Montag, 29. März 2010 – Sechzehnuhrsiebenunddreißig, siebzehn Grad. Graublau der Himmel. Nass der Boden.
Gestern wieder über den Friedhof gestromert. Mit der Ixus Beute nach Hause gebracht.
Wieder in Butzbach im Gefängnis gelesen. Und wieder: Selten ein so konzentriertes, freundliches, nein: höfliches Publikum gehabt. Und hinterher der Impuls: dort rasch wieder hin zu wollen, dann aber: um zuzuhören.
Und jetzt bin ich klaftertief in Götz’ Buch versunken. Wie klug, wie kenntnisreich, von wie viel Erfahrung gesättigt das ist. Unglaublich auf welch großem literarischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund er seine Fälle erzählt. Seine Hinwendung zu den Opfern und Tätern, seine Vorsicht vor Verallgemeinerungen, seine Dialektik und sein sozialgeschichtliches Wissen lassen den Band zu einer der gründlichsten Diagnosen werden, die ich seit langem gelesen habe. (Götz Eisenberg, “…damit mich kein Mensch mehr vergisst!” – Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind, Pattloch Verlag, 2010).
Weil ich im April mit ihm im Studio von “Fröhlich lesen” sitzen werde, bringt die Post Josef Wilflings Buch “Abgründe”. Darin schreibt der ehemalige Leiter der Münchner Mordkommission: “Ich weiß nicht mehr, wie oft ich an einem Tatort stand und mich gefragt habe, wie so etwas möglich ist … Wie können Menschen so erbarmungs- und gefühllos, so brutal und kaltblütig sein …” Wenn ich dieser Tage lese, dass ein ostdeutscher Rentner demnächst von 600 Euro im Monat leben muss, während Josef Ackermann im selben Zeitraum 1.000.000 Euro erhält, fallen mir schon ein paar Antworten auf die Frage des Kriminalisten ein.
Carl Orff ist tot. Hatte ich schon Mal gesagt, wie sehr ich seine Carmina Burana verabscheue?
Donnerstag, 18. März 2010 – Elfuhrvier, vierzehnkommavier. Sonne. Schwindelig vor Erschöpfung.
So sind die Tage dieser Tage: Sechsuhrfünfzehn – der Wecker fällt mir allmorgendlich wie ein Stein auf den Kopf. Aufstehen. Espresso. Computer anschalten. Mails anschauen. Schnell wieder wegschauen. Duschen. Espresso. Auf den Bewegungsstuhl. Rasch zur U-Bahn. Physiotherapie. Kurz was einkaufen. Zur U-Bahn. Nach Hause. Schlüssel ins Schloss. Das Telefon klingelt. Ignorieren. Klingelt aber gleich wieder. Palaverpalaver. Anfragen, Verkaufszahlen, Interviews, Veranstalter, Vertragsverhandlungen. Mails, Mails, Mails. Telefon, Telefon, Telefon. Am Spätnachmittag schnell was zu essen machen. Und rasch noch Mal auf den Bewegungsstuhl. Umziehen. Ins Auto. Auf die Straße. Bibliotheken, Bürgerhäuser, Buchhandlungen. Lesen, lesen, lesen. Vorher Lächeln, Palaver. Hinterher Lächeln, Palaver. Signieren. Lächeln, Palaver. Ins Auto. Auf die Straße. Nach Hause. Nach Mitternacht. Ins Bett. Stein auf den Kopf.
Die Zahl der Enttäuschten in meiner Umgebung wächst. Das Ausmaß der Pikiertheit nimmt zu. Kaum eine Lesung, nach der nicht ein Bekannter auf mich zukommt und mich mit vorwurfsvollen Augen anschaut. IHN habe ich jedenfalls NICHT sofort im Publikum erkannt. SEINE Mail habe ich jedenfalls NICHT beantwortet. Für IHN habe ich jedenfalls NICHT genügend Zeit. “Und ich dachte mal, wir seien Freunde …”
Und? Nichts und! So ist es.
Mahnend zitiert Martin einen Spruch, der bei Sarahs Mutter “in eingebrannter Schrift auf Holz” im Flur hing:
Sollen die Raben dich nicht umschrein,
mußt du nicht wollen
Hahn auf dem Kirchturm sein.
Wie wichtig, wie lebensnotwendig KOMMUNIKATION sei, hat man unserer Generation eingebleut. KOMMUNIKATION – das Wort wurde intoniert mit einer Inbrunst, als handele es sich um: Sauerstoff. Oder: frisches Wasser. Wie wichtig, wie lebensnotwendig die Vermeidung von Kommunikation sein kann, hat man uns nicht gelehrt.
Tot ist Henri Jardy, genannt Cornet, der zum Sieger der Tour de France 1904 erklärt wurde, als man den vier Erstplazierten nachweisen konnte, dass sie eine Abkürzung genommen hatten.
Mittwoch, 17. März 2010 – Sechzehnuhreins, vierzehnkommadrei Grad. Die Tür zur Dachterrasse offen. Fast schon Frühling.
Zufällig auf dem Hauptfriedhof das Grab eines Horst Slesina entdeckt. Zu Hause den Namen in die Suchmaschine eingegeben und auf ein Buch gestoßen, dessen Titel genauso lautet wie die Aufschrift auf dem Grabstein des Autors: “Die Fährte des Löwen”. Das Buch bestellt, erhalten und gelesen und dabei einem deutschen Saftsack ganz eigener Güte begegnet. Als einer der führenden Werbeleute hat er für Mercedes Benz gearbeitet (“Ihr guter Stern auf allen Straßen”), für die Zigaretten-Industrie (“Aus gutem Grund ist Juno rund”), für Brauereien (“Prost Henninger – das schmeckt”) und für die CDU. Dass er zuvor einer der eifrigsten Hörfunk-Propagandisten der Nazis gewesen ist, erfüllt ihn noch 1993, als seine Erinnerungen unbeanstandet im Universitas Verlag erscheinen, mit Stolz: “Die Menschen sollten nur noch als Masse gelten, und die Diktatur des Proletariats sollte die Wahnideen des Marxismus dem Staat und den Menschen aufzwingen, bis alles in hoffnungslos grauem Dahinvegetieren endete. Den offenen Kampf dagegen nahmen die nationalsozialistischen Sturmbatallione auf … Ihre geistigen Führer legten ein Programm vor, das für die Würde und Individualität des Menschen stand, für die Verteidigung der abendländischen Kultur, für eine humane Wirtschaft und das Bekenntnis für das Recht des deutschen Volkes auf einen ihm gemäßen Rang unter den Völkern.”
Nachdem Ulrich Maurer von der Linken das so genannte Parteiensponsoring kritisiert hat, wirft sich der CDU-Abgeordnete Ingo Wellenreuther für seine Herren ins Zeug: “Es ist unerträglich, dass Sie wieder einmal bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland bewusst den Eindruck erwecken, man könne in unserem Land politische Entscheidungen kaufen.” Als ob es dazu einer Opposition bedurft hätte. Als handele es sich um einen: Eindruck.
Seltsame Angewohnheit, die mir erst jetzt auffällt: Dass ich bei den meisten Zeitungsartikeln zuerst Titel und Untertitel lese, dann den letzten Absatz, irgendwo in der Mitte noch einmal schnuppere, um erst dann zum Anfang zu springen.
Luchino Visconti ist tot.
Dienstag, 2. März 2010 – Sechzehnuhrachtzehn, neunkommadrei Grad. Sonnig.
Was mich noch interessiert:
Die Sonne.
Wie es wäre, einen Tag in der Haut des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch zu stecken, seine Kleidung zu tragen, mit seinen Augen zu sehen, mit seinem Kopf zu denken, seine Gefühle zu fühlen. Und seine Sätze zu sagen.
Die Ermittlungsakten der Entführung und Ermordung von Jakub Fiszman.
Der Richter, der sich in der Nacht von Sonntag auf Montag im Treppenhaus des Nürnberger Gerichts erhängt hat.
Die Geiselnahme von zwei Siemens-Führungskräften durch Mitarbeiter des Werkes in der Nähe von Lyon.
Die Sonne.
Heute vor einhundertsiebzig Jahren starb in Frankfurt Samuel Thomas von Soemmering, Anatom und Freund Georg Forsters. Ausgerechnet sein Grab habe ich am Sonntag nicht fotografiert.
Dienstag, 23. Februar 2010 – Siebenuhrachtunddreißig, achtkommadrei. Regen.
Am Samstag gegen 19.30 Uhr in der Alten Oper. Aber, Mist, dieses Konzert beginnt bereits um 19 Uhr. Und: “Kein verspäteter Einlass”. Also verpassen wir “Sacre du printemps”, bekommen aber nach der Pause Bruckners Dritte. Die Wiener Philharmoniker und Lorin Maazel. Fast schon erschreckend, wie gut dieses Orchester ist.
Endlich Kupers Grab auf dem Hauptfriedhof gefunden. Ein aufgeschlagenes Buch aus Marmor, darauf sein Spitzname: “Hamlet”, ein Foto und ein buntes Blechschild mit dem Heck eines rosafarbenen Cadillac und der Unterschrift: “Standard of the World”.
Fontanes “Unterm Birnbaum” – Keine sehr reiche Geschichte, das Milieu zu eng gewählt, die Figuren zu beschränkt, der volkstümliche Ton schwer erträglich. Aber zwei schöne Sätze im sechzehnten Kapitel, die klingen wie ein Bibelzitat, ohne eines zu sein: “Wir wandelten in Finsternis, bis wir das Licht sahen. Aber die Finsternis blieb, und es fiel ein Schatten auf unseren Weg.”
Lektüre: Fontane “Unwiederbringlich”.
Stan Laurel ist tot.
Samstag, 20. Februar 2010 – Achtuhrdreiundfünfzig, zweikommasieben. Nach drei sonnigen Tagen wieder grau.
Nach dem Beruhigungsmittel, das mir vor der Narkose verabreicht wird, sehe ich eine Karawane junger Kamele im Abendlicht durch die Wüste trotten. Und später, nach der OP beim Aufwachen und noch für Stunden: die Vision eines riesigen gebratenen Kalbskoteletts.
Abends dann auf dem Gang der Station randaliert, bis mir die Nachtschwester erst eine Ration starker Schlaftropfen verpasst und endlich doch die Fesseln abnimmt … Vom Krankenbett aus mit Ch. telefoniert: “Ich muss hier raus, ich gehe sowieso schon allen auf die Nerven”. – Der Pfleger, der es mithört, von weitem: “Stimmt!”
Wie ich einmal irrtümlich für einen Privatpatienten gehalten wurde und mich für kurze Zeit im medizinischen Himmel fühlte …
Drei bis fünf Monate soll es dauern, bis die Schulter wieder voll bewegungsfähig ist. Wenn es wenigstens jemanden gäbe, den ich dafür schlagen könnte …
“Die mussten weg – Feierabend”, sagte der 72-jährige Rentner aus dem Landkreis Viersen in seinem Geständnis. Er hatte zwei Anwälte und einen Immobiliengutachter erschossen, weil sie – wie er meinte – den Verkauf des Hauses seiner Tochter verzögert hatten.
Gestern Dreh mit Simone Jung und dem HR-Team. Konzentriert, lässig, lustig. Und im Archiv in Wiesbaden wieder die Akten zum Fall Helga Matura. Lese mich sofort aufs Neue fest und komme in denselben Rausch wie vor zwei Jahren. Und der freundliche Herr Pult bietet an, auch mal bei einer weniger spezifischen Suche nach neuen alten Fällen zu helfen.
Gelesen: Piwitts traumhaftes Geschichtenbuch “Heimat, schöne Fremde”. Walsers “Mein Jenseits”. Von Schirachs “Verbrechen”.
John Dowland ist tot.
Dienstag, 9. Februar 2010 – Siebenuhrvierundfünfzig, minus vierkommaeins. Grau.
Nun, da Helene Hegemann entzaubert ist und Willi Winkler in der SZ das Nötige dazu gesagt hat, fragt man sich doch, wie es zu diesem Schub medialen Irrsinns hat kommen können. Es scheint, als seien jene, die noch vor Jahren die “Verschwörung der Idioten” in den Feuilletons beklagten, selbst zu den erfolgreichsten Verschwörern geworden. Und nunmehr auch zu düpierten Idioten.
Gestern im Kammerspiel Racines “Phädra” in der Inszenierung von Reese. Fast schon ein Erweckungserlebnis. Richtiges Theater mit richtigen Schauspielern, die in richtigen Kostümen richtige Texte sprechen. Freilich, so könnte, so dürfte man heute nicht mehr schreiben. Aber warum berührt einen das vor 330 Jahren so Geschriebene dann mehr als die meisten Texte heutiger Autoren?
Heute vor zehn Jahren starb in seiner Hamburger Wohnung der Maler Hans Platschek bei einem Schwelbrand, der durch seine brennende Havanna-Zigarre ausgelöst wurde.
Montag, 8. Februar 2010 – Dreizehnuhrachtunddreißig, minus zweikommanull. Bedeckt.
“Dein Gott und mein Gott sind das gleiche”, sagte Kerbalaj. – “Alle haben nur einen Gott, nur die Menschen sind verschieden. Welche sind Russen, welche Türken oder welche sind englisch – es gibt viele Menschen, aber nur einen Gott.” “Gut. Wenn sich alle Völker vor dem einen Gott verneigen, warum seht ihr Muselmanen dann in den Christen seit Jahrhunderten euern Feind?” “Warum bist du so böse?” sagte Kerbalaj und umfasste mit beiden Händen den Bauch. “Du bist Pope, ich Muselmane, du sagst – ich will essen, ich gebe dir … Nur der Reiche unterscheidet, welcher Gott deiner ist, welcher meiner ist. Dem Armen ist es gleich. Iß, bitte.” Aus: Anton Cechov, Ein Duell
Todestag von Max Liebermann.
Sonntag, 7. Februar 2010 – Siebenuhrneunundfünfzig, zweikommadrei. Der Himmel gefleckt mit was Blau drin. Und vor dem Haus im schrundigen Matsch reckt sich das erste frische Grün.
Vor drei Wochen das erste Mal beim Arzt gewesen und immer noch keine haltbare Diagnose. Wahrscheinlich: Abriss einer Schultersehne. Das ganze Procedere ist absurd. Die Kernspintomographie von Freitag auf Dienstag verschoben – weiter abwarten. Und dann um einen neuen Termin beim Orthopäden betteln.
Über allem Gezeter nicht zu vergessen: Die schöne Moholy-Nagy-Ausstellung in der Schirn, die ich auch wieder verpasst hätte, wenn mich Schimmel nicht verführt hätte.
Mit den beiden Boehnckes zur Vorpremiere der “Akte Rosenherz” in die Sektkellerei Bardong nach Geisenheim. Uff, über zweihundert Leute. Läuft wunderbar. Hinterher noch lange gesessen, gegessen, getrunken. Spät. Schwer. Heim.
“Wer verrückt ist, gehört zu uns”, habe seine Mutter immer gesagt, erzählt Nemec am Telefon.
Beim Aufräumen das Interview mit Sophie Rois gefunden, die einen hübschen Satz von Pollesch zitiert: „Draußen tobt der Konsens, während ich hier drinnen versuche, Tradition und Anarchie gleichermaßen aufrechtzuerhalten.“
Aus Stefan Zweigs “Schachnovelle”: “Mit derselben selbstverständlichen Geste, mit der unsereiner in einer Buchhandlung einen angebotenen schlechten Detektivroman weglegt, ohne ihn auch nur anzublättern, trat er von unserem Tische fort und verließ den Smoking Room.”
Aus Michael Connellys “Nine Dragons”: “There were no surprises left when it came to motivation for murder.” Obwohl die Schlichtheit, mit der Connelly diesen wirklich spannenden Roman auflöst, schon überraschend ist. Und enttäuschend.
Heute vor 31 Jahren starb Josef Mengele beim Baden.