Geisterbahn

Donnerstag, 29. Januar 2009Elfuhrdreiundfünfzig, einskommasieben. Wetter, gar nicht so schlecht.

Mary Coleridge: The Blue Bird

The lake lay blue below the hill,
O’er it, as I looked, there flew
Across the waters, cold and still,
A bird whose wings were palest blue.

The sky above was blue at last,
The sky beneath me blue in blue,
A moment, ere the bird had passed,
It caught his image as he flew.

Tot ist Carl Georg Schilling, Großwildjäger und Fotograf, der ein Buch geschrieben hat mit dem schönen Titel “Mit Blitzlicht und Büchse”.


Dienstag, 27. Januar 2008
Sechsuhracht, nullkommasieben Grad. Dunkel.

Tag drei nach dem Sturz. Am Samstag einfach in einer vereisten Kurve mit dem Pinarello weggerutscht. Heute um halbvier mit Schmerzen aufgewacht. Prellung am Oberschenkel, drei Rippen gequetscht, linke Hand geprellt, die Stirn aufgeschlagen, Auge zugeschwollen, riesiges Hämatom. Sitzen, stehen, liegen, husten, lachen, niesen – alles fällt schwer, tippen geht nur mit Mühe … Sieht grotesk aus. Gestern das erschrockene Gesicht der Postbotin, als ich die Tür öffne und sage: Erschrecken Sie bitte nicht …

Und auch hier funktioniert nichts mehr richtig. Lassen sich keine Fotos mehr hochladen. Ati hat Recht, wir müssen mit der Website umziehen, so schnell wie möglich …

An den letzten Abenden ein wenig in Alexander Kluges “Kapital”-Film geschaut. Manchmal schlicht bis zur Idiotie, dann wieder kleine Leuchttürme: wie einige Sätze und Gedanken aus dem Gespräch mit Dietmar Dath.

Und gestern wieder ein Highlight der “Kulturzeit”-Moderation.

Todestag von Erich Heckel – ist aber auch erst 1970 gestorben, was mir nicht klar war. Am 20. März 1939 haben die Nazis 1004 seiner Gemälde und 3825 seiner Aquarelle verbrannt.

Freitag, 23. Januar 2008 – Elfuhrzwanzig, dreikommazwei. Nass.

Eigentlich hatten die Vier schon mit der Ansage gewonnen. Lauter, schneller Auftakt. Bass, Schlagzeug, zwei Gitarren. Atilla spricht stakkatoartig ein paar türkische Worte, dann schreit er, als sei es die Erfüllung all seiner Wünsche, den Namen der Band ins Mikrofon: TEAM KOOORAP! Und los gehts. Nervös, erregt nehme ich alles in zehnfacher Vergrößerung wahr, was er da vorne treibt. Seine Bewegungen, sein Mienenspiel, die Blickwechsel mit den anderen Musikern. So angespannt er vorher war, jetzt löst sich alles in dieser unglaublich lässigen Show. Man merkt, dass er ganz bei sich ist. Mal katzenhaft leise, mal roh und direkt, mal verhalten, mal herrisch. Perfekter Wechsel der Töne.
Und wir können sagen, dabei gewesen zu sein, bei der öffentlichen Geburt dieser Kraftmaschine: TEAM KORAP! In der Klappergass. Im Bett. Vorgestern.

Aber einmal wäre ich fast aufgesprungen und hätte den vorlauten Strickmützen, die sich da rechts vor der Bühne lümmelten, eine Portion Ehrfurcht beigebracht. Und als dann auch noch diese dumpfe Nuss beim leiseleisen “Hallelujah” klippklapp quer über die Tanzfläche stöckelte … Na, was? Nee, sag ich nicht.

Heute vor zwanzig Jahren starb der grauenhafte Dalí.

Mittwoch, 21. Januar 2009 – Fünfzehnuhrneununddreißig, vierkommazwei Grad. Kommt doch glatt die Sonne raus.

Am Mittag Peter “Hamlet” Kupers Beisetzung auf dem Hauptfriedhof. Was für Figuren sich hier versammelt haben. Halbseiden, zu lange, zurück gekämmte Haare, Sonnenbrillen, dicke Uhren, Leopardendamen, Klunker, Fliegermützen, Seidenschals, Porschefahrer, Stiefelknechte, gestandene Schlucker, zerstörte Gesichter. Lächerlich, gewiss, aber doch auch eine ganz eigenartige, antibürgerliche Renitenz, die sich hier eingefunden hat. Gestern waren es zwei Monate her, dass Kuper im Marienkrankenhaus gestorben ist. Noch vorgestern wollte ihn die Stadt in einem anonymen Grab verscharren, bis sich in letzter Minute doch noch ein paar Freunde fanden, die ihren Obulus gaben, um das zu verhindern. “When I’m dead and gone” wird vom Band gespielt. Vorne, wo seine Urne steht, ein paar Fotos, eine amerikanische Flagge, sein schwarzer Hut und seine spitzen Sternchenstiefel. Eine Freundin, die Yoga-Lehrerin Rita Hallstein, die ihn seit vierzig Jahren kannte, erzählt über seinen letzten Abend. Dass er nicht mehr habe leben wollen, dass er auf die Welt und die Stadt, wie sie jetzt seien, geschimpft habe, dass er müde gewesen sei … Ein guter Mensch, das sagen auch die anderen. Vor allem: ein guter Mensch. Der es kaum verwunden habe, als sein Penny-Markt auf dem Oeder-Weg geschlossen wurde – woher er doch immer seine geliebte Dosen-Erbswurst bezogen … Ein langhaariger Gitarrist namens Matthias singt und spielt “I walk the line”. Und zum Ausgang vom Band: “Ain’t no sunshine”. Ein paar Kaspereien am Grab, dann will man ins “Mal sehn” in die Adlerflychtstraße fahren, wo seine Bilder ausgestellt seien, die man kaufen könne, um die Grabpflege zu gewährleisten. Na ja, aber da muss ich jetzt vielleicht doch nicht mehr mit …

Würde man doch auch einmal bei der Wahl eines deutschen Politikers so viele befreite, ja, erlöste, hoffnungsvoll lachende Gesichter von Armen, Einwanderern, Alten und Kindern sehen wie gestern, bei der Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten.

Eigentlich ein gutes Zeichen, dass die Börsen nach Obamas Antrittsrede eingeknickt sind.

Champion Jack Dupree ist tot.

Dienstag, 20. Januar 2009 – Zwölfuhrzehn, fünfkommaeins. Bedeckt. Fenster gekippt. Keine Heizung an.

Gestern Abend im Raucherzimmer der Stalburg. Patricia, Herl, Atilla. Wir fummeln an der CD-Veröffentlichung von “Ein kleiner Abend Glück”. Fühle mich die ganze Zeit ungemein wohl. Warum eigentlich? Vielleicht, weil es das Beste ist, was man machen kann: lässig und konzentriert gemeinsam so ein kleines Ding drehen. Meine Kleidung stinkt hinterher wie in alten Burga-Zeiten.
Herl erzählt, dass Kuper am Mittwoch beerdigt wird. Aber wieso das? Wenn er doch schon im November gestorben ist.

Der Ausgang der Wahlen. Immer wieder nehme ich mir vor, dass mich das alles nichts mehr angeht. Und wie es mich dann trotzdem wieder aufregt. Und immer wählen die Kälber ihre Schlächter.

Im Netz zu finden tatsächlich ein paar kleine Filmchen aus den späten fünfziger, frühen sechziger Jahren mit Céline-Interviews. Und ein Chanson von ihm , das er offensichtlich auch selbst singt.
Nicht zu finden aber ist der schöne Nachruf von Wolfgang Hörner auf Uwe Gruhle, nach dem Norbert Schmidt heute Morgen fragte.

Tot ist Bettina von Arnim. “Die Welt ist Nebels voll …”

Montag, 19. Januar 2009 – Siebenuhreinundfünfzig, zweikommazwei. Dämmerig, bedeckt, aller Schnee getaut. Gut geschlafen dank Baldrian-Hopfen …

Unter der Rubrik Stellengesuche im Frankfurter “Blitztip”: “Psychisch kranker Masseur möchte auf Öltanker anheuern”.
Man möchte sich glatt einen Öltanker kaufen, um herauszubekommen, was da los ist.

Das schlimmste Ergebnis des gestrigen Abends: Die besinnungslose Stärkung der hessischen FDP, die mir so zuwider ist wie ihr stumpfsinniger Spitzenkandidat: “Macher und Mensch”, Gott ja, was für Krücken – amoralisch, ohne jeden Grundsatz außer dem einen, dass Markt und Geld alles regeln müssen – kulturlose Steinzeit. Diese ewig schnauzbärtigen Saunabrüder … Und heute Morgen auf den Titelblättern ihre triumphal in die Höhe gereckten Daumen … Erektionen der Dummheit.

Aus der noch unveröffentlichten Übersetzung eines englischsprachigen Thrillers: “Seine Stimme klang wie ein geräucherter Hering”.

Unbedingt merken: Nach der Eröffnung im Jahr 2010 die Sammlung von Achim Freyer in Berlin-Lichterfelde anschauen.

Auch nicht vergessen: Elina Garancas “Bel Canto”.

Heute vor zwei Jahren starb Wilson Pickett. Und seit zwei Tagen suche ich schon wieder dieses Amateur-Video mit dem wunderbaren Gezappel einer jungen Frau zu “Land of 1000 Dances” … Ah ja: “Dieses Video wurde aufgrund eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen entfernt.” Wenn es schonmal irgendwas Schönes auf dieser Welt gibt … Und jetzt? Hat niemand es rechtzeitig gespeichert?

Mittwoch, 14. Januar 2009Fünfuhrachtunddreißig, minus achtkommasechs. Dunkel. Wach seit halbfünf.

Meldung 1: Wie erst jetzt bekannt wird, sollen Beamte des Frankfurter SEK  nach ihrer Weihnachtsfeier kurz vor Heiligabend im Bahnhofsviertel eine Massenschlägerei mit den Türstehern eines Bordells angezettelt haben.

Meldung 2: Anders als bisher dargestellt, hat der 34-jährige Berliner Zivilbeamte, der am Silvesterabend einen unbewaffneten 24-jährigen Autofahrer getötet hat, auf diesen sofort und aus nächster Nähe geschossen. Von den acht Schüssen, die der Polizist abgegeben hat, war bereits der erste tödlich.

Meldung 3: Wie in vielen anderen Städten fand auch in Duisburg am Wochenende eine Demonstration gegen den israelischen Einsatz im Gaza-Streifen statt. Ein Student hängte aus Solidarität “mit der einzigen Demokratie der Region” je eine Israel-Flagge vor sein Wohnzimmerfenster und an seinen Balkon. Als die Demonstranten das Haus passierten, wurden Gegenstände geworfen und antisemitische Parolen gerufen. Die Polizei, anstatt dies zu unterbinden, trat die Wohnungstür des Studenten ein und entfernte die Fahnen. Die Demonstranten bedankten sich mit Jubel und Beifall.

Am 14. Januar 1941 starb im KZ Dachau der Kabarettist, Schauspieler und Conférencier Fritz Grünbaum

Montag, 12. Januar 2009Zehnuhreinundzwanzig, minus neunkommasechs. Hell bewölkt.

Am Freitag mit Jürgen und Jürgen auf die Autobahn. Was für ein Geschenk. Fünf Stunden später sind wir kurz vor Paris, aber irgendwo ein Unfall, Stau. Nochmal neunzig Minuten und wir haben die Place Nadaud erreicht. Kurz ins Hotel, dann ins Getümmel, Metro Place de la République, wir tapern die Rue du Temple runter, Durchblicke aufs Centre Pompidou.
Auf einer Kreuzung im Marais eine junge Frau – Handschuhe, dicke Mütze, Verkehrsweste, Stop-Kelle. Aber wieso steht die hier? Um den spärlichen Verkehr zu regeln? Die Ampeln, die sie nicht beachtet, funktionieren doch. Irritiert schaue ich sie an, weiß nicht, ob ich die Straße nun überqueren darf oder nicht. Sie senkt den Blick unter meinem, fixiert mich kurz darauf trotzig und fuchtelt entschlossen, aber uneindeutig mit ihrer Kelle. Erst jetzt merke ich: sie ist verrückt. Sie steht hier mit ihrer Schülerlotsen-Ausrüstung, um sich an der Welt zu reiben, so oder so. Mal weicht sie ängstlich zurück, dann wieder greift sie lächelnd an. Wie wir alle. Wie wir alle?
Place des Vosges, Bastille, dann nach Belleville, zuerst ins La Veilleuse, dann ins Röllchen. Und überall im Viertel diese jungen arabischen Frauen mit ihren Palästinensertüchern …
Am Samstag in den Südwesten nach Meudon. In der alten Villa, Route des Gardes 25, hat bis zu seinem Tod im Jahr 1961 Louis-Ferdinand Destouches gewohnt, der sich den Künstlernamen Céline gab. Und wirklich, am Briefkasten steht noch immer, fast achtundvierzig Jahre nach seinem Tod, dieser Name: Destouches. Ein junger Postbote weist uns den Weg. Weiter, bergauf, Richtung Bahnhof. Drüben, hinter der Mauer, sehen wir die Gräber. Vor ein paar Jahren waren wir schon einmal hier und sind vergeblich die Reihen abgeschritten. Aber der Angestellte auf dem städtischen Friedhof ahnt bereits, wen wir suchen: “Destouches? Da drüben, das elfte Grab …” Da stehen wir nun und kratzen das Eis vom Stein dieses alten Stinkers.

Ein paar Kilometer weiter östlich, in Bagneux, ein anderer Friedhof. Hier liegen die beiden Frankfurter Juden und Kommunisten Ettie und Peter Gingold. Der freundliche Thomas Willms vom Bundesbüro der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes hat es noch am Donnerstag für mich recherchiert. Aber der Friedhof ist wegen Schnee- und Eisglätte geschlossen, und der junge Wärter lässt sich nicht erweichen. Beim nächsten Mal …
Auf dem Weg zurück quer durch die Stadt … Das gesamte Viertel hinter der neuen Oper ist gesperrt und von Polizisten umstellt. Schon wieder eine pro-palästinensische Demonstration …

Am 12. Januar 1945 wurde Arthur Hoffmann in Dresden von den Nationalsozialisten ermordet.


Dienstag, 6. Januar 2009
– Sechsuhrundacht, minusachtkommanull. Dunkel. Weiß das Land.

“Meine Seele ist so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert …” Ja, ja, schon gut, der Frühling wird’s richten. Schließlich kann sich Obama nicht auch noch darum kümmern.

Am Sonntag der österreichische “Tatort”. Gar nicht so schlecht, immerhin schlafe ich nicht davor ein. Andererseits: Wie langweilig, dass man 250 Jahre nach der Aufklärung gezwungen ist, sich unentwegt mit ideologischen Sekten zu befassen – Islamisten, Nazis, Wirtschaftsliberale …

Über ein paar Dinge ist ein vernünftiges Gespräch mit mir nicht zu führen:
1. Selbst für möglicherweise berechtigte Kritik an der israelischen Regierung fühle ich mich nicht zuständig.
2. Obwohl kein Pazifist mehr, gibt es kein Argument, dass mich davon überzeugen kann, Auslandseinsätze der Bundeswehr seien akzeptabel. Allein die Existenz eines deutschen Heeres, ja, eines unabhängigen deutschen Staates ist mir nicht geheuer.
3. Dass der Kapitalismus eine historische Errungenschaft ist, habe ich begriffen. Dass er das letzte Wort haben soll, wird mir niemand einsichtig machen können.

Ein paar Minuten “Talk talk talk” auf Pro Sieben geschaut. Mordgelüste …

Tot ist der dänische Maler Richard Mortensen – es gab schlechtere.

Dienstag, 30. Dezember 2008 – Zehnuhrvierunddreißig, minus vierkommaeins. Sonnig. 

Heinrich Pommerenke, der am längsten einsitzende deutsche Häftling, ist im Gefängniskrankenhaus der Festung Hohenasperg nach 49 Jahren Haft gestorben. Der frühere baden-württembergische Justizminister Thomas Schäuble hatte seine Entlassung verhindert. In Hornberg, wo Pommerenke im Hotel “Bären” als Tellerwäscher arbeitete, hatte der mehrfache Mörder vor seiner Verhaftung im Jahr 1959 mit den Schäuble-Brüdern Fußball gespielt. 

In Südchina ist ein Fahrradfahrer ums Leben gekommen, weil er von einem Mann erschlagen wurde, der sich aus dem 35. Stockwerk eines Hochhauses gestürzt hat, wo er zuvor 12 Stunden auf dem Balkon gestanden hatte.  

Todestag von Sonny Liston und Heiner Müller. 
Montag, 29. Dezember 2008 – Dreizehnuhrvierzehn, nullkommadrei Grad. Heute morgen waren es minus sechskommafünf. Jetzt sonnig. Gut geschlafen.

Gestern kalte, strahlende, windige Runde mit dem Mountainbike an der Nidda entlang bis irgendwo hinter Karben. Zurück über Alt-Dortelweil, Dottenfelder Hof, Gronau, Rendel, Niederdorfelden, Hohe Straße. Gepeitscht. Drei Stunden unterwegs. Die Füße krampfen. Windhunde in Wintermänteln. Viele Läufer, Walker, Spaziergänger, Krähen, Raben, vereiste Pfützen, braune Blätter, vermooste Stämme.

Abends die Offenbarung: “Place de la République” aus der amerikanischen DVD-Edition “The Documentaries of Louis Malle”. Die französische Fassung mit englischen Untertiteln. Was für ein Film! Von der ersten Minute an ein Vergnügen. Malle hat sich ein paar Tage lang mit einem kleinen Team an die Place de la République gestellt, Leute gefilmt und sie reden lassen. Über ihre Herkunft, ihr Glück und Unglück, ihre Krankheiten und Hoffnungen. Sie lachen, grübeln, zögern, kokettieren, entziehen sich und kommen wieder zurück, um doch noch etwas zu sagen. Eine Comédie Humaine in 95 Minuten, für die man die Spielfilmproduktion eines ganzen Jahrzehnts getrost auf der Rolle lassen kann.  

Damit es nicht verloren geht: Zwei Rindersteaks in sehr kleine Streifen schneiden, scharf anbraten. Kurz bevor das Fleisch gar ist, zerdrückten Knoblauch dazu. Beiseite stellen. Zwei rote Zwiebeln halbieren und in feine Halbringe schneiden, eine Handvoll Zuckerschoten in Streifen schneiden, zwei bis drei Lauchzwiebeln in Streifen schneiden, einen oder zwei Chicorée entstrunken und in Streifen schneiden, von einer frischen roten oder grünen Chilischote sehr feine Ringe schneiden (Menge nach Belieben). Alles mit dem Fleisch vermischen und würzen mit: Fischsauce, Grapefruitsaft, Limettensaft, Teriyaki und eventuell einem milden Chutney oder Orangenmarmelade. Nochmals vermischen, kalt stellen, durchziehen lassen. Vor dem Servieren eine Handvoll Sprossen zum Salat geben und unterheben. Auf vier Teller verteilen und jede Portion mit ein paar leicht zerstoßenen Cashews und etwas zerkleinerter Minze bestreuen. 

Dazu vielleicht einen Faugères Extremus des Jahrgangs 2005 von Les vignerons les crus Faugères?
 
Heute vor zwölf Jahren starb Daniel Mayer, eines der führenden Mitglieder der Résistance. 
Sonntag, 28. Dezember 2008 – Achtuhrneunzehn, minus dreikommafünf. Fast hell. Wach seit fünf. 

Vorgestern zwei Mal mit dem Rad draußen. Abends Konzert in St. Katharinen mit Martin Lücker (Orgel) und Simon Gruppe (Trompete), danach im zweiten Anlauf “All the President’s Men”. Gestern Gotan Project, dann Kleibers Aufnahme von Beethovens Sechster, sehr liedhaft, dann den Tour-de-France-Film von Louis Malle und noch seine lange Dokumentation über das Citroen-Werk. Und weiter in Broken Shore. 

Im neuen “konkret” sprechen Gremliza und Svenna Triebler mit Karl-Heinz Dellwo, der auf die Frage “Warum will Christian Klar, warum wollen Sie sich nicht entschuldigen?” antwortet: “Weil der bewaffnete Kampf auch eine plausible Antwort in der Nachkriegsgesellschaft war.” War er? Weist nicht alles (zumal die Biografien der RAF-Leute) darauf hin, dass diese Einschätzung von Anfang an so dumm wie hybrisch war und einen nicht unmaßgeblichen Anteil am Niedergang der westdeutschen Linken hatte? Aber “konkret”, statt nachzufragen, setzt den Satz aufs Titelblatt.   

Neujahrsvorsätze eines Todgeweihten: 1. Wieder mit dem Rauchen anfangen. 2. Viel Alkohol trinken. 3. Das Konto bis an die Grenze überziehen und alles Geld ausgeben.

Tot ist der Hotelier, Waschsalonbetreiber und Sänger Rudi Schuricke. 

 

Freitag, 26. Dezember 2008 –Sechsuhrvierundvierzig, minus zweikommaeins. Dunkel. 

Nach dieser Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten hätte man Lust, eine Demonstration zu organisieren, vor seinen Amtssitz zu ziehen und ihn kollektiv auszulachen. 

Gestern Schlenker mit dem Wagen über Steinwand, Kleinsassen nach Danzwiesen an der Milseburg, dabei die dreißig Jahre alte Tonkassette mit einem Farantouri-Konzert und den Brecht-Liedern von Sylvia Anders wieder gehört – seit dreißig Jahren zum ersten Mal.  

Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert nach dem Attentat auf den Passauer Polizeichef von Bund und Ländern 500 Kriminalbeamte, die sich mit der Jagd auf Exremisten im Internet beschäftigen – denn die bestehenden Staatsschutzbeamten in den Polizeibehörden könnten “nicht auch noch im Internet ermitteln”. Aber wo denn dann? fragt man sich. Was tun die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und der Staatsschutzabteilungen denn überhaupt, wenn nicht dort ermitteln, wo die Kommunikation der Welt inzwischen stattfindet? Der Verfassungsschutz geht von 200 gewaltbereiten sogenannten “Autonomen Nationalisten” aus. Es gibt 16 Landesämter für Verfassungschutz mit tausenden Mitarbeitern, es gibt das Bundesamt für Verfassungsschutz mit 2500 Mitarbeitern. Und es gibt die Staatsschutzabteilungen der Kriminalpolizei. Da wird man doch ein paar Leute abstellen können, die in der Lage sind, die Handvoll Foren im Netz zu überwachen, in denen die rechte Klientel ihre Gesinnung verbreitet und zu Straftaten aufruft. Ein kursorischer Blick über die Leserkommentare des rechtsradikalen Störtebeker-Netzes bringt so viele justitiable Äußerungen zutage, dass es weiterer Ermittlungen gar nicht bedürfte, um hier strafverfolgend einzugreifen. 

Todestag des großen Hubbuch. Und immer noch nicht in Schloss Gochsheim im Kraichtal gewesen, um dort mal seine Sachen anzuschauen. 

Sonntag, 21. Dezember 2008 – Fünfuhrachtundzwanzig, sechskommanull. 

Peter “Hamlet” Kuper ist tot. Dieser Tage rief Werner Ost an und erzählte , dass Kuper bereits vor drei Wochen gestorben sei. Christian scheint es auch nicht gewußt zu haben … Am Krebs, in einem Darmstädter Krankenhaus, mit 71 Jahren … 
Von einem Freund gebeten, sich mit mir über seine Beziehung zu Helga Matura zu unterhalten – in den Ermittlungsakten nach ihrer Ermordung wurde er immerhin als Spur Nummer 1 geführt – soll er gesagt haben: “Wenn über eine olle Sache mal endlich Gras jewachsen ist, kommt sicher so’n Kamel jeloofen, das alles wieder runterfrisst.” 
Und wo ist er beerdigt worden? 

Seit Tagen, seit dem Attentat von Passau immer wieder auf den Seiten und in den Foren der autonomen Nazis unterwegs, wo man schneller als durch die Agenturen darüber informiert wird, was die Polizei gerade tut. Die Mischung aus dreister Offenheit und verschlagener Vorsicht, mit der diese Leute ihre Gesinnung hier dartun, bringt einen eigenen, ganz und gar diabolischen Ton hervor. Der Vorsitzende der rechtsextremen DVU wird beispielsweise als “Bücherjude” bezeichnet … 

Gestern mit Elsa und Jörg auf dem Ruppertshainer Berg, Blaufichten schlagen. Seltsame Stimmung hier oben in den wolkenverhangenen Wäldern des Taunus, nass, neblig, schrundige Schneereste, das Wasser tropft von den Nadeln der Bäume, alles braun, grün, grau, schwarz. 

Abends dann bei Atilla letzte Fummeleien an den Aufnahmen und am Booklet von “Ein kleiner Abend Glück”. Und jetzt? Sind wir glücklich? Fertig? Scheint so, oder! 

Und … wie weiter? Suchen wir uns ein neues Glück?

Lektüre: Peter Temples “The Broken Shore”. Die Stimmung erinnert stark an McCarthys frühe Bücher, das Land, die Wiesen, die Hunde, die Pfützen. Allerdings wirkt der allzu eifrige Einsatz des Gapping auch gleich wieder maniriert. 

“Sachen schreibst du hier manchmal …”

Lion Feuchtwanger ist seit 50 Jahren tot. 
 

Mittwoch, 17. Dezember 2008 –Vierzehnuhrsieben, zweikommanull. Grau.

Am Grab eines Massenmörders – Bei den Recherchen zur “Partitur” war ich auf den Namen Horst Schumann gestoßen. Vor ein paar Tagen hatte ich das städtische Grünflächenamt um Auskunft über die Lage von Schumanns Grab gebeten. Heute Morgen kam die Antwort: Er wurde auf dem Bornheimer Friedhof beerdigt, keine 600 Meter Luftlinie von unserem Haus entfernt. 
Schuman, 1906 in Halle als Sohn eines Arztes geboren, trat 1930 in die NSDAP ein. Nach seinem Medizinstudium war er Gutachter des Erbgesundheitsgerichtes in Halle und wirkte an Zwangssterilisierungen nach dem “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” mit. Anfang 1940 leitete er die Vergasung von 1.239 körperlich und geistig Behinderten in der Tötungsanstalt Grafeneck, wurde dann nach Sonnenstein/Pirna versetzt, wo er für den Mord an 13.720 Patienten und über 1.000 Häftlingen verantwortlich war. Er selektierte in Auschwitz, Buchenwald, Flossenbürg, Groß-Rosen, Mauthausen, Neuengamme und Niederhagen. In Auschwitz führte er Versuche zur “kostengünstigen und zeitsparenden” Massensterilisation mittels Röntgenstrahlen durch. Kaum eines seiner Opfer überlebte.
Nach dem Krieg war er Sportarzt in Diensten der Stadt Gladbeck und eröffnete dort 1949 mithilfe eines “Flüchtlingskredits” eine eigene Praxis. Als er 1951 enttarnt wurde, gelang ihm aufgrund der zögerlichen Ermittlungen die Flucht. Er arbeitete drei Jahre als Schiffsarzt und gelangte von Japan über Ägypten in den Sudan. Als man 1959 seine Spur wieder fand, setzte er sich nach Ghana ab, stand dort unter dem persönlichen Schutz des Staatspräsidenten Kwame Nkrumah und konnte erst nach dessen Sturz 1966 festgenommen werden. Am 17. November 1966 wurde er in Butzbach in Untersuchungshaft genommen. Im September 1970 begann vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess, der aber 1971 wieder eingestellt wurde, weil zahlreiche seiner Kollegen dem Angeklagten in zweifelhaften Gutachten bescheinigt hatten, dass er wegen seines hohen Blutdrucks verhandlungsunfähig sei. Schumann wurde aus der Haft entlassen. Er starb 1983 in Frankfurt-Seckbach. Obwohl ihm sein akademischer Grad bereits 1961 aberkannt worden war, steht auf seinem Grab: Dr. med. Horst Schumann.

Heute vor 16 Jahren starb der österreichische Schriftsteller und Philosoph Günther Anders (“Die Antiquiertheit des Menschen”).


Dienstag, 16.12.2008
 – Sechzehnuhrdreiunddreißig, einskommaacht. Fast dunkel.

Von Alex aus Ludwigshafen eine hübsche Trouvaille: Zwei Fotos einer unbekannten englischen Zeitfahrerin auf ihrem “Waller Flying Gate”.

Beethoven hat Geburtstag. 

 

Samstag, 13.12.2008 – Achtuhreinundzwanzig, nullkommasechs Grad. Bedeckt.

Gestern in der “Heute”-Sendung die Nachricht, dass die New Yorker Polizei den ehemaligen Chef der Technologiebörse Nasdaq festgenommen habe, der im Verdacht stehe, 50 Milliarden Dollar verzockt zu haben. 50 Milliarden Dollar! Und die Meldung dauerte höchstens eine halbe Minute.

Die Erfahrung hat Recht, bevor sie von der Erkenntnis Recht bekommt: Tacitus aß vor dem Zubettgehen gerne eine Schüssel Salat, weil er danach besonders gut schlafen könne. Heute weiß man, dass im grünen Salat ein opiumähnlicher Stoff enthalten ist, der die Nerven beruhigt.

Endlich Peter Temples “The Broken Shore” bestellt. Bin super gespannt und kann es kaum abwarten. Nur, dass Ekkehard Knörer dem Buch “elegante Starre” vorwirft, trübt die Vorfreude ein wenig. Und dass Lars Schafft von einem “Krimi für Männer” spricht … 

Lektüre: Jo Nesbo, Der Schneemann. Naja. Immerhin bleibe ich dran und bin fast durch. Viel zu eng gestrickt, das Ganze. Wer soll das alles glauben? Und warum muss eigentlich in so vielen neueren Kriminalromanen der Sex aus jeder Pore dunsten? Brrrh, dass man am Ende noch keusch werden möchte … Aber, wie man aus dem Buchhandel hört, die Leserinnen verlangen es … 

Tot ist Friedrich Hebbel, dessen Gedicht “Winterlandschaft” mich jedes Mal erschauern lässt, wenn wir es in “Ein kleiner Abend Glück” vortragen.  

 

Dienstag, 9. Dezember 2008 – Sechzehnuhrsieben, dreikommazwei. Schon fast wieder dunkel.

Irgendwas läuft verquer in dieser deutschen Krimiszene – es herrscht so ein mokanter Ton, so eine dauernde Bereitschaft, zuzuschnappen, so ein alles grundierendes hämisch-konkurrentes Verhalten, oft verhohlen, verborgen hinter einer flachen Ironie, so eine naseweise Schlaumeierei, eine lauernde Verteidigungsstellung, diese reflexhafte Erdmännchenhaltung, als müsse man immer und immer beweisen, dass man sich nicht mit einem Kulturgut minderer Güte beschäftige. Es wird gezackert und gegiftet, ohne dass man den Eindruck hätte, es ginge auch nur einmal um das Bemühen, zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen, stattdessen immer nur um: Selbstpositionierungen. Und ich ahne schon, dass auch auf diesen Eintrag wieder … Na ja, gurrt ungerührt die Taube auf dem Geländer der Dachterrasse, na ja …

Aber wäre es nicht interessant, die Frage zu beantworten, warum man plötzlich umgeben ist von intelligenten Menschen, die allesamt den Büchern Stieg Larssons erlegen sind – mithin einem Erzähler, der so offensichtlich alle Fehler macht, die ein Autor nicht machen sollte, dessen Bücher wohl nie lektoriert wurden, der die Grundregeln der Spannungsdramaturgie, der Glaubwürdigkeit, des Realismus über hunderte Seiten missachtet und der dennoch im Handumdrehen weltweit eine Gemeinde von Millionen Lesern gefunden hat? Freilich, sollte ich der Einzige sein, den die Antwort interessiert, wird ein entspanntes Gespräch darüber auf absehbare Zeit wohl nur als Monolog denkbar sein.  

Tot ist Viktor Agartz. 

Montag, 8. Dezember 2008 – Vierzehnuhrsieben, vierkommasieben Grad. Grau. 

Sie wollen und können es nicht begreifen, dass Kriminalromane nach anderen Gesetzen funktionieren als die avancierte Literatur. Gestern noch schlug ich Uwe L. vor, während des nächsten Krimifestivals mal eine Diskussion zum Thema “Stieg Larsson und seine Geringschätzung durch die Kritik” zu veranstalten, schon liefert Dieter Paul Rudolph im Titelmagazin das Futter dafür. So reflexartig wie genussvoll und erwartbar greift er die offensichtlichen literarischen Schwächen des Schweden an und merkt nicht, dass er mit seiner wohlfeilen Polemik mal wieder unter der Latte durchspringt. Andererseits: Will ich mich wirklich so tief in das Thema verbeißen, bis ich mir auch den letzten Vertreter der Branche zum Gegner gemacht habe …?

“Fernsehen braucht bewegte Bilder” – Wenn sich dieser Leitsatz aus den deutschen Anstalten mit einer gehörigen Portion Dummheit paart, dann entsteht so etwas wie der Schostakowitsch-Film, der am Samstag auf 3sat lief. Weil man offensichtlich nicht genügend bewegte Bilder hatte, musste man sich solche fabrizieren. Also ließ man den eitlen Müller-Stahl ein ums andere Mal betroffen in die Kamera glotzen, schnitzte sich Schostakowitsch und Stalin (ohne Witz:) als Marionettenfiguren, ließ diese steif und bedeutungsschwer durchs Bild hampeln und führte den hundertsten Aufguss jenes Rührstücks auf, das den Titel trägt: “Das Genie und die Bestie”. Heraus kam: Nichts!  
Himmel aber auch, was für ein Menschenbild, was für ein Geschichtsbild, was für eine Kapitulation vor allem, was den Namen Kulturjournalismus verdient gehabt hätte …    

Todestag hat Otto Kühne, der im Zentralmassiv eine Gruppe von 2700 Kämpfern der Résistance leitete und maßgeblich an der Befreiung der Departements Gard, Ardèche und Lozère beteiligt war. 

 

Freitag, 5. Dezember 2008 – Zwölfuhrsiebenundvierzig, siebenkommasieben. Bedeckt. Wird mal wieder nicht warm in der Bude. Werde nicht wach heute. Angeschlagen.

Vorgestern haben wir Renate Chotjewitz zu Grabe getragen. Sie ist, wie es heißt, einfach vom Rad gefallen und war tot. Was für eine unglaublich klägliche Veranstaltung das war an diesem nassen, verschneeregneten Tag in der kalten, monumentalen Trauerhalle mit ihrem Jugendstil-Tand. Eine verhärmte Pfarrerin – und sie war noch die Beste – hat ein paar dürre Worte gesprochen. Als gemeinsames Lied sollte die deutsche Fassung des alten Pete-Seger-Songs gesungen werden: “Sag mir, wo die Blumen sind”, was der Mehrzahl der Anwesenden so peinlich gewesen zu sein scheint, dass nur ein jämmerliches Brummen zu hören war. Nur ein alter, dicker Jude, der neben mir saß, mühte sich redlich. Naiv und rührend zugleich war das. Irgend eine wackere Literaturvereinstante haspelte noch ein paar wirre, unverständliche Worte, dann war das Ganze schon wieder vorbei. Die Söhne, offensichtlich einander entfremdet, wussten nicht sich zu verhalten, lagen sich am Sarg für ein paar Sekunden steif in den Armen, bevor sie das Weite suchten. Und der ewig dröhnende Pit, ihr Exmann, um den doch all ihr Schmerz bis zum Schluss kreiste, war nur in Form eines fetten Kranzes anwesend. Aussetzen wollte er sich dem wohl nicht, sich lumpen lassen freilich auch nicht. 
Eine Trauerfeier, so verhuscht-verzweifelt wie dieses ganze Leben – zum Gruseln. Eine dreiviertel Stunde später saß ich bereits wieder zu Hause im Warmen. 

Abends dann in trauter Runde in der Wallnuß, Sachsenhausen, Wallstraße. Der überaus freundliche und kluge David U. hat zum Gänse-Essen eingeladen. Bin immer erstaunt, was er alles weiß und kennt. Ob er mich, fragt er ganz ohne Arg, auf einen Fehler in der “Partitur des Todes” hinweisen dürfe. Aber klar, gerne. Der junge Türke, der auf seinem Boot an der Untermainbrücke angeschossen wird und über Bord geht, habe nie und nimmer auf die Insel getrieben werden können, denn die liege flussaufwärts, mithin … Das freilich ist ein so dicker Fehler, dass ich zum ersten Mal laut lachen muss an diesem traurigen Tag. 

Mozart ist tot. 


Dienstag, 2. Dezember 2008 – Fünfuhrvierunddreißig, zweikommavier. Seit einer Stunde wach. Es schneit.

Samstag um elf in die Alte Oper. Im Mozartsaal “Mein Lieblingsstück”. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Commerzbank, Martin Kohlhaussen, stellt im Gespräch mit Professor Lücker sich und Bachs “Italienisches Konzert” in F-Dur vor. Anschließend – als Publikumsgast – Hannelore Limberg mit Brahms “Liebesliederwalzern”. Dass nicht Wissenschaftler, sondern Unbefugte über ein Musikstück sprechen, das ihnen am Herzen liegt, ist eine schöne Idee. Irritierend allerdings, dass so gar nicht die Rede ist von den jungen Musikern, die immerhin die Mühe sich gemacht haben, die Stücke einzustudieren, die hier ihren Hut auf die Straße werfen und ihre Köpfe hinhalten.  

Am Nachmittag mit dem Pinarello eine kalte, sonnige Runde – größer als geplant, kraftvoller als erwartet. 

Sonntag um elf mit dem Mountainbike an die alte Bonameser Brücke. Warte eine Viertelstunde auf Gipetto, dann fahre ich los. Anfangs spitzer Schnee, nur selten bricht die Sonne durch die Wolken. Immer an der Nidda entlang, die riesigen Hallen der Mineralwasserfabriken in Bad Vilbel, später ein Schloss, eine alte Getreidemühle, Jogger, Walker und immer in der Nähe der Ortschaften Gruppen von Spaziergängern und die ewigen Hundehalter. Druckvoll bis Florstadt. Auf dem Rückweg noch einmal nach Wickstadt, dieses kleine, mittelalterliche Kaff, wo ich vor Jahren mal mit Therese für die Hessen-Reportage war. Dort kurz wieder auf den alten Friedhof, dann im selben Tempo zurück. In den Wiesen zwischen Gronau und Dortelweil ein später Augenlohn: zwei Weißstörche und ein Graureiher. Am Ende das Rad und sein Fahrer: vollkommen verschlammt. 

Den ganzen Abend mit Atilla am Booklet für “Ein kleiner Abend Glück” gearbeitet. Konzentriert, effektiv und sofort wieder, wie immer, wenn es mit diesem Projekt zu tun hat: glücklich. Wie schön das wird … 
Hugo mit Mandarine auf der Stirn. Charlotte, die die Augen verdreht. Wir mampfen Falafel vom “Aroma”, dem besten Imbiss der Stadt. Und trinken von dem sagenhaften Grappa, den wir damals, bei unserem Auftritt in der “Freitagsküche”, geschenkt bekommen haben.

Gestern in der ARD eine Dokumentation über die Entführung und den Mord an Jakob von Metzler. Was für eine Gestalt dieser Gäfgen aber auch ist, wie verkommen. Ganz und gar selfish – wie so viele Mörder. Die mangelnde Entwicklung von Empathie ist wahrscheinlich einer der gröbsten Erziehungsfehler. 
Der damalige stellvertretende Polizeipräsident Wolfgang Daschner hatte Gäfgen unmittelbare körperliche Gewalt androhen lassen, wenn er den Aufenthalt seines Opfers nicht offenbare. Diese “Androhung von Folter” hatte später zu einem Prozess gegen Daschner geführt, bei dem dieser mit einer Verwarnung bestraft wurde. Ein Urteil, das von vielen Juristen als skandalös milde, von Metzlers Familie und deren Vertrauten aber als enttäuschend hart kommentiert wurde, da man sich einen Freispruch erhofft hatte. Der “Mut Daschners” habe seine Vorbildfunktion durch die Bestrafung verloren. Mutig aber wäre Daschner nur dann gewesen, wenn er alle Strafen und disziplinarischen Maßnahmen (bis hin zur Entlassung aus dem Polizeidienst) klaglos hingenommen und gesagt hätte: “Und trotzdem würde ich in einer solchen Situation immer wieder so handeln.” Stattdessen aber sei er, den man anschließend nach Wiesbaden befördert hatte, im Jahr 2008 resigniert in den Ruhestand gegangen, wie es in dem Film heißt.

Endlich das Buch über Albert Fish beendet – gruselig. Kurz in Nesbos “Schneemann” reingelesen, wieder beiseite gelegt, stattdessen: “Zodiac”. 

Heute vor drei Jahren wurde Kenneth Boyd als eintausendster Todeskandidat nach Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA hingerichtet. Er war ein schwer traumatisierter Vietnamveteran, galt als geistig behindert, war geständig und reumütig.