasst. Jene, die es erkennen, haben ein kleines Extra-Vergnügen.
dpr: Hm, ich habe es zu meiner Schande nicht erkannt, und das spricht unbestreitbar gegen den Arno-Schmidt-Dechiffrierer in mir… Zum Abschluss möchte der Herausgeber eines Krimijahrbuchs aber denn doch wissen, was Herr Seghers so von der 2005er Produktion seiner in- und ausländischen Kollegen hält. Was gefiel? Was eher nicht? Wo geht’s hin – und wo hoffentlich niemals?
JS: Oh je, Sie bringen mich in Verlegenheit. Im vorigen Jahr war ich der Lektüre so überdrüssig … Gelesen habe ich immerhin drei der letzten Bücher meines Lieblings Michael Connelly: „The Closers“, den ich sehr empfehlen kann. „The Narrows“ (auf Deutsch: Die Rückkehr des Poeten), den ich grauenhaft spekulativ finde – wie schon den Vorgänger „The Poet“, leider Connellys berühmtestes Buch. Und gerade bin ich bei „The Lincoln Lawyer“, kann mir aber noch kein Urteil erlauben. Es wird wohl eher zwiespältig ausfallen. Deutsche Krimis aus der laufenden Produktion lese ich aus Prinzip nicht, weil ich befürchte, dass einer der Kollegen womöglich soeben das Buch geschrieben hat, an dem ich gerade arbeite. Was ich mir wünsche? Gerade beneide ich die Künstler der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts um ihre lustigen kleinen Boheme-Grüppchen. So etwas würde mir Spaß machen: ein wilder Haufen von Autoren, Fotografen, Musikern, Malern, Filmemachern, der dem herrschenden Kulturbetrieb eine Nase dreht und noch mal so tut, als könne man die Welt verändern, wenn man Handstand auf einem Brückengeländer macht. Den Namen habe ich schon: Wir heißen „Partisanen der Schönheit“.