Donnerstag, 28. Mai 2009 – Fünfuhrsechsundzwanzig, zwölfkommaacht. Ist ja immer noch so windig. Bedeckt.
Eben, um kurz nach fünf, die Terrassentür geöffnet, raus in die Dämmerung gegangen, kleine Runde durch den Garten gedreht, rundum sind noch alle Rollläden unten, allein in der Welt, leise die Stadt, paar Vögel undsoweiter, einfach auf die Stockrosen geschaut, zehn Minuten lang, an nichts gedacht, nur stumpfsinnig gestarrt. Und dabei glücklich gewesen.
Tot ist Georg Popel von Lobkowicz … Der hieß halt so.
Montag, 25. Mai 2009 – Sechsuhrzwanzig, achtzehnkommasieben. Wach seit fünf. Wird heiß heute.
“Ich werde nicht älter, ich werde besser!” – Es muss schon nah an der Verzweiflung sein, wer ein T-Shirt mit solch einer Aufschrift trägt.
Samstag, 14 Uhr, zur Friedberger Warte mit dem Olmo. Gipetto, der die kleine Tour ausgerufen hatte, kommt nicht. Aber leuchtend wie die Sonne und immer schlanker werdend: Jörg. Die Friedberger runter, zu Gipettos Werkstatt. Ein Lämpchen brennt, das Gitter ist geschlossen. Wir klopfen und klingeln. Nichts. Also machen wir unsere Runde zu zweit: Depot, Wehrheim, zurück dieses hübsche Stück zwischen Saalburgsiedlung und Lochmühle hindurch. Nicht hübsch hingegen, was Jörg unterwegs zu erzählen hat. Und auch nicht, dass mir eine Speiche am Hinterrad bricht und ich den Rest der Strecke im Wiegetritt fahre, um das Gewicht nach vorne zu verlagern.
Schnell duschen, umziehen. Mit dem Wagen nach Bensheim. Uff, was für ein Prollkaff. Wir wollen noch eine Kleinigkeit essen, aber überall nur diese Schnellfressen mit Monoblockstühlen davor und ein Volk …
Im grauenhaft hässlichen Parktheater dann das wunderbar feine Quatuor Ebene mit Haydn, Debussy und Schubert. Inmitten der abonnierten grauen Honoratioren.
Sonntag um halbneun die Egelsbach-Tour “Rund um den Flughafen”. Mit dem schwarzen Stevens. Gut siebzig Kilometer. Flach, Erdbeeren Spargel. Spargel, Erdbeeren, flach. Es ist so langweilig, dass man sich wünscht, ein Flugzeug würde in die Felder stürzen … Schon gegen Mittag zurück. An den Schreibtisch.
Dann essen, dann wieder Schreibtisch, 20 Uhr die Auktion, das Scapin gehört mir: Spirit R 8 – nur der Rahmen samt Gabel. Das Projekt “Leichter Stahl” geht weiter …
Mit Bernd ins Musikzimmer. Erstes Herantasten an das Liebesprogramm. Als er mir dann das Elslein-Lied vorspielt und ich die Villon-Ballade darüber spreche, ist so ein erster magischer Moment erreicht. Und damit klar: Es wird gelingen. Und viel Arbeit sein.
Tot ist Sonny Boy Williams
Dienstag, 19. Mai 2009 – Vieruhrzweiunddreißig. Neunkommasechs. Die Autobahn …
Fünf nächtliche Selbstporträts … Was man alles machen kann, um sich vom Arbeiten abzulenken.
Damit es nicht verloren geht – Gestern hat Jörg ein schönes Kant-Zitat gepostet, das wahrscheinlich superberühmt ist, das ich aber nie gelesen hatte: “In der Mode sein, ist eine Sache des Geschmacks; der außer der Mode einem besonderen Geschmack anhängt, heißt altväterisch; der gar einen Wert darin setzt, außer der Mode zu sein, ist ein Sonderling. Besser ist es aber doch immer, ein Narr in der Mode als ein Narr außer der Mode zu sein, …”
Endlich auch die Briefstelle gefunden, in der Thomas Mann über das Sexuelle schreibt: “Das Ausrotten eines schlechten Triebes geschieht allerdings nicht plötzlich mit einem moralischen Aufraffen; das bedeutet garnichts, und man ist bei einem unvermeidlichen Rückfall nur desto verzweifelter. Es ist ein langsames, behutsames Schwächen und Abdorrenlassen des Triebes nötig, wobei alle möglichen intellectuellen Kunstgriffe mithelfen, die einem der Selbsterhaltungsinstinkt suggeriert. Schließlich ist man viel zu sehr homme de lettres und Psycholog, als daß man nicht nebenbei seine überlegene Freude an solcher Selbsthandlung haben sollte. Irgendwelches Verzweifeln wäre in Deinem Alter unsinnig. Du hast Zeit, und der Trieb zur Ruhe und Selbstzufriedenheit wird die Hunde im Souterrain schon an die Kette bringen.” (Aus einem Brief an seinen Freund Otto Grauthoff, 1896)
Mal gucken, wer tot ist … Oh ja, zum Beispiel Saint-Simon, Hawthorne, José Martí, Karl Radek, Charles Ives, Jacky Onassis, Hans Wollschläger …
Sonntag, 17. Mai 2009 – Vieruhrdreiundfünfzig, neunkommanull. Im Osten beginnt der Tag mit rotvioletten Schlieren am Himmel. Seit kurz nach vier wach, aber gut …
Gestern Ründchen durch die Wetterau. Über mir dräuen die Wolken, aber bis auf ein paar Tropfen bleibt es trocken. Auf der steilen Abfahrt nach Windecken merke ich wieder, wie sehr das Olmo flattert. In Bruchköbel Besuch bei P. und I. Dann heim, dann Forellen, dann wieder Stahl, Stahl, Stahl.
Ich befinde mich in diesem Tagebuch an Orten, an denen ich mich nicht befinde, begegne Menschen, denen ich nicht begegne, tue Dinge, die ich nicht tue. Das Ich, das hier schreibt, bin nicht ich. Dieses Tagebuch ist ein Roman. Steht ja auch drüber. In Romanen wird die Wahrheit erfunden und sind die Erfindungen wahr.
Wenigstens hat Wolfsburg …, wenigstens haben die Bayern nicht …
Heute ist Todestag von Johnny Guitar Watson. Lange nicht mehr gehört …
Montag, 11. Mai 2009 – Sechsuhracht, dreizehnkommafünf. Bedeckt. Wach schon wieder seit vier.
Gestern Morgen nach Hanau-Kesselstadt in die kleine Reinhardskirche. Hundert Meter davor begegnet mir Sascha, der noch eine Runde mit dem Hund dreht. Dann Tanja, Alissa. Peter liest zum ersten Mal aus seinem Roman “Die Ängstlichen”, der im September erscheinen wird. Und gleich hier nebenan in diesem verwinkelten Fachwerkviertel, in der Ankergasse, spielt das Buch. Es scheint, als sei P., nun, da das alles lange genug her ist, da er weit genug weg lebt, ganz bei sich und seiner Geschichte angekommen. Der Text hat eine unglaubliche Wucht, ist erfahrungs-, wirklichkeitssatt und gleichzeitig kunstvoll überformt. Wie auch sonst hätte diese Menge an Material bewältigt werden sollen. Am meisten rührt mich eine kleine ländliche Impression: Licht, Geruch, Luft, Kühe, Grün. Ich ahne: die Wahrheit sagen, gerecht und zugleich gnädig bleiben – das war wohl eine der Schwierigkeiten bei der Arbeit an diesem Buch.
Nachmittags mit Ati nach Offenbach in den Bücherturm – “Ein kleiner Abend Glück”. Ute, Oda, Volker, Frau Kulzer, Herr Buchholz – man sieht und spürt so viele wohlgesinnte (oder heißt es: wohlgesonnene?) Blicke, dass eigentlich nichts schief gehen kann. Geradezu taumelig gut klappt das Programm dann auch, nachdem letzte Woche bei der Probe noch so Vieles gehakt hat. Plaudern, CDs signieren, rasch packen …
Dann schnell in die Frankfurter Stadtbücherei – schon auf der Straße geht die Sonne auf: Lotte mit Hugo. Drinnen Wein, Brezel, Texte … Aber ich habe nun eigentlich einen richtigen, echten, großen Hunger … stattdessen weiter: Wein, Brezel, Texte. Und auch hier alles gut, vergnüglich, gelungen, Boehnke at his best, nur dass mich am Ende des Abends die Erschöpfung wie ein Hammerschlag trifft und ich mich ohne Abschied verdrücke und zum Taxistand schleiche.
Durch mit Irmtrud Wojaks “Fritz Bauer” – Man darf wohl sagen, dass es ohne den hessischen Generalstaatsanwalt keine maßgebliche juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen von Seiten der deutschen Gerichtsbarkeit gegeben hätte. Die Studentenbewegung wäre anders verlaufen, die geistige Geschichte der Bundesrepublik wäre anders verlaufen, hätte es diesen Mann nicht gegeben. Dass er unentwegten Schmähungen, Beleidigungen, Morddrohungen ausgesetzt war, versteht sich fast von selbst. CDU und FDP haben ihn, den remigrierten Juden, mit öffentlichen und nichtöffentlichen Kampagnen attackiert und aus seinem Amt zu drängen versucht. Und dann dieser grauenhaft einsame Tod in der Badewanne …
Philipp Müller ist tot.
Dienstag, 5. Mai 2009 – Zwölfuhrzwanzig, dreizehnkommaacht. Frisch, windig, bedeckt. Hoffentlich regnet es wenigstens, dass ich nicht auch noch gießen muss!
“Musst mal wieder bisschen öfter ‘Geisterbahn’ schreiben”. – Ja! Ja, doch! Ja, was denn noch alles? Kopf so voll, so leer, dass ich schreien möchte …
Freitag so durch die Stadt gezockelt mit dem Olmo. Friedhof, Joschi, Bahnhof, Römerberg. Treffe Jürgen mit zwei Schülern. Angenehm, wie respektvoll die drei mit einander umgehen. Wolfgang S. lädt Atilla und mich für den Herbst ins “Autorentheater” in die Brotfabrik ein. Sehr schön.
Abends bei den Metzlers. Gleich am Eingang Uwe getroffen, der seit vier Jahren dort arbeitet, wie er erzählt. Annette stellt mir Leo von Metzler vor. Großer, bescheidener Typ. Sehe Scharping im Garten stehen, wahrscheinlich sitze ich neben ihm, wegen Rennrad … Susanne Fröhlich sieht so aus wie sie heißt. Gucke weiter so rum beim Reden. Das Ganze hat so was Balzac-Flaubert-Goncourt-Pariser-Salon-mäßiges. Ist das etwa … das ist doch nicht etwa … Doch: Erika Steinbach … Sitze dann doch nicht neben Scharping, sondern neben der netten Gundula Gause. Eins weiter: Joachim Unseld. Und auch noch am Tisch: Müller-Vogg und Leisler Kiep. Was heißt eigentlich”illuster”? Spät mit dem Taxi heim.
Sonntag schöne, entspannte Ritzelrunde. C. macht sich lustig über unsere eitlen Kleidungs- und Geschmacksdebatten. Also bitte, man wird ja wohl … Die schwarzen Assos-Söckchen sehen doch wirklich scharf aus, oder. Und vorhin ist der neue Sugoi-Bib-Short gekommen. Fühlt sich gut an. Sitzt ganz schön stramm. Also: weiter abnehmen!
Gestern erste Textauswahl für das Liebesprogramm. Und eigenen langen Text geschrieben: “Brief einer Liebenden”.
Weiter an der Steuer. Die ganze Woche läuft die neue Dylan. “Forgetful Heart” ist zum Lieblingsstück geworden. Und auch weiter in dieser fantastischen Fritz-Bauer-Biografie. Eigentlich habe ich nie etwas Besseres über die verkommenen ersten zwanzig Jahre dieser Republik gelesen. Von wegen: Stunde Null.
Und während ich dort gestern Abend wieder auf den Namen Horst Schumanns stoße, sehe ich, dass dieser vieltausendfache Mörder, der hier nebenan beerdigt ist, aber hoffentlich nicht in Frieden ruht, heute Todestag hat.
Mittwoch, 29. April 2009 – Vieruhrneunundfünfzig, siebenkommaeins. Ziemlich laut schon da draußen.
Gestern ist die neue Dylan gekommen, gleich mehrmals gehört: Leicht, aber nicht unbeschwert. Bisschen zu viel “You-and-Me”-Themen. Viel zu entdecken. Nicht zuversichtlich, aber gelassener als früher. Gnädiger, freundlicher.
Als Blogger muss man geduldig sein wie ein katholischer Pfarrer. Egal, wie viele Leute vorbei schauen, die Kirchentüren werden offen gehalten, es wird weiter gepredigt.
In einem Brief aus dem Jahr 1946 an seinen Jugendfreund Kurt Schumacher schreibt Fritz Bauer über Willy Brandt: “Es gibt Genossen, die ihn für einen ‘Windhund’ halten, weil er manchmal smart ist wie ein Amerikaner. Daran ist etwas richtiges, er ist in der Emigration ein an den Westen, insbesondere Amerika assimilierter Journalist geworden.”
Im selben Jahr bewarb sich Willy Brandt bei der DANA, der Deutschen Allgemeinen Nachrichtenagentur in der amerikansichen Zone, wurde aber von dem verantwortlichen amerikanischen Captain als zu “rechts”, zu kritisch gegenüber den Sowjets abgewiesen.
Das erfährt man aus Irmtrud Wojaks wunderbarer Fritz-Bauer-Biografie, wo sich auch das Zitat von Georg-August Zinn findet, des langjährigen hessischen Ministerpräsidenten, der noch 1959 sagte: Hessen wird “ein sozialistisches Bollwerk gegen alle restaurativen Bestrebungen bleiben.”
Von Frau Engel die Nachricht, dass “Ein allzu schönes Mädchen” bei den Ausleihzahlen der Frankfurter Stadtbibliothek im Jahr 2008 hinter “Harry Potter und der Halbblutprinz” und “Tintenherz” an dritter Stelle stehe.
Kommentar C: “In Lüdenscheid und Passau sind die ersten beiden Plätze wahrscheinlich genauso besetzt …”
Am 29. April 1815 starb in einem Wiener Bordell Hölderlins Freund Isaac von Sinclair.
Samstag, 25. April 2009 – Siebenuhrachtzehn, vierzehnkommafünf (ach so, der Temperaturfühler liegt in der Sonne). Wird gut.
Vor dem Essen: “Mmmh, riecht’s hier aber gut!”
Nach der Mahlzeit: “Puuh, hier riecht’s nach Essen!”
Am Dienstag mit Demski und Herl bei Branko. Danach von Eva eine Mail: …”ein wunderbarer ort. wenn irgendwann die ordnungswüteriche nach ihm greifen, werden wir uns dort anketten, ja?”
Gestern mit einer Riesenrunde der LokomotiveRotesRitzel samt Sympathisanten in der “Linse” in Oberursel. Während wir auf’s Essen warten, werden Trikots probiert. Unglaublich gute, lässige Stimmung. Selten eine Ansammlung von Leuten erlebt, wo man sich so … läßt wie bei den “Ritzeln”. Respektvolle Nähe und sorgender Abstand …
Leider ist Alex doch nicht gekommen. Mit ihm, dem Lightbike-Spezialisten, hätte ich auch gerne mal mein “Projekt: Leichter Stahl” besprochen.
Am 25. April 1956 starb in Hödingen der Typograf Paul Renner – Erfinder der Futura.
Dienstag, 21. April 2009 – Fünfuhrachtundfünfzig, neunkommaacht. Peubleu der Himmel.
Wenn die Weigerung, sich auf ein Tandem zu setzen, ein Gradmesser für Asozialität ist, dann bin ich aber auch so was von heftig asozial …
1. Meldung – Der Linksextremismus ist nach Ansicht des Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, August Hanning, in jüngster Zeit gefährlicher geworden. “Wir sind in Deutschland zu tolerant gegenüber Gewalt. Wir dürfen nicht dulden, dass Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt ausgetragen werden”, sagte Hanning.
Andere Länder, andere Sitten:
2. Meldung – Fast jeder zweite Franzose findet es akzeptabel, wenn von Entlassung bedrohte Arbeitnehmer ihre Chefs aus Protest als “Geisel” nehmen. Nur sieben Prozent der Franzosen verurteilen nach einer Umfrage des Instituts Ifop für das Magazin “Paris Match” Geiselnahmen von Chefs. Aber 30 Prozent unterstützen sie ohne Vorbehalt und weitere 63 Prozent äußern Verständnis.
“Alle rechtsstaatlichen Errungenschaften beruhen auf revolutionärer Gewalt” Otto Schily (ehemaliger RAF-Anwalt, ehemaliger Bundesinnenminister)
Am 21. April 2004 starb an Herzversagen in einem Altersheim in Castel Gandolfo der SS-Sturmbannführer Karl Hass, der die Principessa Mafalda in einen Hinterhalt gelockt hat (worauf hin sie nach Buchenwald deportiert wurde), der gemeinsam mit Erich Priebke an dem Massaker in den Adreatinischen Höhlen beteiligt war und der 1969 in Viscontis Film “Die Verdammten” mitgespielt hat.
Donnerstag, 16. April 2009 – Zölfuhrfünfunddreißig, einundzwanzig- kommasechs. Der Himmel: bedeckt. Ich: wacklig.
Gestern lange mit Degenhardt telefoniert. Er bedankt sich für “Ein kleiner Abend Glück” und dafür, dass wir ihm die CD gewidmet haben. Wegen seines kranken Herzens könne er keine langen Gänge mehr machen. Und schlimmer werde es, statt besser … Nein, der Tellkamp habe ihm nicht gefallen, schreibe wie Thomas Mann, allerdings ohne Ironie, dabei hätte ihn, den Degenhardt, die niedergehende akademische Bourgeoisie in der niedergehenden DDR schon interessiert, aber so gehe es nun wirklich nicht. Stattdessen legt er mir den kleinen Roman “Tod eines Trüffelschweins” von Thomas Weiss ans Herz. Ein bißchen über die Franzosen und die Deutschen, über die Gegangenen und die paar Gebliebenen. Und dass er “das Dogmatische nie gemocht” habe. Was für ein Solitär in dieser Branche von Waschlappen … Eine Linke, die nicht lernt, von diesem Mann wieder zu lernen, ist nicht der Mühe wert.
Lektüre: Die wunderbare Fritz-Bauer-Biografie von Irmtrud Wojak, eine Sozialgeschichte vom 19. Jahrhundert bis in die späten Sechziger. Plötzlich bekommt man wieder eine Ahnung davon, dass es einmal eine starke Gruppe von Sozialdemokraten gab, die sich mit Stolz und Selbstverständlichkeit als Sozialisten, als Marxisten bezeichnet hat. Kann es denn wirklich sein, dass in Frankfurt kein Platz, keine Straße, keine Schule nach Fritz Bauer benannt ist?
Dabei auch auf Fritz Tarnow gestoßen …
Goya ist tot.
Ostersonntag, 12. April 2009 – Sechsuhracht, zwölfkommavier. Dämmert kräftig.
Vorgestern 140 Kilometer durch den Spessart. In Wiesen zwei alkoholfreie Weizenbier. Auf der Toilette ein Automat mit Kondomen: “Sechs Stück 4 Euro”. Daneben ein anderer: “Travel Pussy – Ein Stück 4 Euro”. Aber was, um Himmels Willen, ist eine Travel Pussy? Die Frage wird uns noch begleiten als wir unter der Banderole an der Fußgängerbrücke der B3 am Unfallkrankenhaus hindurchfahren: “Die dicksten Eier bekommst Du bei erodis – Erotic Competence Store”.
Was? Du kennst die Travel Pussy nicht? Die gibt’s sogar bei Neckermann! – Echt? – Ja, hier, schau: “Travel Pussy – Ihre Lust-Muschi für unterwegs! Lust auf einen Quickie? Dieser rosa-transparente Beutel ist einfach und schnell zu handhaben: Die selbstschließenden Kammern mit warmem Wasser füllen und Penis einführen. Warm und weich, wie von einer echten Muschi, wird ER empfangen… 24 cm Gesamtlänge, Ø durch Wassermenge variabel. Für den einmaligen Gebrauch. Inklusive Gebrauchsanweisung und Gleitmittel.”
Na dann …
Und, wie war die Fahrt? – Ach so, ja, schön. Ich war so kaputt wie seit dem Henninger-Rennen vor zwei Jahren nicht mehr.
Von Ati ein Link auf ein Video mit einer Rede Sarah Wagenknechts – “Ein bisschen steif” komme sie ihm vor. Und C: “Eine Mischung aus Snob und Stalin”. Aber wo sie Recht hat, die Wagenknecht …
Und von Susanne und Norbert der Hinweis auf einen Roman von Elke Vesper über Suzanne Valadon: “Schreckliche Maria”.
Tot ist Carl Ulrich. Über die nach ihm benannte Brücke bin ich schon oft gefahren, aber erst jetzt weiß ich, wer ihr Namensgeber war.
Karfreitag, 10. April 2009 – Vieruhrachtundfünfzig, elfkommaacht Grad.
Eine Woche lang hat er uns aufgejagt mit immer neuen Attacken und Unterstellungen. Und plötzlich ist Schluss. Jemand kann sich so sehr ins Unrecht setzen, dass man noch ein paar Mal ungläubig den Kopf schüttelt, schließlich die Schultern zuckt und denkt: Egal. Egal, was jetzt noch kommt, es geht mich nichts mehr an. Immerhin, jetzt weiß ich, was das Wort “heillos” bedeutet. Mehr noch: Es ist, als habe man dem Teufel in die Seele geschaut und wendet sich nun schaudernd ab. “Was er berührt, versteinert. Unter seinen Blicken erstirbt die Welt …”
Von Eva ein wunderbares Bändchen der Friedenauer Presse. Darin enthalten: Rosa Luxemburgs Büffel-Brief (der für Karl Kraus “zum Allerschönsten” gehörte und der ihn in seiner “Fackel” abdruckte), der Leserbrief einer Ida von Lill-Rastern von Lilienbach, Kraus’ Replik auf diesen Brief und schließlich Celans Gedicht “Coagula” vom Anfang der sechziger Jahre, das sich direkt auf Luxemburgs Text bezieht: “Auch deine Wunde, Rosa. Und das Hörnerlicht deiner rumänischen Büffel an Sternes Statt …”
“Willst Du’s mal sehen?” fragt Ati leutselig. Als hätte ich den Tag über etwas anderes getan, als darauf zu warten, ES endlich zu sehen: sein neues KLEIN Quantum Pro Team, das ich dann fahren darf und von dem ich nach einer kleinen Runde mit dem niederschmetternd-erhebenden Gefühl absteige, nie auf einem besseren Rennrad gesessen zu haben.
Die Sängerin Little Eva (“Loco-Motion”) ist tot.
Dienstag, 7. April 2009 – Vieruhrachtundvierzig, schon zehnkommavier Grad. Laut die Autobahn.
Am Sonntag um zwei Uhr aufgewacht und nicht wieder eingeschlafen. Um kurz nach acht Richtung Eppertshausen. Dann 110 Kilometer durch Rodgau und Odenwald mit dem Pinarello.
Abends bei A. und S. zum Essen. “Wir alle haben doch geglaubt, es gehe immer so weiter”, sagt S. “Aber wir können so nicht weitermachen. Wir müssen neu über unsere Werte nachdenken.” Es dauert eine ganze Weile, bis ich merke, dass er über die Krise spricht und mit “wir” das Bürgertum meint, die Banker, das Management, mithin: “die Stützen der Gesellschaft”. Früher habe als fester Grundsatz gegolten, dass der Chef das Zwölffache oder maximal das Zwanzigfache seines Portiers verdienen dürfe, um noch erhobenen Hauptes und unbehelligt durch seine Firma gehen zu können. Aber heute, die Raffkes, die Absahner, das Hundert-, ach was, das Tausendfache, das könne ja nicht gut gehen: “Wir müssen einen neues Maß finden”, sagt er. Aber wieso glaubt er, dass ausgerechnet ich mich dazu zähle zu diesem “wir”, zu diesem selbstverlorenen Bürgertum, das seine Töchter und Söhne zwar noch Griechisch und Latein lernen lässt, aber weit mehr als nur die eigene Herkunft vergessen hat?
Aber schon interessant: es geht wirklich ein leises Zittern durch diese Stützen.
Gestern Brief an J. und Garten: Pfirsichbäumchen, gemeine Wegwarte. Himbeeren entgrasen, Unkraut raus, Nacktschnecken einsammeln … Abends ein aufregender Film im Bayerischen Fernsehen über Erich Epple, den Bruder jenes Richard Epple, der 1972 auf dem Höhepunkt der RAF-Hysterie siebzehnjährig mit unzähligen Schüssen aus der Maschinenpistole eines Polizisten erschossen wurde. Er war betrunken Auto gefahren und hatte sich einer Kontrolle entzogen.
Tot ist Suzanne Valadon. Mal näher mit befassen!
Samstag, 4. April 2009 – Fünfuhrdreiundfünfzig, elfkommasechs Grad. Um halbvier aufgewacht. Und seitdem schon wieder im Stillen gehadert.
Was für schöne Tage – die Sonne, die Knospen, die laue Luft, das Grün, die ersten Hummeln, die Vögel, ein Goldfasan am Wegrand. Fast möchte man noch einmal leichthin seinen Frieden machen mit der Welt …
… aber dann ist es, als habe – in Gestalt eines Freundes – das Böse selbst seinen Auftritt.
Am 4. April 1945 starb im Alter von achtunddreißig Jahren der französische Widerstandskämpfer Jean Burger im KZ Dora.
Am 4. April 2003 starb im Alter von dreiundneunzig Jahren der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Paris Helmut Knochen. Er war verantwortlich für die Deportation von 200.000 Franzosen in verschiedene Konzentrationslager.
Mittwoch, 1. April 2009 – Neunuhrneunundvierzig, elfkommasechs. Sonnig, soll immer noch besser werden.
Gestern Abend die CD-Premiere von “Ein kleiner Abend Glück”. War aber viel zu viel, um heute schon drüber schreiben zu können. Viel zu schön, viel zu aufregend. Deshalb nur das dynamische Foto eines dynamischen Menschen.
Makarenko ist tot.