Geisterbahn

Donnerstag, 30. September 2010 – Siebenuhreinundfünfzig, achtkomma- neun. Grau.

Dienstag im Sprühregen Richtung U-Bahn, Lutz fährt mit dem Rad an mir vorüber, ohne mich zu erkennen. Dann kommt mir ein Schwarzer entgegen, offensichtlich betrunken; schon von Weitem hört man ihn krakeelen. Als ich an ihm vorbei gehe, lächelt er, hebt die Arme und macht mit beiden Händen das Victory-Zeichen: “Yes, we can!” ruft er.

Im Flugzeug ein wenig in Connellys “Angels Flight” gelesen, ein wenig gedämmert. Mit dem Taxi von Schwechat in die Wiener Innenstadt. Der Fahrer schenkt mir eine Führung: die Gasometer, die Donau-Auen, der Prater, das Hundertwasser-Haus, der Ring, die Staatsoper. Ob er ein gebürtiger Wiener sei, frage ich, so gut wie er sich auskenne. “In Wien kommt jeder von irgendwo”, sagt er. Er sei in den Siebzigern aus Jugoslawien zugereist: “Aber ja, ich bin ein Wiener; ich liebe diese Stadt”.

“Das Triest” in der Wiedner Hauptstraße. Draußen Regen, Sturm. Die Hotel-Depression setzt sofort ein. Lege mich aufs Bett. Fernseher an. Vier Folgen von “The Simpsons”. Und trinke eine halbe Flasche ekligen, völlig überteuerten Zweigelt, der auf der Minibar gestanden hat und deshalb viel zu warm ist.

Zu Fuß in der Dunkelheit über den Ring. Hofburg, Kunsthistorisches Museum, Volksgarten, Parlament. Eine riesige, fettige Käsekrainer mit Senf und Ketchup im Laufen. Spontane Übelkeit. Burgtheater, Universität, nach links in die Schottengasse, die kurz darauf zur Währinger Straße wird. Votivkirche. Um zwanzig Uhr vor dem “Café Weimar”. Ich gehe rein. Drei stämmige, kleine Männer und eine stämmige, kleine Frau stehen im Eingang. Sie haben keinen Platz mehr bekommen, bitten aber um Autogramme in ihre kleinen, stämmigen Sedez-Bücher. Die Kellner grantelnd, allerdings völlig uncharmant. – “Dafür werden sie bezahlt”, wird mir erklärt. Der St. Laurent ist gut. Während ich lese – immer wieder Tonprobleme, Störungen, das Mikrofon eines Aufnahmegerätes wird auf mein Pult gestellt, ein Techniker baut eine riesige Fernsehkamera vor mir auf, die Kellner wuseln durch die Reihen. Dann zu Fuß in die Innenstadt, Stephansdom, Domgasse, “Café Fidelio” im Mozart-Haus, aber plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich dort eigentlich soll, mache kehrt und trabe durch die Nacht zurück ins Hotel.

Zu aufgekratzt, um zu schlafen. Fernsehen. Der NDR sendet einen albernen, selbstverliebten Dokumentarfilm von Richard David Precht: “Lenin kam nur bis Lüdenscheid”. Da pisst einer in die Asche seiner Herkunft. Das einzig Schöne sind die alten Songs von Degenhardt.

Am nächsten Morgen blanker Himmel. Sitze in der Sonne und trinke einen doppelten Espresso macchiato. Dann in die Albertina. Was für eine Offenbarung, trotz des allzu schlichten Titels: “Picasso – Frieden und Freiheit”. Viele der ausgestellten Bilder habe ich nicht einmal als Reproduktionen gekannt. Am schönsten eine kleinformatige Variante auf Manets “Frühstück im Freien” von 1960. Ausgerechnet dieses Werk ist nicht im Katalog abgebildet. Aber: Eine der besten Ausstellungen, die ich je gesehen habe.

Simone Signoret ist tot.

Montag, 27. September 2010 – Zehnuhrachtundvierzig, siebzehnkomma- fünf. Bedeckt. Dead like a rock. Aber auch so geschlafen.

Freitag im Ostpol in Offenbach, Samstag mit Miro und Heiner auf Schloss Johannisberg, gestern im Historischen Rathaus von Pfungstadt. Morgen nach Wien.

Zum Beispiel: Die Dame dort im roten Kostüm mit den goldenen Knöpfen, rote Stewardessenpumps mit goldenen Schnallen, eine Frisur, bei der ich unwillkürlich das Wort “onduliert” denken muss, ohne genau zu wissen, was das eigentlich heißt. In der Hand hält sie ein Glas mit bestem Rieslingsekt und … hat doch tatsächlich den kleinen Finger abgespreizt. Wir werden so aufeinander zu gespült, müssen also irgendwas miteinander machen, wenigstens: reden. Binnen fünf Minuten habe ich ihre Geschichte am Hals: gelernte Apothekerin, dann zwei Kinder, inzwischen erwachsen, jetzt ein Cockerspaniel, der Cocky heiße, derweil aber so dement sei, dass er oft die Vorderpfote hebe, wenn er pinkeln müsse. Ihr Mann – ja, dort drüben der schmale, blasse Herr -, Jurist in irgendeinem Landesministerium. Als sei es ein Naturgesetz, kommen wir wenig später auf Sarrazin zu sprechen. Wo der Recht habe, müsse man ihm auch Recht geben, sagt sie. Sie und ihr Mann nämlich, müsse ich wissen, hätten zahlreiche jüdische Freunde, Geschäftsleute, Künstler, viele Musiker darunter, auch international bekannte. “Und … glauben Sie mir, ich erkenne den Juden am Aussehen”. Ich nun, statt angemessen zu reagieren, ihr nämlich umgehend eine aufs Maul zu hauen, bin zu verdutzt, wohl auch zu feige und hebe lediglich die Brauen. “Und dann”, sagt sie, “die Überfremdung – ist doch ein Fakt, oder?” Zugeben allerdings müsse sie, dass die Ausländer die deutsche Gastronomie in den letzten vierzig Jahren massiv bereichert hätten. Ihr Mann und sie – zum Beispiel – würden immer in der Frankfurter Kleinmarkthalle einkaufen. Herrlich, die exotischen Düfte dort und wie üppig das alles drapiert sei. Dabei schaut sich mich so treuherzig an, dass ich nur nicken kann. “Tja”, sagt sie, “Gewürze präsentieren, dass kann der Orientale.”

F. ist gutwillig, aber dumm wie ein Stück Brot. Sie weiß es und tut alles dafür, dass man das nicht merkt. Was zwangsläufig dazu führt, dass niemand es übersehen kann.

Durch Jürgen wieder zur Ernst-Jünger-Lektüre gekommen. Und gleich schüttelt es mich. In Paul Noacks Biografie die interessante Information, dass “In Stahlgewittern” nicht etwa sofort nach Erscheinen in den zwanziger Jahren ein Bestseller gewesen ist, sondern erst durch die Nazis nach deren Machtergreifung dazu gemacht wurde.

Hans Grimm (“Volk ohne Raum”) ist tot.

Donnerstag, 23. September 2010 – Sechsuhrzweiundfünfzig, neunkommaneun. Über der Autobahn: rötlich der Himmel. Wacklig, fiebrig ich.

Erinnerungs-Flash: Plötzlich steht mir Franz Christoph vor Augen, an den ich lange nicht mehr gedacht habe. “Ich bin der Krüppel, der den Bundespräsidenten zwei Mal geschlagen hat”, so hat er sich vorgestellt, damals, Ende der achtziger Jahre im “Café Rowohlt”, wie das Laumer in der Bockenheimer Landstraße während der Buchmesse immer hieß. Aber erst einmal hat er seine Krücke auf unseren Tisch geknallt, weil ihm irgendwas nicht passte, was einer von uns erzählt hat. Wie er sich dann nachts schimpfend, lachend, weinend und volltrunken die Treppen in der Martin-Luther-Straße bis in unsere Wohnung hochgeschleppt hat, dort nicht mehr aufhören wollte zu schimpfen, zu lachen, zu trinken, zu weinen … Eine Zumutung war dieser Mann, ein Brüllaffe. Und ein unglaublich guter Typ. Er kam aus der Oberpfalz, aus Furth im Wald. Wo auch Sissi Perlinger herkommt. Ob die beiden einander kannten? Tot ist er seit vierzehn Jahren.

Heute vor 37 Jahren starb Pablo Neruda. Sieben Tage nachdem Victor Jara und elf Tage nachdem Salvador Allende umgebracht wurde.

Montag, 20. September 2010 – Sechsuhrzwölf, achtkommaneun. Finster. Seit kurz nach vier wach. Stechmücke.

Da ist er wieder, der schwarze Winterhund, der in den nächsten Monaten in meinem Hinterkopf scharren wird. – “Jetzt schon? Ist doch erst September.” – Ja, aber ich spür ihn schon; er ist schon da.

Letzte Woche diese seltsam berührende, unendlich langsame, schlafwandelnde Leierkasten-Version von “Am Grunde der Moldau” auf youtube entdeckt. Es singt ein Mädchen namens Jaida. Geht mir nicht mehr aus dem Sinn, dieses aufgeklärte Lullaby.

Wenn die Pharmaindustrie und die privaten Krankenkassen über den Gesundheitsminister sagen, Philipp Rösler mache “einen guten Job”, dann heißt das: Er tut so, als würde er sie attackieren, während er gleichzeitig zäh ihre Interessen vertritt, dies aber öffentlich genauso lächelnd wie ausdauernd dementiert. So geschehen gestern in “Berlin direkt”. Dass der ZDF-Mann Thomas Walde im Interview keine Sekunde locker ließ, war immerhin eine angenehme Überraschung.

Max Slevogt ist tot.

Mittwoch, 15. September 2010 – Zehnuhrneununddreißig, neunzehnkommanull. “Böser, böser Regen!”

Die IG Metall warnt das Verteidigungsministerium vor Rüstungskürzungen. Es stünden zigtausende Arbeitsplätze auf dem Spiel. Warum fordern die Gewerkschaften eigentlich nicht gleich den totalen Krieg?

Gestern muntere Runde im Literaturhaus. Die Frage, die offenblieb: Ist ein vormodernes Erzählen nach der Moderne noch möglich? Scheint jedenfalls so.
Von Herrn Hückstädt der Hinweis auf Eberhards Scheuer in Bad Soden.

Und? Die Nacktschnecken? – In Frieden verschieden!

Tot ist auch: Wolfgang Abendroth.

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Jan Seghers

und das

Heine Quartett

Was aber ist die Liebe?

Uraufführung
19. November 2010, 19.30 Uhr

Buchhandlung Schutt
(Antiquariat im Hinterhof)
Arnsburger Str. 76
Frankfurt (Bornheim)
Eintritt: € 10,–
Telefon: 069 / 43 51 73

Neunzig Minuten Literatur und Musik
Mit Texten von Villon, Heine, Flaubert …
Mit Musik von Purcell, Mozart, Schubert …

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Donnerstag, 9. September 2010 – Zehnuhrsieben, fünfzehnkommadrei. Suppe.

Jetzt ist Schluss mit dem Gemetzel, jetzt wird Schneckenkorn gekauft. – “Dann nimm aber Ferramol von Neudorff!” – Mach ich! – “Hat von Öko-Test ein ‘Sehr gut’ bekommen. Da verhungern die Schnecken ökologisch einwandfrei!”

Zu den Auseinandersetzungen um den Stuttgarter Hauptbahnhof meldet FAZ-online: “Viele Schwaben glauben: Was groß ist, ist unnötig”. Wo sie Recht haben …

Weil Hettche sich verletzt hat: Lesen, lesen, lesen … Bis nächsten Dienstag 1300 Seiten. Mosebach, Franzen, Kracht, Potente.

Toulouse-Lautrec ist tot.

Montag, 6. September 2010 – Achtuhrachtundvierzig, achtzehnkomma- sieben Grad. Geschlafen? Very good! Wenn das Wetter doch das ganze Jahr so wäre.

Wie jeden Morgen dieser Tage noch in der Dämmerung auf Schneckenjagd gegangen.

Nachdem sich Thilo Sarrazin zur Stimme der dröhnenden Mehrheit gemacht hat, springt ihm sein Volks- und Parteigenosse Klaus von Dohnanyi in der Süddeutschen Zeitung zur Seite: “Der öffentliche Reflex erinnert an die beschämende Behandlung von Martin Walser, als sich 1998 nach seiner Rede zwar die Paulskirche zu Ovationen erhob, doch dieselbe, die Zivilcourage ständig beweihräuchernde Gesellschaft, war nicht mehr zu hören, als Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, gegen den Schriftsteller seinen Bannfluch ‘geistiger Brandstifter’ ausgestoßen hatte.”
Mal abgesehen vom miserablen Deutsch – So sollen wir es also verstehen: Nicht das ehemalige NSDAP-Mitglied Martin Walser ist der Täter, sondern der Jude Ignatz Bubis.
“Deutschland, die verfolgende Unschuld” (Karl Kraus)

Interessant dazu auch eine Geschichte, die Günter Amendt erzählt. Nachdem er 1978 Bob Dylan auf seiner Europatournee begleitet hatte, begegnete er zufällig Martin Walser in den Redaktionsräumen der Zeitschrift konkret: “Er, der seine Worte besonders behutsam, nach meinem Geschmack behäbig zu setzen pflegt, fragte mich, von meinen Beobachtungen und Betrachtungen zu Dylans 78er-Tour offenbar gelangweilt, plötzlich nicht ohne einen aggressiven Unterton, was eigentlich an diesem ‘herumzigeunernden Israeliten’ Besonderes wäre.”

Von seiner Partei, der SPD, wo er seit vierzig Jahren Mitglied sei, sagt der nette Herr K., erwarte er nichts Gutes mehr. Zumal nicht mehr jetzt, da sich in der Online-Community Wer-kennt-wen eine Gruppe Sozialdemokraten aus seiner Heimat zusammen gefunden habe, die öffentlich verkünde: “Wenn Sarrazin gehen muss, gehen wir!”

Heute vor achtunddreißig Jahren wurden auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck neun israelische Sportler von ihren palästinensischen Geiselnehmern ermor- det.

Dienstag, 31. August 2010 – Sechsuhrvier, neunkommasechs. Fast noch dunkel. Im Osten so ein rötlicher Streifen am Himmel. Ganz hübsch.

Gestern Abend in voller Länge und mit offenem Mund die Übertragung von Kochs Abschiedsfeier auf Schloss Biebrich geschaut. Fackeln, Märsche, Uniformen. Ein wahnsinnig unseriös aussehender Strolch des Kasseler Heeresmusikkorps singt Lieder von Udo Jürgens, der ebenfalls im Publikum sitzt, und – wie man hört – seit Jahren mit den Kochs befreundet ist. Schauderhaft ist das alles, gespenstisch und unglaublich halbseiden. Und was für ein kulturelles Signal …
Und das Hessenfernsehen entblödet sich nicht, diesen Mummenschanz zu übertragen. Als Zeugin dafür, was für ein guter Kerl der Verabschiedete sei, lässt man Ann Kathrin Linsenhoff ins Mikrofon stammeln … Sklavenjournalismus.

Gerade sehe ich, dass Ann Kathrin Linsenhoff 1960 geboren ist. Sehen wir denn alle schon so alt aus?

N.: “Merkst du es auch, wie schon jetzt an Kochs Heiligsprechung gearbeitet wird. In Kürze werden all seine Skandale vergessen sein und keiner will je was gegen ihn gesagt haben.”

Der neue Ministerpräsident, heißt es, werde selten in der Öffentlichkeit angetroffen, ohne dass er vorher etwas getrunken habe.

Durch mit dem Simenon.

Aber jetzt, um sechsuhrachtunddreißig, ist es bereits hell.

Lady Di ist tot.

Montag, 30. August 2010 – Siebenuhrfünfunddreißig, neunkommavier. Gestern Abend um Viertel vor acht eingeschlafen, heute Morgen um Viertel vor sechs durch den Regen aufgewacht. Herrlich!

Gestern auf dem alten Bonameser Flugplatz, der inzwischen zum sonntäglichen Tummelplatz für die jungen und mittelalten Frankfurter Akademikerfamilien geworden ist.
“Guck Mal”, sagt A., “da ist unser nächster Innenminister”.
Tatsächlich steht dort der Staatssekretär R. mit seiner Familie.
“Ich muss ihn kurz begrüßen”, sagt A. Und als er nach zehn Minuten wiederkommt: “Heute Abend wird entschieden, ob R. ins neue Kabinett kommt, aber sicher weiß er es noch immer nicht. Soll ich ihn Dir vorstellen?”
Ich zögere kurz, dann sage ich nein. Man lernt einander in dieser Stadt sowieso meist früher kennen, als einem lieb ist.
Dann sagt mir A., wen ich nun aber wirklich und unbedingt alles kennen lernen müsee …

Lektüre: Simenons “Der Mann mit dem kleinen Hund” – Hatte das Buch vor dreißig Jahren gelesen und vollkommen vergessen, wie unglaublich gut dieser Roman erzählt ist. “Wenn Simenon nichts anderes geschrieben hätte, er hätte das Seine getan”, schrieb Alfred Andersch.

Würde ich unverhofft diesem Sarrazin gegenüber stehen, ich würde wohl zum Lama werden. Mehr noch zu verachten ist allerdings der Verlag, der auf den erwartbaren Erfolg mit dem Buch dieses Schurken spekuliert hat.

Vor fünfundsiebzig Jahren starb Henri Barbusse.

Dienstag, 24. August 2010 – Fünfuhrfünfundzwanzig, achtzehnkommavier. Scheißregen. Trotz Baldrian seit halbdrei wach.

Von Alf die Lösung per Mail:
…wenn du es noch nicht gefunden  hast.: Das T.S.Eliot-Zitat ist aus dem Gedicht “The Hollow Man”, das mit dem Joseph-Conrad-Zitat “Mistah Kurtz – he dead” (s.a. Apocalypse Now) beginnt und mit den Zeilen endet:
This is the way the world ends
Not with a bang but a whimper.

Gestern Morgen wiederwillig ins Alte Café Schneider. Ich warte und warte. Vergeblich. Blättere die Vogue durch, dann die Tageszeitungen. Alles voll mit Schlingensief, der ja zum Schluss ein wenig Ähnlichkeit hatte mit Ahmadinedschad. Dass er ein Provokateur gewesen sei, der von allen geliebt werden wollte, hört und liest man allerorten. Freilich, danach sahen seine Provokationen dann auch aus. Die erlösungshungrigen Feuilletonisten lagen ihm zu Füßen; in ihm fand das handzahme Muckertum seine Projektionsfläche. Und jetzt heißt es, dass so einer eigentlich gar nicht sterben dürfe, jedenfalls nicht wirklich …
Dann im Regen über die Zeil zum Parkhaus, wütend und vollkommen durchnässt nach Hause.

In Manila stürmt die Polizei einen Bus, in dem ein ehemaliger Kollege fünfzehn Geiseln gefangen hält. Auf ntv und N24 wird live übertragen. So kann man die Stümperei der Spezialkräfte in Echtzeit miterleben. Und dazu noch das haltlose Gequatsche der deutschen Fernsehleute. Sie wissen nicht mehr, sehen nicht mehr, hören nicht mehr als die Zuschauer, dürfen aber keinesfalls schweigen.

Fashion TV wird nur noch über Satellit ausgestrahlt. Thank you for watching. Aber jetzt habe ich ja den World Fashion Channel gefunden. Der kommt über Kabel, ist genauso doof, aber mir kann nichts mehr passieren.

Abends im Fernsehen – wieder alles voll mit Schlingensief.
Ich: Ich kann es nicht mehr sehen.
Sie: Ist ja bald vorbei. Vorerst jedenfalls.
Ich: Wie? Vorerst? Mach mir keine Angst!

Erst jetzt sehe ich, dass während unseres Urlaubs Luis Corvalán und Willem Breuker gestorben sind. Und Brigitte Schwaiger – ihre Leiche wurde in einem Nebenarm der Donau gefunden.

Dienstag, 17. August 2010 – Elfuhrsechsunddreißig, sechzehnkomma- neun. (Aber erst Mal musste ich das Kabel des Außenthermometers reparieren. Wach seit fünf. Regen, Wolken.

Heute Morgen im Netz unterwegs: Resistance /Maquis / Jean Moulin / Anna Marly, Le Chant des Partisans / Lucie Aubrac / Und zum ersten Mal von Otto Kühne gelesen, der 2700 Kämpfer des Mouvement Ouvriers International in der Provence anführte.

Im Autoradio gerade ein Stück aus der Feuerwerksmusik unter Gardiner gehört. Grässlich! Man möchte ihm Beine machen.

Französische Notizen:
Grenzgebiet Saarbrücken / Forbach – Schmuggler, Wilderer? / Gravelotte / Verdun, Toter Mann, die Forts / Valmy, Moulin / Epernay / Ölvorkommen – Pumpen? / Im Hotel, ziemlich herunter gekommen, eine Vakuum-Toilettenspülung von Electrolux, die einen solchen Lärm verursacht, ein so lautes saugendes Geräusch … / Aber ein wunderschöner alter, riesiger Speisesaal und erstaunlich gutes Essen.
Dann in der Bretagne, eine Woche am schönsten Ort der Welt, am Rande eines Dorfes, eine Lichtung am Bach, Trauerweiden, zehn Kilometer nördlich von Lanvollon / Fahrt nach Treguir – die schöne Kathedrale, das Grab von St. Yves, der brasilianische Priester am Eingang, die plaudernden Kirchenbesucher, gute, vitale Stimmung – Kreuzgang.
Die Islandfischer – “Mur des desparus” in Ploubazlanec.
Die Ortsnamen klingen hier zum Teil, als sei man in Vietnam.
Die Landschaft vollständig anders als gedacht: alles noch im satten Grün – jetzt, Ende Juli – Täler, Höhenzüge, Ausblicke, mehr Allgäu als schroffe, karstig-flache Heide. Ein versunkenes Hochgebirge.
Plage Bonaparte – dort sind die von den Deutschen abgeschossenen Piloten der alliierten Kampfflugzeuge von der Bevölkerung versteckt und nach England verfrachtet worden. Verirre mich zwischen den Höfen, zwei freundliche, ältere Herren, der eine bietet mir an, mit seinem Wagen vor mir her zu fahren.
Menschenleer die Orte, das Vespapärchen, die Hunde hinter den Gattern, ab und zu ein Bauer, ein sabbernder Mann, der dich anstarrt. Nur die Alten und Versehrten bleiben da. Überall an den Häusern die Schilder: “A vendre”.
Es fehlt vollständig das Erotische, das Bukolische des Mittelmeers. Hier herrschen das Kruzifix und der Friesennerz.
Toter Baum, von Efeu überwuchert, simuliert Leben.
Die winzigen Frösche am Leff. Tausende. Regnet es schon wieder? Nein, das sind die Wasserläufer. Wenn sie sich bewegen, sieht es aus, als würden Tropfen ins Wasser fallen.
You drink Whisky with me, fordert mich der Mann aus seinem SUV heraus auf, den ich angehalten habe, um nach dem Weg zu fragen.
Vierzehnachtzehn, dieser Krieg hat überall im Land so tiefe Spuren hinterlassen, dass sie noch heute sichtbar sind.
Die Hunde werfen sich gegen die Gatter.
Mitten im Nichts: Ein Ehrenmal, davor langstielige Rosen, Kränze. Gedacht wird der Ortsgruppe des Maquis von Plésidy.
Roscoff – am Hafen, viele Touristen, aber wieder: gutes Essen. Auf dem Vorspeisenteller: Pétonche (Queen scalopps)???
Als wir morgens abfahren wollen: Der Autofahrer auf dem Parkplatz des Hotels, hinter dem Steuer sitzend und mit einem weichen rosafarbenen Staubwedel ausdauernd die Armaturen seines Wagens entstaubend. Das Wunder: Die Frau an seiner Seite stirbt nicht vor Lachen.
Les Calvaires / Die exaltierten Skulpturen in den Kirchen / Das grauenhafte Denkmal für die Frauen von Pont l’Abbé. Nur Demut, Trauer, Depression. Die Knechtung durch die Kirche hat offensichtlich jedes andere Selbstbild unmöglich gemacht.
Überall diese Hohlwege, warum? Die Plastikplanen über den bepflanzten Böschungen – warum?
Ein „Künstlerdorf“ – Das Todesurteil für jeden Ort.
Ausstellung in Quimper: Meijer de Haan – Gaugin – Max Jacob, Boudoin. Interessant, die lokalen Ränder der Moderne.
McDonalds am Point Ronde vor Pont l’Abbé.
Connellys “Brass Verdict” – Grauenhaftes Buch, schlechte Dramaturgie, schwache Charakterzeichnungen. Aber eine schöne Formulierung: “To sell burnt matches”.
Süleyman: Er war schmal, braun und gelenkig. Manchmal schlief er mit Männern, öfter mit Frauen und manchmal Monate lang mit gar niemandem. Er verlangte nicht danach, aber wenn ihm jemand Geld geben wollte, nahm er es an. Ein Otter. Ein Wesen zwischen Wasser und Land. Er hatte keine Vorlieben, was ihn umso mehr befähigte, auf die seiner Partnerinnen einzugehen. Er mochte es, andere zufrieden zu machen oder wenigstens ruhig. Alle wollten mit ihm schlafen, aber keine wäre auch nur auf die Idee gekommen, deshalb ihren Mann zu verlassen. Er schaut Fashion-TV.
Nantes. Wie angenehm, nach all der bretonisch-katholischen Enge, hier ein wenig urbanen Freigeist zu spüren. Die Bombardierung. Das Edikt. Sklavenhandel. Gemäldesammlung. Jules-Verne-Museum. Die Viertel. Die Modegeschäfte … Sonia Rykiel. Und dann kommen wir doch tatsächlich am Nespresso-Magazin vorbei!
Gibt es eigentlich einen Wikipedia-Download?
Hotel de la Gare – Diese verlogene alte Hexe, die ihre Louisidors zählt. Ihr Mann, kaum das Kinn zum Gruß hebend. Die freundlich-verhuschten Zimmermädchen, die sich unter der Knute der Hexe zu ducken scheinen. Der schmierige, wieselige Kellner – alles wie aus einem Balzac-Roman.
Wie heißt das Mädchen aus Hemingways „For whom the bell rings“?
Camping “Le Gurp”, vor knapp dreißig Jahren war ich zweimal hier – Und … man glaubt’s nicht: Auch hier war Kevin gerade wieder. Um ein Haar, hätten wir ihn auch dieses Jahr wieder zufällig getroffen. Halb Südhessen, heißt es, sei hier versammelt, jedenfalls das Frankfurter Nordend.
John Lescroart
Sind das Maulbeerbäume?
Amerikanisches Buch über Zeichentrickserien – Porky Pig, Duffy Duck …
Weiter nach Chinon.
Cotes du Rhone Village, Croix des Alliances, Super U / Col de Serre (Carrefour), Beziers / Croix des Sablons, Haut Medoc, (bei Monsieur getrunken) / Carpaccio Monsieur: marinierte Champignons, roter Pfeffer, Parmesan, wenig Pflücksalat, Schnittlauch, Dressing (ev. mit Redoro, Limette, Schuss Armagnac)
Im Nivernais: Käse (Accolay): Chambertin (!), L’Eclat / Amuse Gueule (Accolay): Kalter Lachs mit Estragon, leichte Mayonnaise / Geflügelgelee mit Estragon (gebratene, geschnittene Hähnchenteile)
Journalistin hat im Hotel unter falschem Namen eingecheckt (Name einer Freundin, mit der sie immer verwechselt wurde und deren Ausweis sie sich geben lässt).
Süliman schaut „F“ – Fashion TV
Schnecken mit Champignons (ev. Pfifferlinge) und Kräuterbutter in Teig frittiert (Nems), wahrscheinlich Reisblätter.
Für daheim: Görlitz Brief / Judy wg. Nele Neuhaus / Geschenke / Norrington-Film, Kleiber-Kassette / Garmin – Oder gute Karten im Netz, die Höhenmeter ausweisen – gibt es das für Frankreich? / Neuen Michelin-Restaurantführer kaufen / Schnürsenkel / Uhrenarmband. Und die Roeckl-Handschuhe sind nach nicht einmal tausend Kilometern völlig durchlöchert.
Süliman hat ev. eine Saison als Schleusenwärter am Canal Nivernais gearbeitet „Die Geliebte des Schleusenwärters“.
Man muss sich nicht alles trauen. Man muss dem König widersprechen, aber man muss nicht nackt über die Straße laufen.
In Souille, einem winzigen Weiler, durch den wir mit den Rädern kommen, haben die Deutschen am 9. und 10. Juli 1944 acht Männer des örtlichen Maquis erschossen.
Rauf nach Vezelay. Schon der Aufstieg zu Kathedrale läßt einen fast kriechen. Aber gut. Viele Pilger. Eine junge Nonne, andächtig vor dem Heiligen Franziskus. Junge Musiker, die proben. Alles hell, keine bunten Fenster. Danach kurz am Dreisterne-Restaurant L’Espérance in St-Père haltgemacht und auf die Speisekarte geschaut. Unangenehm, wie Marc Meneau seinen Namen ausstellt. Die Preise: obszön.
Dann nach Luzy, Vereinigung der Köche der Region: Les-toques-nivernaises.com
„Die Katze erwacht“ N. Friday … Oliven zu essen / “Schlichtes Herz” / Truffaut „Zwei Engländerinnen“
Psalm 5: Ihre Kehle ist ein offenes Grab, aalglatt ist ihre Zunge.
Irmtraud Morgner: Trobadora Beatriz. Hält das noch?
TS Eliot: Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern geht die Welt zugrunde (Genaues Zitat suchen!)
Ins Elsaß / KZ Struthof, Natzweiler – größer als ich dachte. Viele französisches Besucher / Dambach / Fahrt mit den Rädern in den Pfälzer Wald. Wunderbar, das Hirschtal / Die wievielte Reifenpanne ist das jetzt in diesen drei Wochen? Wenn ich richtig rechne: die sechzehnte!
Das Reh auf der Uferstraße in der Bretagne. / Der Fuchs in der Nähe eines Bauernhofes im Burgund / (Dieser lässige, federnde Gang der Füchse). Wie schön die Charollais-Rinder sind, die zu Hunderten auf den Weiden liegen. Und dann in diesem elsässischen Dorf ein Pfau auf der Straße.

Todestag von da Ponte.