Samstag, 19. Oktober 2013 – Neunuhrneunundvierzig, achtkommasechs. Obenrum richtig was Sonne.
Harald Rüssel ist ein Koch mit gutem Ruf und einem Stern. Seit 1992 betreibt er das “Landhaus St. Urban” in Naurath, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Trier.
Jürgen Dollase ist ein sogenannter Gastrokritiker, hat aber auch schon Musik gemacht und gemalt. Letzteres kann er nicht verhehlen.
Dollase hat bei Rüssel gegessen und im Feuilleton der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” über den Koch geschrieben. Nämlich so:
Ganz allgemein tut man bei ihm gut daran, sich Kompositionen wie seinen überragenden ‘Coq au Vin’ trotz der ohne weiteres identifizierbaren Elemente – von Brust über Sot-l’y-laisse bis zu den Versammlungen von Gartengemüse – nicht zu konkret vorzustellen.
Warum das? Würde uns andernfalls schon jetzt der Appetit vergehen, den uns der Kritiker durch sein verbales Gefuchtel auf jeden Fall verderben wird? Würden wir gar ein Versammlungsverbot für das Gartengemüse fordern?
Es schmeckt auf eine subtile Art und sozusagen klassisch, ohne aber typische klassische Geschmacksbilder zu nutzen. Grund dafür ist die Suche nach einer eigenen Palette, die Rüssel anders betrieben hat als zum Beispiel viele Jungkreative.
Nein, das ist zum Beispiel nicht die Parodie, sondern das Original selbst, das jetzt mit Austern, Blumenkohl und Pumpernickel seine Palette weitertreibt:
Diese Elemente werden nun mit den für Rüssel oft typischen, leicht rustikalen Aromen kombiniert, die einerseits im eher assoziativen Bereich wunderbare Bodenständigkeit installieren, andererseits aber von der Sensorik her sehr fein eingesetzt sind.
Jetzt, da die Aromen ausreichend Bodenständigkeit installiert haben, will auch die Palette mal wieder … Ja, was?
Doch hier kommt nun der oft nicht sichtbare, aber immer schmeckbare Aspekt der aromatischen Palette zum Tragen.
Ach so, ja: der Aspekt der Palette will zum Tragen kommen. Oder doch eher zum Anlehnen?
Die aromatische Palette darf man sich dabei durchaus in Anlehnung an die Malerei vorstellen. So, wie dort oft eine bestimmte Auswahl von zum Beispiel Rot-, Gelb-, Grün- oder Blautönen das Gesamtbild …
… zum Beispiel: verschmiert? Nein:
prägt, ist dies analog auch in der Kochkunst möglich.
Wenn dann die Auswahl die Kunst analog geprägt hat und es uns gelungen ist, selbst die
wirkungsvoll getrockneten Brotelemente
zu schlucken, werden wir hoffentlich genügend Phantasie entwickelt haben, uns vorzustellen, dass es sogar
weit auseinanderlaufende Zusammenstellungen
gibt und diese
nicht nur tragen, sondern den Ausdruck einer großen Freiheit und Selbstverständlichkeit haben.
Welche annähernd so groß sein müssen, wie die Hoffnung des Autors, seinen Lesern ungestraft einen solchen Stuss andrehen zu können. Denn …
… wenn es denn so funktioniert, wird vieles möglich.
Wenn nicht alles. Zum Beispiel, dass Herr Dollase künftig die Leitung des FAZ-Feuilletons übernimmt? Nein, noch mal Glück gehabt:
Wenn es denn so funktioniert, wird vieles möglich – auch die Kalbsbrust, … die ohne jede Grobheit in aller Feinheit daherkommt.
Dann wird vielleicht sogar möglich, dass der Gastrokritiker, dem der Stift schon lange zu kurz geworden ist, endlich wieder in aller Grob- oder Feinheit seinen Pinsel auspackt, um uns fortan nicht mehr mit der Palette des Rüssels behelligen zu müssen.
Sehr gut möglich auch, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass Jürgen Dollases Texte in der Journalistenschule in einem Ordner gesammelt werden, der die Aufschrift trägt: “So nicht!”
Vor zwei Jahren gestorben ist Jean Jülich, Edelweißpirat.
Dienstag, 15. Oktober 2013 – Elfuhrsiebenundvierzig, elfkommavier. Wolkig.
Täglicher Morgengruß unter Nachbarn im Bistum Limburg: “Un, was mächt’n de Teebatz?”
TEuersterBischofAlleRZeiten
Ein Auszug aus der Geisterbahn vom 11. Oktober 2010, geschrieben nach einer Lesung in Limburg vor genau drei Jahren: Auffällig, wie erbost man hier allseits über den Bischof ist, der als Nachfolger von Kamphaus seit knapp drei Jahren das Bistum in Besitz hat. Eine seiner ersten Amtshandlungen, mit denen er Furore machte: Er relegierte einen Dekan, der ein homosexuelles Paar getraut hatte. Wenn eine solche Demonstration der Macht kein Ausweis charakterlicher Verkommenheit ist, was dann? Jetzt, heißt es, setze er sich “dort oben” auch noch “einen Palast” mit eigener Kapelle hin.
Wäre ich ein leidlich liberaler Katholik, würde ich selbstverständlich die Absetzung des lügenhaften Bischofs fordern. Und gehen wird er ja nun auch müssen – so oder so. Es ist also geschafft. Was also soll noch der tägliche wohlfeile Furor, mit der die Presse auf ihren Seiten einen Mann versucht zur Strecke zu bringen, der sich doch längst dorthin gebracht hat. Kann man nun nicht ablassen von diesem frühvergreisten Bübchen, das vielleicht wirklich krank ist, jedenfalls aber sichtlich überfordert? Würde unsere Journaille doch nur mit der Hälfte des hier gezeigten Eifers die riesigen Privatvermögen der Reichsten, die gigantischen Vorstandsgehälter in den großen DAX-Unternehmen geißeln. Als sei dieses Geld nicht zusammengeräubert.
Und wunderbar gelungen, nach allem, was man bislang gesehen hat, ist der neue Bischofssitz ja wirklich – oder, wie ein ungenannter Architekturkritiker sagte: “Wenn ein Haus so schön geworden ist wie das neue Limburger Diözesane Zentrum, dann darf dafür auch mal ein Bischof über die Klinge springen.”
Am 15. Oktober 1975 starb der Stoßtruppführer und Schriftsteller P.C. Ettighofer (“Gespenster am Toten Mann”). Er war ein Rassist und ein wütender Antisemit, der die Pogrome gegen die Juden begrüßte. Seit 1980 ist in Euskirchen eine Straße nach ihm benannt.
Donnerstag, 26. September 2013 – Achtzehnuhrvierundvierzig, siebzehnkommaneun. So richtig sonnig kann man das nicht nennen.
Heute Trauerfeier für Reich-Ranicki auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Vierzehnuhrdreißig, noch eine halbe Stunde Zeit. Überall schwarzgewandete Security-Gorillas mit Knöpfen in den Ohren – laufen rum, lauernd, energetisch, raumgreifend, flüsternd. Vor der Trauerhalle ein kleines Carré, abgesperrt mit gelbschwarzem Plastikband, darin die Fotografen und Kameraleute. Es wird gelacht, aber leise, mit schlechtem Gewissen.
Wie es sich für den ungeladenen Chronisten geziemt, mische ich mich unter die wenigen Zaungäste, die auf den Stufen stehen und den Eingang beobachten. “Ist das der Gauck?” – “Nee, der Gauck ist kleiner und kommt mit dem Auto.” – Der Kritiker Karasek betritt das Gelände, wehenden Rockes, breit, teigig, unübersehbar. In meiner Umgebung erkennt ihn niemand. Volker Hage, grau, unbekannt, keiner fragt ihn was. – “Ist das die Frau Radisch?” Nee, sage ich. Aber eine halbe Minute später kommt sie und ich sage: Das ist die Frau Radisch! – “Im Fernsehen sah die immer so zierlich aus.” Tja. – “Guck ma, der Gottschalk.” – “Ja, Mensch, klar, da isser ja. Mensch, der Gottschalk und der Dings, der Dings, wie heißt er noch, der Herausgeber?” – Schirrmacher. – Peter Feldmann kommt, der Oberbürgermeister, zu Fuß, vielleicht mit der Straßenbahn, bescheiden wie der neue Papst und weiß nicht recht, wohin mit sich. Dann die ersten beiden Limousinen. “Der Gauck, der Gauck?” – Nein, sage ich, das ist Salomon Korn. – “Ach so, der von der Dingsbums-Gemeinde”. – Zwei weitere Limousinen. Bouffier. “Eingetroffen, der Ministerpräsident”. Lässt sich brav fotografieren. Tut ein wenig so, als sei es ihm unangenehm. Wendet sich schließlich brüsk ab. Gehört wahrscheinlich dazu. – Es ist kurz vor drei. Der Polizist direkt vor uns zückt sein Telefon: “Noch drei Minuten”, sagt er leise. Man hört schon die Martinshörner. Dann wieder schwarze große Autos, wieder springen schwarze Gorillas raus. “Eingetroffen”, sagt der Polizist in sein Telefon, “der Präsident”. Peter Feldmann begrüßt sie alle, bemüht um Haltung, aber sein Gesicht zuckt vor Überforderung. Interessant, was für ein mimisches und gestisches Gerangel stattfindet auf diesen Ebenen.
Die hundertfünfzig offiziellen Gäste sind drinnen in der Trauerhalle. Wir wenigen hier draußen sind die Inoffiziellen und hören die Reden über Lautsprecher. Begrüßung durch Rüdiger Vollhard. “Wer Marcel Reich-Ranicki kannte, wird zeitlebens nicht aufhören, ihn zu vergessen”, sagt er. So was kann passieren. Peter Feldmann hält eine graue Rede. Volker Bouffier hält eine laute, dumme Rede, eingemeindend, die Täter exkulpierend: “Ein großer Hesse”, “ein großer Frankfurter”. Reich-Ranicki habe sich den “Stürmen der Verfolgung entgegengestemmt”. Stürme der Verfolgung. So entsorgt man Geschichte und unangenehme Zeugen. Was für ein Klotz. Aber niemand schreit. Kein Bubis weit und breit. Petra Roth hält eine persönliche Rede, respektvoll, freundschaftlich, dankbar. Schirrmacher spricht. Rachel Salamander spricht. Dann der kluge Salomon Korn. Fast laut wird er, als er die Eingemeindungsversuche zurückweist. Reich-Ranicki sei ein Heimatloser gewesen, der sich zeitlebens gewappnet habe gegen die Deutschen. Ihre Hochzeitstage hätten er und Tosia grundsätzlich im Ausland gefeiert. Schließlich Gottschalk, bescheiden, angemessen, genau – na ja, fast.
Die uniformierten Sargträger drücken sich so rum, lachen, rauchen. Jeder will noch mal den Präsidenten und Gottschalk sehen.
Ich gehe jetzt nach Hause und frage mich auf dem ganzen Heimweg, warum bei der Beerdigung von Matthias Beltz mindestens zwanzig Mal so viele Trauergäste anwesend waren wie heute. Was für ein merkwürdiges Land. Aber alle finden alles in Ordnung.
Heute vor dreiundsiebzig Jahren nahm sich der deutsche Jude Walter Benjamin auf der Flucht vor seinen Landsleuten in Port Bou das Leben.
Donnerstag, 12. September 2013 – Elfuhrdreiundzwanzig, dreizehn- kommaneun. Bedeckt.
Heute Morgen, etwas dumpf im Kopf, möchte ich aus gegebenem Anlass wissen, was die Ines Pohl, Chefredakteurin der taz, eigentlich für eine ist. Will taz-online öffnen, werde aber erstmal durch einen Spendenaufruf gestoppt: “Es gibt viele Gründe, für die es sich lohnt, zu kämpfen.” Kann man diesen Satz verstehen? Wie kann man für einen Grund kämpfen? Nein, ich möchte nicht für eine Zeitung spenden, die nicht einmal in der Lage ist, ihre Leser verständlich anzubetteln.
Also weiter, also Ines Pohl: 1967 geboren, Studium an der Georg-August-Universität in Göttingen, dann dort Frauenbeauftragte, Volontariat bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen, nach zehn Jahren Leiterin des Ressorts Politik. Als sie im Juli 2009 zur Chefredakteurin der taz wird, stellt sie sich den Leserinnen und Lesern selbst vor. Schon dieser Text zeugt von einer so glatten Schlichtheit, dass man seine Autorin zur Kristina Schröder der deutschen Tageszeitungen küren möchte, eine Badezimmerkachel des Journalismus. In einem Artikel vom 4. Juli 2013 beschreibt Ines Pohl dann die Feier ihrer Hochzeit mit einer Frau: “… wenn schon ein Fest, dann Klärchens Ballhaus, im Herzen Berlins. Eine historische Stätte der Begegnung, in allem gepflegt-inszenierten Verfallen perfekt.” Auf den Gedanken, aus dem Verfall ein Verfallen zu machen, kann wohl nur jemand verfallen, der das Verfallsdatum seiner Texte noch vor deren Erscheinungstag ansetzt. “Welche Woge des Getragenseins und Ernstgenommenwerdens eine durchfließt, die ihre Liebe zu einer Frau feiern lässt.” – Nun ja: alles fließt. – “Die Philosophie der Flusspferde” hat Gottfried Benn so etwas genannt. Frau Pohl ist sich einig: “… an diesem Freitag wurde etwas angerührt, wo mein Verstand nicht hinreicht.” Das freilich muss nicht viel heißen.
Todestag von Claude Chabrol.