Geisterbahn

Gespräch – Jürgen Lentes

Kriminalromane sind Nachrichten aus der Wirklichkeit

Aus einem Gespräch mit Jürgen Lentes, erschienen in “junge welt”, Oktober 2005

 

jl: Mit welchem Namen wollen Sie angesprochen werden? Mit Matthias Altenburg oder mit Ihrem Pseudonym Jan Seghers?

 

JS: Sie dürfen es sich aussuchen. Ich suche mir im Gegenzug aus, ob ich mich angesprochen fühle. 

jl: Aber Sie können für beide sprechen?

 

JS: Ja, denn es ist ja ein Pseudonym, mit dem ich mich nicht vor der Öffentlichkeit verstecke, sondern dass ich brauchte, als ich meinen ersten Kriminalroman schrieb. Ich hatte das Gefühl, in eine andere Haut schlüpfen zu müssen. Und das hat funktioniert. Es war eine kreative Notwendigkeit.

jl: Die Kritik hat den ersten Kriminalroman um Hauptkommissar Robert Marthaler mit den Wallander-Krimis von Henning Mankell verglichen? Ist Ihnen das recht?

 

JS: Es kommt mir vor wie eine übergroße Ehre. Ohne Mankell wäre ich nicht in der Lage gewesen, einen Krimi zu schreiben. Ihn zu lesen, war für mich wie eine Befreiung. Er hat den europäischen Krimi erneuert wie kein anderer Autor. Er hat uns vom Zwang befreit, die Amerikaner zu kopieren. Ich schätze die amerikanischen Kollegen zwar sehr, bin aber der Meinung, dass man unter europäischen Verhältnissen anders schreiben muss – eben eigenständig.

jl: Irgendwelche Empfehlungen anderer lesenwerter Krinimalautoren?

 

JS: Der Größte ist für mich seit Jahren Michael Connelly, ein ehemaliger Polizeireporter aus Los Angeles. James Ellroy mag ich in Maßen. Ab und zu lese ich den Schotten Ian Rankin. Und immer mal wieder auch die Bücher von Dürrenmatt, von Simenon, von Sjöwall/Wallhö. 

jl: Welchen Stellenwert hat heutzutage das Genre des Kriminalromans für Sie?

 

JS: Mir scheint, Krimis sind die letzte Möglichkeit, Gesellschaftsromane zu schreiben. Es gibt einen unglaublichen Hunger nach Wirklichkeit. Seit die Medien sich ganz und gar der Simulation verschrieben haben, haben die Leser den Krimi als Möglichkeit entdeckt, sich endlich wieder mit realistischen Geschichten zu versorgen. Gelungene Krimis sind Nachrichten aus der Wirklichkeit.


jl: Die Ihnen offensichtlich nicht passt?

 

JS: Unsere Art zu wirtschaften ist durch und durch kriminell. Und ich bin – um mit Franz Josef Degenhardt zu sprechen – zu den herrschenden Verhältnissen in einem Maße dissident, dass jede politische Äußerung von mir wie die eines Außerirdischen klingen würde. Ersparen Sie mir dergleichen also.

 
jl: Fürchten Sie nicht, dass der Krimi, durch die geradezu inflationär anmutende Vielzahl an Büchern und Filmproduktionen irgendwann einmal zum Opfer seiner selbst wird?

 

JS: Der Krimi ist ja immer nur das Skelett eines Romans. Aus den paar denkbaren Kapitalverbrechen werden jedes Jahr tausende Kriminalromane und ebenso viele Filme gemacht. Entscheidend für deren Qualität ist, was der Autor sonst noch zu erzählen hat. Ob seine Figuren interessant sind, ob seine Geschichten uns etwas Aufregendes über die Welt zu berichten haben. Insofern: Nein, der Krimi boomt seit zweihundert Jahren. Und mit jedem guten Krimi, den man liest, wächst der Hunger auf den nächsten.


jl: Ist das Lokalkolorit, in Ihrem Falle ja Frankfurt und Umgebung, nicht nur ein bißchen Staffage? Wie die Autokennzeichen es in den Serienkrimis im Fernsehen sind? Oder soll es mehr sein?

 

JS: Es geht nicht um Lokalkolorit. Jeder Roman, jeder Film hat seine Schauplätze. Es ist vollkommen egal, ob ein Krimi in Paris, Los Angeles, in der Oberpfalz oder eben in Frankfurt spielt. Wichtig ist nur, dass der Autor seinen Ort kennt, dass er sich in seiner Umgebung bewegt wie ein Fisch im Wasser. Nur so entsteht ein Geruch, eine Atmosphäre, nur so entstehen glaubwürdige Geschichten. Ich gebe alles daran, meine Schauplätze so zu beschreiben, dass die Leser sie vor sich sehen. Wenn mir das gelingt, werden auch jene ihren Spaß daran haben, die nie in Frankfurt waren. Sie werden das Gefühl haben, die Stadt zu kennen. Entsprechend hat es mich gefreut, als ich hörte, dass es inzwischen Touristen gibt, die auf den Spuren meines Kommissars durch Frankfurt und die Wälder der Umgebung streunen.  

jl: Sie nehmen das Genre des Kriminalromans ja ernst. Ist deswegen der Krimi für Sie eine ironiefreie Zone?

 

JS: Ein Krimi muss verständlich, spannend, vielschichtig und realistisch sein. Man ist es den Lesern schuldig, das Genre ernst zu nehmen. Literarische Kunststückchen haben da wenig zu suchen. Der Autor darf nicht ironisch mit dem Genre spielen; die Leser würden ihm das sofort verübeln. Natürlich darf es ironische, witzige Figuren geben. Aber ich werfe jeden Krimi in die Ecke, wenn ich merke: der Autor hat ein schlüpfriges Verhältnis zu Verbrechen und Gewalt. Oder wenn ich merke, er will mir nur beweisen, welch geschickter Sprachkünstler er ist. 

jl: Serien-“Helden” wie Marthaler bieten die Möglichkeit, die Entwicklung einer Hauptfigur aufzuzeigen?

 

JS: Ja. Die Menschen, die ich beschreibe, müssen beim Lesen lebendig werden, es dürfen keine Marionetten sein. Als Autor muss ich jede Figur mit gleicher Zuwendung bedenken – auch die scheinbar kleinen Nebenfiguren. Ich muss diese Menschen kennen, muss mich auch von ihnen überraschen lassen und muss zugleich darauf achten, dass man ihren Handlungen und Gedanken folgen kann. Und Hauptkommissar Marthaler ist so eine Figur, die ich ein wenig kennen gelernt habe, auf die ich aber auch immer wieder neugierig bin. Ich habe ihn auf die Beine gestellt, jetzt hat er Laufen gelernt. Und ich bin gespannt, wohin er mich noch führen wird. Also: Neben den Schauplätzen ist die Figurenpsychologie der zweite wichtige Faktor.

jl: Dann wäre der dritte wichtige Faktor die Geschichte und der Plot, das Rätsel?

 

JS: So ist es. Wohl bei keinem anderen Genre ist die Story so wichtig. Sie muss einerseits klar genug und jederzeit nachvollziehbar sein. Andererseits sollte sie voller Rätsel und Überraschungen stecken, um die Leser immer wieder bei der Stange zu halten. Das heißt, sie muss ein Maximum an Konflikten enthalten. Sie muss immer wieder die Neugier auf die nächste Seite wecken. Und der Leser muss gespannt bleiben auf das Ende, die Auflösung.

jl: Die Kriminalromane um Robert Marthaler werden ja auch als Hörbücher eingelesen. In Miroslav Nemec haben Sie, denke ich, einen herausragenden Sprecher gefunden.

 

JS: Das kann man wohl sagen. Nemec ist ein so wunderbarer und uneitler Interpret, der sich den Ton und die Haltung meiner Romane ganz und gar anverwandelt hat. Ein Glücksfall, für den ich unendlich dankbar bin.

jl: Ich glaube mich zu erinnern, dass der Leser Matthias Altenburg neben seiner Leidenschaft für Kriminalromane sich auch lange Zeit im erzählten Kosmos von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ aufgehalten hat. Und das mit lang andauernder Begeisterung.

 

JS: Ach, wissen Sie, Proust ist ein solch beglückender Gigant, dass man ihn gar nicht in einem Atemzug mit dem Unterhaltungsgenre des Kriminalromans nennen mag. Es gibt wohl keinen anderen Autor, der so sehr seine eigenen Gesetze geschaffen hat. Jeder Versuch, ihn einzuordnen, schlägt fehl. Bei allem, was man über seine Art zu schreiben sagen würde, müsste man sofort innehalten und das Gegenteil ebenfalls bedenken. Ich kann wohl behaupten, dass ich selten in meinem Leben so glücklich war wie in dem halben Jahr meiner ersten Proust-Lektüre. Und ich beneide jeden, der dieses Vergnügen noch vor sich hat. 

jl: Die neue, bei Suhrkamp erschienene, revidierte Übersetzung mit dem herausragenden Motiv- und Stellenkommentar, ist ja nicht hoch genug zu loben.

 

JS: Wohl wahr. Hier hat man den seltenen Glücksfall, dass ein hochkompetenter Herausgeber sich ganz aufgegeben hat für das von ihm edierte Werk. Es ist ebenso hilfreich wie vergnüglich, sich von ihm immer wieder bei der Hand nehmen zu lassen bei der Reise durch Prousts Werk. Es ist eine unendliche Entdeckungsreise.

jl: Zurück zu Ihnen. Wo bleibt der Schriftsteller, Kolumnist und Kritiker Matthias Altenburg in Zukunft? Wird es von ihm wieder einen Roman geben? 

 

JS: Dass Altenburg als Romancier im Moment schweigt, liegt wohl nicht zuletzt an der Lektüre Prousts. Man wird bescheiden vor diesem Gott. Er hat die Möglichkeiten abgeschritten.


jl: Sie haben sich einen Namen als jemand gemacht, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es gilt, Stellung zu beziehen zum ästhetischen Flachsinn oder zur verkoksten Gesellschaft. Einst nannte man Sie den „Ballermann von Bornheim“. Hängt Ihnen das nach? Erwarten die Medien von Ihnen, dass Sie immer mal wieder den „Kaspar“ machen?

 

JS: Ja, und ich bin zunehmend unwilliger, es zu tun. Jeder provokatorische Impetus ist mir abhanden gekommen. Man füttert ja doch nur eine Meinungsmaschine, die sich am Ende jedes Mal selbst neutralisiert. Lieber verschanze ich mich in meiner Wagenburg. Allerdings, ich gebe es zu, lasse ich mich gelegentlich hinreißen, doch noch die eine oder andere Salve abzufeuern. 

jl: Gibt es Äußerungen von Ihnen in diesem Zusammenhang, die Sie heute gerne ungeschehen machen würden? Wo Sie denken, da habe ich mich geirrt?

 

JS: Die gibt es sehr wohl. Aber ich werde den Teufel tun und sie hier wiederholen. Ich bin froh, dass über manche Dummheit der Vergangenheit inzwischen Gras gewachsen ist. 

jl: Und gibt es Einwürfe, die Sie auch damals schon nicht scharf genug formuliert haben?

 

JS: Sie können mal davon ausgehen, dass man allein aus Unwissenheit oder aus Feigheit zu oft zu freundlich zu den meisten Menschen ist. Andererseits muss ich gestehen, dass ich gerne freundlich bin. 

jl: Günter Grass hat versucht, auch Sie vor den Wahlkampfkarren der SPD zu spannen. Sie können zwar nur für sich sprechen, aber glauben Sie, ein „freier“ Schriftsteller demontiert sich mit solchem „Engagement“?

 

JS: Günter Grass hat nicht versucht, mich vor irgendeinen Karren zu spannen. Er hat freundlich anfragen lassen, ich habe freundlich abgelehnt. Schriftsteller sind im Durchschnitt politisch nicht klüger oder dümmer als andere Berufsgruppen. Und ich selbst habe nie einen Hehl aus meiner politischen Haltung gemacht. Allerdings bin ich nicht bereit, diese Haltung öffentlich zu diskutieren. Oder sie gar im Rahmen einer Talk- oder anderen Show von den dort zu Wort kommenden Plappermäulchen in Frage stellen zu lassen.   


jl: Haben wir das Wahlergebnis bekommen, das wir verdienen?

 

JS: Freilich, das ist immer so. Sonst wäre das Ergebnis ja ein anderes. Aber: was heißt hier: „wir“. Ich finde, ich habe verdient, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Demokratie nicht vor den Toren der Produktionsstätten endet. Ich würde gerne unter allseits freien, entspannten Menschen leben, die sich der Welt und ihrer selbst bewusst sind und die über die Werte, die sie schaffen, auch selbst verfügen können.

jl: Vielleicht noch eine Frage zur aktuellen „schöngeistigen“ Literatur: für welche Autoren würden Sie gerne an dieser Stelle eine Lanze brechen?

 

JS: Immer wieder lese ich gerne die Bücher von Piwitt, von Gerd Fuchs und von Uwe Timm. Ich mag es einfach, wenn Leute ihr Handwerk verstehen, ohne auf dem Markt allzu laut zu schreien. Und Ian McEwans „Abbitte“ war für mich eine der angenehmsten Überraschungen der letzten Jahre.

jl: Matthias Altenburg, Jan Seghers, ich bedanke mich bei Ihnen beiden für das Gespräch.