Mittwoch, 28. August 2013 – Zehnuhrvierundfünfzig, siebzehnkommafünf. Sonne.
Vorbild für das Luxushotel in Georges Simenons Roman “Les caves du Majestic” ist nicht das alte Hôtel Majestic gewesen, sondern das heute immer noch existierende “Claridge”. Von dort aus ist man zu Fuß in einer Minute auf den Champs Elysees und in fünf Minuten am Arc de Triomphe – zwar eine von den Touristen bevorzugte, von Kommissar Maigret aber eher gemiedene Gegend. Dass der auch das Milieu der Jeunesse dorée nicht sonderlich schätzt, wird nirgends so deutlich, wie während des Tanztees im “Majestic”: “Und Maigret, Plebejer bis auf die Knochen, bis ins Mark, fühlte Feindschaft gegen alles, was ihn hier umgab.”
Geburtstag hätte heute Philippe Léotard. Ist aber auch schon tot. Wie ich ihn geliebt habe, in “So sind die Tage und der Mond”.
Montag, 19. August 2013 – Zwölfuhrfünf, neunzehnkommavier. Bedeckt. Immer wieder Regen. Viel Sport in den letzten Tagen. Achilles ist sauer.
Vorhin im Autoradio Uli Sonnenscheins Fanfare für Peters Roman “Ein deutscher Sommer”. Schon der Titel hätte besser nicht gewählt sein können. Und ich juble mit. Habe aber noch immer nicht mein Exemplar erhalten.
Auf der Startseite der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau heute zwei Schlagzeilen:
1. Über eine junge Frau aus der Nähe von Kassel, die vor der Küste Hawaiis schwimmen war: “Hai beißt Hessin den Arm ab”.
2. Direkt darunter über Stephan Schreck, einen Spieler von Eintracht Frankfurt: “Kettenhund mit Biss”.
In der Post der Prospekt des Ares Verlags. Dort angekündigt ist das Buch von General Freiherr Jordis von Lohausen: “Reiten für Russland. Gespräche im Sattel”.
Der Schriftsteller Thomas Brasch war von den DDR-Behörden immer wieder drangsaliert worden. Bereits als Student zwangsweise exmatrikuliert, wurden seine Werke später verboten, er selbst wegen seines Protests gegen den Einmarsch der Roten Armee in Prag ins Gefängnis gesteckt. Mitte der siebziger Jahre ließ man ihn in den Westen ausreisen. Trotzdem hielt er die Bundesrepublik nicht für das bessere Deutschland. “In diesem Land werde ich nicht alt”, soll er nach seiner Übersiedlung gesagt haben. Brasch behielt Recht: Er starb im November 2001 mit 46 Jahren. Beim Aufräumen finde ich jetzt den schönen Artikel von Georg Diez über Braschs Gedichte. Und dort dessen Satz: “Ich komme aus einer Familie von Kommunisten, und ich hasse diesen Hass auf die DDR, der sich hier durch alle Schichten zieht, auch bei den Linken zu finden ist. Ich habe eine Sentimentalität gegenüber der antifaschistischen Tradition, in der ich groß geworden bin.”
Heute vor vielen Jahren starb Blaise Pascal: “Alles Unglück der Menschen hat eine einzige Ursache: dass sie nicht in Ruhe in ihrem Zimmer bleiben können.” – Tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos, dans une chambre. –
Montag, 12. August 2013 – Vieruhrdreiundvierzig, elfkommaacht. Wach seit einer Stunde. Wirre Träume. Seit gestern zurück. Hier kühlt es nachts jetzt auch kaum ab. Hat nicht Atilla heute Geburtstag?
Der Bote mit seinem knatternden Motorroller ist schon durch. Viele Häuser sind es nicht mehr, an denen er noch hält, um eine Zeitung in den Kasten zu werfen. Vielleicht lebt sich’s ja besser, wenn man sich für gar nichts interessiert.
In der Ferne das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Aber kann ja gar nicht seit sein, gibt keine Züge hier.
Eine Woche die Großspurigkeiten des Atlantik, dann dieses uralte Bauernhaus im grünen, nassen Nichts des Limousin. Und nur langsam wird mir klar, wie wohl ich mich in alten Häusern fühle, wie sehr das jedes Gefühl, jeden Gedanken, jede Bewegung bestimmt.
Feste Regel: Auf dem Land kriegen alle alles mit.
Nachschauen: das Städtchen Richelieu, Martin Nadaud, Tante Lisbeth (La Cousine Bette), die Kathedrale von Limoges, der Bahnhof von Limoges, die Kirche von Dôle (deren Riepp-Orgel Martin gewiss entzückt hätte).
Im Urlaub versucht, Zolas “Nana” zu lesen. Geht aber nur, wenn ich parallel in die deutsche Fassung von Walter Widmer schaue. Aber das ist eine so unterirdisch schlechte, eine so rabiat verfälschende Übertragung, dass man sich fragt, was Widmer der französischen Literatur (und unserem Bild von ihr) noch alles angetan hat. Dabei galt er lange als der wichtigste, als der kongeniale Übersetzer.
Nach “Dimanche” nun Simenons “Les Caves du Majestic”. Schon die ersten Seiten … Was dieser Mann konnte …
Hundertsechsundachtzig neue Mails. Kurz die Versuchung, sie allesamt in den Orkus zu schicken.
Hab ich denn wirklich seit zwei Monaten keine Geisterbahn geschrieben? Na, kann ja sein, dass man der Welt nichts sagen mag, wenn sie einem nichts zu sagen hat.
Und jetzt beginnt ja nun auch wirklich die lange, die asoziale Zeit, in der ich endlich das nächste Buch … Macht’s gut, Freunde!
Tot ist seit elf Jahren Carlo Ross aus Hagen, der erst nach seiner Pensionierung aufgeschrieben hat, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist.
Montag, 10. Juni 2012 – Dreizehnuhrachtzehn, sechzehnkommazwei. Grau, aber okay. Immer mal wieder ein paar Tropfen. Schöne Stunde nach Norden raus gelaufen.
Sonnig war das Wochenende zumeist und wonnig rundum. Die ganze Familie beisammen, haben wir diniert, diskutiert und, in unseren Fauteuils sitzend, Musik gehört.
Deshalb nur diese Trouvaille von Götz, die heute Morgen per Mail kam: Unter der Überschrift “Die Mitschuldigen” notiert Horkheimer 1956: „Wir dürfen uns nicht beklagen, was auch kommt, denn wir sitzen ruhig und bequem in unseren Fauteuils, wir dinieren und diskutieren, wenngleich wir wissen, dass die Hölle los ist. Auch wir gehören zu den Teufeln – auch wir.“
Assad ist tot, der Vater.
Freitag, 7. Juni 2013 – Zwölfuhrsechsundreißig, dreiundzwanzig- kommavier. Kann man nicht meckern.
Barbaras “Göttingen” – Immer mal gehört hatte ich dieses Lied über die Jahre, ohne je richtig hinzuhören, ohne dass es mir je etwas bedeutet hätte. Gestern Abend dann eine lange, hinreißend gefühlige Geschichtsstunde, indem ich zwanzig, dreißig Mal auf youtube die Aufnahme aus dem Jahr 1967 angehört, angesehen und mir den Text übersetzt habe. Und erst jetzt verstehe ich, was dieses Lied einer französischen Jüdin, die sich als Kind vor den Nazis hatte verstecken müssen, für Franzosen und Deutsche bedeutet haben muss, damals in den sechziger Jahren.
Bien sûr, ce n´est pas la Seine,
Ce n´est pas le bois de Vincennes,
Mais c´est bien joli tout de même,
A Göttingen, à Göttingen.
Na klar, das ist nicht die Seine,
Na klar, das ist nicht der Bois de Vincennes
Aber schön ist es trotzdem
In Göttingen.
…
Et lorsque sonnerait l´alarme,
S´il fallait reprendre les armes,
Mon cœur verserait une larme
Pour Göttingen, pour Göttingen.
Und wenn die Sirenen wieder heulen,
Wenn man wieder zu den Waffen greifen muss,
Wird mein Herz eine Träne vergießen
Um Göttingen.
Nun, nachdem ich mir das erobert habe, könnte ich doch tatsächlich mal wieder durch diese Stadt schlendern, die ich bald drei Jahrzehnte lang gemieden habe, trotz Heine, trotz Lichtenberg und dem Gänseliesel, dieses verhasste Göttingen, nach all dem Mist, den ich dort erlebt habe und der mir bis heut in den Knochen sitzt. Kann es denn sein, dass ein kleines, altes Lied einen so sehr besänftigt, dass das möglich ist, nach alledem …?
Und wie charmant Barbara ist in ihrer so liebenswert hinfälligen Décadence … Eigentlich wie Proust, oder? Was für ein schöner, schwarzer, katzenäugiger Vogel. Nein, und nun sehe ich, dass sie auf dem Friedhof von Bagneux beerdigt ist, wo wir doch gerade erst waren, ohne das zu wissen … Wie gern hätte ich auf ihr Grab eine der geliebten Göttinger Rosen gelegt.
Henry Miller ist tot.
Donnerstag, 6. Juni 2013 – Zwölfuhrvierzehn, einundzwanzig Grad. Nix als Sonne.
Gestern Nachmittag in den 30er Bus Richtung Konstabler; auf den Ohren wieder “L’Étranger”. An der Haltestelle “Nibelungenplatz, Fachhochschule” spielt sich eine stille, heitere Szene ab. Eine Studentin, schwarz, ziemlich korpulent, kommt winkend angerannt, obwohl die Türen des Busses schon geschlossen sind. Der Busfahrer, vielleicht ein Marrokkaner, öffnet die Tür noch einmal und lässt die Studentin hinein. Sie bedankt sich, lächelnd, und gibt zu, lächelnd, dass sie nicht einmal Geld für die Fahrkarte dabei habe. Eine ältere Frau mit Kopftuch, vielleicht Türkin, zückt ihre Geldbörse, reicht der Studentin ein paar Münzen, die diese an den Fahrer weitergibt, auch er nun lächelnd.
Mit der S-Bahn zum Südbahnhof. Alexander Wasner pickt mich vor dem Postamt auf, tanken, Autobahn, Mainz. Was für eine Hitze. In der Staatskanzlei Empfang zum 30. Todestag von Anna Seghers. Schon auf dem Parkplatz kommt uns Christina Schreiber von der Seghers-Gesellschaft entgegen, nett, zugewandt, ein wenig nervös.
Pierre Radvanyi, der siebenundachtzigjährige Sohn von Anna Seghers fragt mich, ob es meine Kriminalromane auch auf französisch gebe; sein Sohn Jean wolle das wissen. Und plötzlich kommt es mir für einen Moment als eine ungeheure Anmaßung vor, dass der Krimiautor sich seinen Nom de Guerre von der großen Anna Seghers geliehen hat. Aber gut, sie hat sich den ihren ja ebenfalls geliehen.
Von einer jungen Frau begleitet, betritt Malu Dreyer die Bühne, begrüßt und hält eine kleine Rede, ganz unprätentiös, freundlich, offen. Hätten wir solch eine Ministerpräsidentin in Hessen, würde es wieder Spaß machen zu opponieren. Was haben wir stattdessen …?
Auf dem Podium Felicitas von Lovenberg, Wilhelm von Sternburg, Pierre Radvanyi et moi. Wie all die anderen hänge ich an den Lippen des alten Mannes, der so bedächtig von seiner Mutter erzählt. Die wohl, dieser Eindruck verstärkt sich, in der DDR nie ganz heimisch geworden ist, die sich immer gesehnt hat nach Mainz, nach dem Rhein und der rheinhessischen Landschaft. Radvanyi berichtet, dass er seiner Mutter, als sie schon alt und gebrechlich war, einmal erzählt habe, dass die Lachse aus dem Fluss ihrer Heimat in die Meere ziehen, bevor sie nach ein paar Jahren zum Laichen und Sterben wieder zurückkehren in ihr Geburtsgewässer. “Ach, wäre ich doch ein Lachs” habe Anna Seghers darauf erwidert.
Buffet, Wein, Buffet, Wein. Als ich mich bei Malu Dreyer für die freundliche Atmosphäre in ihrem Haus bedanke, sagt sie nur: “Das ist normal. So sind wir hier.”
Und bereits beim Abschied, bevor man uns rauskegelt, stellt sich mir noch eine Frau vor, ebenfalls Frankfurterin, sagt sie, lächelnd, obwohl sie das eigentlich nicht sagen dürfe, bei dem Amt, das sie begleite. Wieso das? Ach so, sie heißt Monika Fuhr und ist die Sprecherin der rheinland-pfälzischen Landesregierung. Wirklich angenehm, dieser Abend.
Und heute Morgen lese ich, dass auf dem Nachttisch von Anna Seghers immer ein Kriminalroman gelegen habe. Na dann.
Todestag von “Mrs. Robinson”: Anne Bancroft.
Hier und hier zwei Augenzeugenberichte zum “Frankfurter Kessel”.
Sonntag, 2. Juni 2013 – Elfuhrzwei, elfkommavier Grad. Sonne, blau, Wolken, weiß.
Gestern Blockupy-Demonstration; um kurz vor elf bin ich am Baseler Platz. Rumstehen, warten. Es sind Leute aus ganz Europa gekommen, manche schon vor ein, zwei Tagen. Weil ich niemanden treffe, den ich kenne, suche ich mir eine bunte, laute Gruppe mit Regenschirmen (okay, verstehe, “Rettungsschirme” sind gemeint), wohl Italiener, vielleicht ein paar Portugiesen und Spanier dabei, Männer, Frauen, jung zumeist. Direkt vor deren Transparent hat sich mit etwa hundert Leuten die Spitze des Zuges aufgestellt, dort reihe ich mich ein. Wir sind so Latschdemonstranten, biedere Bürger, Gewerkschafter, Verdi, GEW, du und ich undsoweiter und dazu ein paar gutgelaunte Musikanten in Sixties-Pop-Klamotten. Alles friedlich, klar, und das Wetter scheint zu halten. Wir laufen die Wilhelm-Leuschner-Straße runter und rufen unsere Sachen. Rechts und links in der Mainluststraße und unten an der Neuen Mainzer marschieren mit einem Mal hunderte vermummter Polizisten auf und bringen sich in Stellung. Aber was wollen die? Als die Regenschirmleute hinter uns diesen Straßenabschnitt erreicht haben, stürmen die Polizisten plötzlich los, separieren uns von den Regenschirmen und kesseln diese ein. Aber warum? Es ist nichts, es ist aber auch wirklich gar nichts passiert. Die Behelmten bilden eine Kette und drängen uns in Richtung Schauspielhaus ab. Dort stehen wir hundert Biedermeier und warten, was passiert. Es passiert nichts. Die Polizei macht eine Durchsage: Die Regenschirmleute seien bewaffnet und hätten Straftaten begangen. Das ist ganz offensichtlich eine Lüge. Die Polizei hat diesen Einsatz geplant und vorbereitet. Sie hat ihn genau für diesen Ort geplant. Und sie hat ihn durchgeführt, obwohl nichts passiert ist. Woanders hätte sie ihn gar nicht durchführen können. Sie wollte unseren “Aufzug”, wie sie das nennt, zerbrechen. Die Polizisten tun, was man ihnen befiehlt. Sie sind vermummte Marionetten. Irgendwer hat ihnen diesen Befehl gegeben. Wer war das? Der Innenminister? Der Ministerpräsident? Wir sollen einfach unsere Demonstration fortsetzen, sagt die Polizei. Mit hundert Leuten? Das wollen wir nicht. Wir wollen die Regenschirmleute nicht alleine lassen. Wir wollen mit den zehntausend Demonstranten, die hinter uns sind, zusammen sein. Mit allen. Zwei, zweieinhalb Stunden geht das so hin und her. Gerüchte, Spekulationen. Plötzlich kommt ein Trupp Behelmter von der anderen Seite, vom Willy-Brandt-Platz, und will durchstoßen in die Hofstraße. Das wollen wir nicht. Wir Biedermeier bilden ebenfalls eine Kette. Aber dann kommen sie auch noch von der anderen Seite und kriegen schließlich ihren Willen. Ein paar Demonstranten gehen dabei zu Boden. Nicht so wild. Irgendwann kommt der Veranstalter der Demonstration und sagt, die Polizei habe auch unseren Platz zu ihrem Aufmarschgebiet erklärt, wir seien also ab sofort illegal hier, wir sollen unseren Platz freimachen, sonst würde geräumt. Die echt braven Biedermeier sagen: Nein, das wollen wir nicht.
Ich habe gelernt, dass es bei der Demokratie um Körper geht. Wie viele Körper sind anwesend? Welche Körper dürfen auf welchem Platz stehen? Welche Körper sind stärker? Welche Körper geben nach? Die Polizistenkörper haben unsere Demonstration, die uns die Richter erlaubt hatten, zerstört. Wären wir mehr Demonstrantenkörper gewesen, hätten die Polizistenkörper das nicht so leicht geschafft.
Ich frage mich, warum von den vielen Leuten, die ich in Frankfurt kenne, so wenige anwesend waren. Warum reisen arbeitslose Jugendliche aus Südeuropa an, aber meine Freunde aus dieser Stadt sind nicht da? Was ist mit ihnen los? Zu bequem? Zu ängstlich? Zu feige? Nicht einverstanden? Ich weiß nicht. Ich werde sie nicht danach fragen. Es gibt nichts zu reden. Ich werde einfach auch beim nächsten Mal meinen Körper zur Verfügung stellen. Ich habe gelernt: Man muss sich in die Waagschale werfen. So geht Demokratie. Jeder hat eine Stimme; jeder hat einen Körper, der dabei ist oder eben nicht.
Bo Diddley ist tot.