Geisterbahn

Gespräch – Eva-Marie von Hippel

“Mankell hat uns befreit”

Eva-Marie von Hippel, Programmchefin von Rowohlt/Wunderlich, im Gespräch mit Jan Seghers 

 

Was ist interessant an einem schrecklichen Verbrechen?

Oh, aber alles. Verbrechen sind die Abenteuer unserer Gesellschaft. Für einen Autor gibt es kaum einen interessanteren Stoff. Ein Spaziergänger findet eine Leiche im Wald. Mit dieser Ausgangssituation können Sie alles erzählen. Der Krimi berichtet von Verbrechen und Leidenschaften. Insofern funktioniert er wie die Romane Balzacs. Im Krimi hat der Gesellschaftsroman überlebt. Vielleicht ist er die einzige Form, in der man heute noch Gesellschaftsromane schreiben kann. Und unser Bedürfnis, sich klar zu werden über die Welt, in der wir leben, ist ungebrochen.
 

Sie haben unter Ihrem Echtnamen Matthias Altenburg Romane, Geschichten und Reportagen geschrieben. Warum jetzt ein Krimi? Und warum unter Pseudonym?

Ich habe Hunderte, wahrscheinlich Tausende Kriminalromane gelesen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, alle guten zu kennen. Da konnte es kaum ausbleiben, dass ich Spaß daran bekam, selbst einen Krimi zu schreiben. Und ich dachte: Als richtiger Krimiautor brauchst du ein Pseudonym, also gab ich mir eins und merkte, dass ich mich wohl damit fühle. Zum Krimi gehört eben auch die Verstellung, die Maskerade, das Versteckspiel. 

Gibt es Vorbilder?

Ich bin ein begeisterter Leser amerikanischer Kriminalromane. Früher las ich Hammett und Chandler, dann James Ellroy und Thomas Harris. Auch ein paar der frühen Bücher von John Grisham. Jetzt lese ich am liebsten Michael Connelly, den ich überhaupt für den Größten halte. Dennoch glaube ich nicht, dass sich die amerikanischen Muster auf  Europa übertragen lassen. Alle Versuche, die amerikanische Tradition zu kopieren, sind unbefriedigend geblieben. Der Alltag, das Lebensgefühl und nicht zuletzt der Polizeiapparat sind zu unterschiedlich. Es wirkt immer ein wenig lächerlich, wenn die deutschen Detektive die Füße auf den Schreibtisch legen und die Verlierer-Posen der Chandler-Helden imitieren. Die coolen Sprüche, der angestrengte Lakonismus und der Boheme-Gestus haben sich in den letzten zwanzig Jahren doch sehr abgenutzt.

 

In welcher Tradition steht stattdessen Ihr Hauptkommissar Robert Marthaler?

Ganz eindeutig in der Tradition der europäischen Ermittlerfiguren, wie sie von Simenon, Dürrenmatt und Sjöwall/Wahlhöö erfunden wurden. Und gar nicht hoch genug einzuschätzen ist die Leistung Henning Mankells für die Erneuerung des europäischen Kriminalromans. Er hat uns befreit vom Zwang, die Amerikaner zu kopieren. Als ich Mankell las, wusste ich: So geht’s. Er ist einer der wenigen, die das Genre ganz und gar ernst nehmen, die nicht versuchen, es ironisch zu brechen. Mankell – das ist die Entdeckung der Langsamkeit für den Kriminalroman. Wohlgemerkt einer Langsamkeit, die der Spannung zugute kommt. Nach dem alten dramaturgischen Motto: “Make them wait!”

 

Hauptkommissar Robert Marthaler ist ja ein ziemlich durchschnittlicher Mensch!?

Ja, aus guten Gründen. Ein Ermittler muss immer auch eine mittlere Figur sein. Als Leser müssen wir uns mit ihm vergleichen können. Außerordentlich sind ja schon die Situationen, in die wir mit ihm geraten. Eine bizarre Figur nutzt sich ab, eine mittlere Figur bleibt immer interessant, weil wir ständig neue Facetten an ihr entdecken können. Wie an uns selbst.

 

Sie mögen die Bezeichnung ‚literarischer Krimi’  nicht?

Ach, eigentlich interessiert mich die Frage, ob etwas ‚Kunst’ oder ‚Literatur’ ist, gar nicht besonders. Ich lese gerne gute Bücher, die mir auf interessante Weise etwas über die Welt und die Menschen erzählen, das ist alles. Aber Sie kennen vielleicht die Anekdote, dass Georges Simenon angeblich nächtelang nicht schlafen konnte, wenn man einem seiner “Maigrets” nachgesagt hat, das sei ja richtige Literatur. Er versuchte, alles ‚Literarische’ zu tilgen. Ich glaube ganz einfach, dass noch zu viele deutsche Krimiautoren ein etwas gehemmtes Verhältnis zum Genre haben. Dass sie sich nicht trauen, die Gesetze des Krimis zu erfüllen. Sie wollen immer zeigen: Eigentlich bin ich ein Künstler, ein Dichter. Aber ein Krimi-Leser will nicht den Virtuosenstückchen des Autors applaudieren, er will mit solidem Handwerk gut unterhalten werden. Allerdings: Es kommt jedem Buch zugute, wenn sein Autor sich in der literarischen Tradition auskennt.

 

Gibt es einen Leitsatz für Ihre Arbeit?

Wenn, dann den: Du darfst deine Leser nicht langweilen! Es gibt ja nur eine begrenzte Zahl von Verbrechen und Motiven. Der Krimi variiert diese immer aufs Neue. Ändern tun sich die Umstände und die Menschen. Deshalb ist der 
Kriminalroman offenbar unsterblich, er erneuert sich alle paar Jahre.  Es gibt zwei Dinge, die für die Qualität eines Kriminalromans sehr wichtig sind: Erstens die genaue Kenntnis der Schauplätze. Immer wieder fahre ich mit dem Fahrrad die Orte ab, versuche die Atmosphäre, den Geruch einzufangen. Und zweitens die genaue Kenntnis der Figuren. Man muss versuchen, den Menschen auf den Grund zu gehen. Psychologische Genauigkeit, interessante Figuren sind das A und O.

 

Wie erklären Sie sich den Erfolg der sogenannten Regio-Krimis?

Ein Krimi ist an Zeit und Ort des Verbrechens und seiner Aufklärung gebunden. Er muss gut geerdet sein. Und natürlich gut geschrieben. Dann allerdings ist es mir egal, ob er in einem irischen Dorf oder in einer Großstadt wie Frankfurt spielt. Entweder sind alle Krimis regional oder keiner. Eigentlich ist der Begriff Regio-Krimi ein wenig unsinnig.

 

Welche Rolle spielt die Recherche bei der Arbeit am Krimi?

Neugier und Sachkenntnis sind unabdingbar. Ich lese täglich die Pressemeldungen der Polizei, lese kriminologische Fachliteratur über Ermittlungstechniken, Obduktionsverfahren und Tatortuntersuchungen. Außerdem durchforste ich ständig das Internet nach Berichten über reale Verbrechen. Eine wahre Fundgrube dafür ist die amerikanische Crime Library, wo sowohl historische als auch aktuelle Fälle mit unendlich vielen Details dokumentiert sind. Aber die Recherche hat ihre Grenzen. Als ich zu Beginn der Arbeit an “Ein allzu schönes Mädchen” mit dem Pressesprecher der Frankfurter Polizei sprach, habe ich rasch festgestellt, dass ein allzu großes Detailwissen über den oft eintönigen Polizei-Alltag meine Phantasie gebremst hätte. Im Zweifel muss man auf Seiten des Lesers, auf Seiten der Spannung stehen. Ein verschrobener, aber erfundener Kriminalist, der in einem Kellerverließ hockt und dort seine Katze füttert, ist eben interessanter als ein langweiliger Techniker in einem kalten Labor.

 

Das heißt?

Das heißt: Ein Krimi muss nicht real, er muss realistisch sein. Er muss nicht wahr, aber wahrscheinlich sein. Romane sind immer erfundene Wahrheit. Zum Nutzen und Vergnügen der Leser.