Geisterbahn

Donnerstag, 27. November 2008 – Sechzehnuhrsiebenundzwanzig, vierkommaeins. Grau, fast schon wieder dunkel. 

Heute Nacht stand M. am Bügelbrett genau vor jenem Altar, den P. nach ihrem Tod für sie gebaut hatte: darauf das Foto von ihr, die Bibelsprüche und ihre Halskette. Noch im Schlaf – aber schon schluchzend  – schaue ich sie fragend an. Sie – milde lächelnd – schüttelt den Kopf. 

Ich wachte auf, und noch immer
Strömt’ meine Tränenflut.

Der Mitarbeiter des Radiosenders hätte gerne ein “Rezessionsexemplar” (!) Himmel ja, dann soll er sich mal umschauen in der Welt … Freilich, Fehler dürfen gemacht werden; jedem kann es passieren, dass er ein Fremdwort falsch verwendet. Aber müssen denn immer ausgerechnet jene, die sich für befugt halten, so gar nichts wissen? Und will man ihnen dann wirklich auch noch zu Diensten sein, indem man on Air auf ihre dusseligen Fragen antwortet?

Mark Medlock, dem man einen Lidschlag lang erlaubt hatte, sich einzubilden, etwas anderes zu sein als er ist, muss möglicherweise ins Gefängnis. Ist ein angemessenerer Ort vorstellbar für diesen Galgenstrick? 

Dumas fils ist tot.  

 

Montag, 24. November 2008 – Fünfzehnuhrzwanzig, fünfkommanull. Bedeckt.

Gestern trotz Kälte und Hexenschuss kleine Runde auf dem Mountainbike. Wenigstens raus, wenigstens Luft, wenigstens mal nicht bloß Supermarkt. Und unterwegs dauernd fotografiert für das Cover der CD von “Ein kleiner Abend Glück”.  (Kommentar P.: “Wird das eigentlich noch mal was?”)

Muss ganz neu anfangen. Gott, was für ein langer Irrweg … Und plötzlich katapultiert mich die Geschichte zurück an die ligurische Küste, in das Dörfchen Pietrabruna – Wie lange habe ich an den Ort und seinen Namen nicht mehr gedacht? Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre? Und dann ist beides wieder da. Ohne Anlass, wie luftgeboren.

Im letzten Magazin der Süddeutschen Zeitung ein Porträt des CSU-Politikers Erwin Huber, der nach den großen Verlusten seiner Partei bei den Landtagswahlen im September 2008 als Parteivorsitzender zurücktrat. “Ich wundere mich”, soll Huber danach gesagt haben, “warum ich mit diesem Charakterkostüm so weit gekommen bin.” Wenn das stimmt, wenn er das wirklich gesagt hat …

Lund, letzter Teil. Na, ja …

Tot ist Lee Harvey Oswald. 

Donnerstag, 20. November 2008 – Elfuhrfünfzehn, zehnkommazwei. Alles grau.

Eine ältere, fein gewandete Dame auf dem Nachbarstuhl beim Friseur. 
Dame: “Das Fernsehen wollte ein Interview mit mir machen.”
Friseurin: “Waaas? Was wollten die denn wissen?”
Dame: “Ich sollte ein wenig von mir und aus meinem Leben erzählen.”
Friseurin: “Und?”
Dame: “Ich habe gesagt: Da war nicht viel.”
Friseurin: “Und?”
Dame: “Sonst nichts.”
Friseurin: “Das war alles?”
Dame: “Ja. Sonst gab es nichts zu sagen. Da war eben nicht viel.”

Theodor W. Adorno nach seiner Rückkehr aus dem kalifornischen Exil: “Das amerikanische Bewußtsein: Schreckbild einer Welt ohne Erinnerung.”

Lektüre: Harold Schechter, “Deranged – The Shocking True Story of America’s Most Fiendish Killer”. Die Rede ist von Albert Fish, den man nun wirklich einen “dirty old man” wird nennen dürfen. 

Toter des Tages: Robert Altman.
 

Mittwoch, 19. November 2008 – Zehnuhracht, acktkommaeins. Trübe. Angeschlagen. 

Auf HR2 wird eine Geschichte vorgelesen. Keine Ahnung, was das ist. Hört sich grauenhaft an. Man möchte den Erzähler ständig anfeuern: Los jetzt, wir haben’s kapiert, mach weiter, ergeh dich doch nicht dauernd in diesen grauenhaft redundanten Monologen! … Und dann, der Moderator: Sie hörten die soundsovielte Folge aus Ingo Schulzes Roman “Adam und Evelyn”. Mmmh, Mensch, Ingo … 

Claudia Roth – eine Kindergärtnerin auf Speed.

Auf dem Rollentrainer zu sitzen, auf der Stelle zu treten und nicht voran zu kommen, ist eine der öde-langweiligsten Angelegenheiten des Universums. Es sei denn, man setzt den Kopfhörer auf und schiebt die richtige Scheibe in den Spieler.  Es mag snobistisch klingen, war aber ein Genuss: Gestern also hörte ich eine Stunde lang die Rede Theodor W. Adornos von 1960: “Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?” Es war, als lebe man in einem Irrenhaus ohne Tageslicht und plötzlich zöge einer die Gardinen beiseite, zeigte nach draußen, und endlich erkennten wir die Welt: im hellen Sonnenschein, deutlich und klar. 

Franz Schubert ist seit 180 Jahren tot. 
Dienstag, 18. November 2008 – Fünfuhrdreiundfünfzig, einskommazwei Grad, dunkel. 

“Was eigentlich interessiert uns noch?”, fragt P. und antwortet gleich selbst: “Das Geld, nur noch das Geld! Der Rest ist Gähnen.” Das freilich ist nun wirklich zum … Gähnen. 

Gestern die Aufnahme der vorletzten Folge von “Lund”. Selten so wenig von einer Serie gesehen und dennoch so viel mitbekommen. Bis fast zum Schluss verhalten sich die meisten Figuren verdächtig. Ob das gut geht ….

Tom Jeffers schickt die Fotos vom Dreh in Wiesental – “Adlerhorst” steht zum Verkauf. Und den Hinweis auf die Folge “Deathwatch” aus der zweiten Staffel der BBC-Serie “Waking the Death”. – Die ZDF-Bearbeitung soll allerdings grauenhaft sein …

Heute vor sechsundachtzig Jahren starb Marcel Proust.


Freitag, 14. November 2008
 – Zwölfuhrachtundfünfzig, sechskommanull Grad. Tatsächlich Sonne.

Was so war: Ganzen letzten Freitag die Dankesrede für die Preisverleihung geschrieben. Samstag ins Emmental gefahren. Aber die Burgdorfer wollen gar keine Rede. Stattdessen eine schwarzgekleidete Dreimann-Combo mit den üblichen Krimi-Schlagern, aber gottlob auch ein wenig Piazzolla. Riesige Suite im Hotel Stadthaus. Abends getafelt im Restaurant des Casino-Theaters – mit der wunderbar quirligen Elisabeth Zäch, dem unfassbar freundlich-bescheidenen Arne Dahl und dem wahnsinnig eitlen Carofiglio. Das Schloss, die Emme, die Esel unten in der Stadt, die Trinkwasser-Brünnchen, leerstehende Läden, schöne Häuser. Sonntag Lesung, dann Kebab, dann retour. Dienstag ganzen Tag für die Hessenschau gedreht, Mittwoch Jürgen und Detlef, der für seine Edeka-Reportage einen Journalistenpreis erhalten hat, Donnerstag … Immer so weiter.

Gott ja, unsere Konvertiten. Was soll man sagen. Cora Stephan gerierte sich links, als das en vogue war, und schwor lautstark ab, als der Zeitgeist sich gewendet hatte. Und wie alle Klassenstreuner plagt sie seitdem das schlechte Gewissen. Also sieht sie in jedem, der seine Einsichten nicht dem Meinungsmarkt zu Füßen legt, einen wandelnden Vorwurf und gibt nun lautstark die verfolgende Unschuld. Dass das Denken doch schließlich ungestraft die Richtung müsse ändern dürfen … und was dergleichen Sklavensprüche mehr sind … Nein, still, ich schweige. “Ertrage die Clowns!”

An der Pazifikküste in der Nähe von Vancouver ist ein Frauenfuß, der in einem Laufschuh steckte, angespült worden. Es ist bereits der siebte abgetrennte Fuß, der seit August 2007 in Kanada gefunden wurde.

Nein, stopp, Korrektur, es ist erst der sechste! Gerade lese ich die “Vancouver Sun” von gestern: Einer der vermeintlichen Füße erwies sich als Tierpfote. Offensichtlich hatte sich jemand einen Scherz erlauben wollen. 

Gegen den Österreicher Josef Fritzl wurde jetzt Anklage wegen Mordes erhoben.  Vor kaum einem Kriminalfall der letzten Jahre bin ich so sehr zurück gezuckt wie vor diesem. Ich überblättere die Geschichten in den Magazinen, schalte um, wenn im Fernsehen darüber berichtet wird, klicke weg, wenn im Netz die Bilder aus Amstetten auftauchen. Es ist, als ob man in diesen Abgrund nicht schauen könne, ohne gründlich Schaden zu nehmen. 

Tot ist Jean Paul (“Herr Pfarrer, ich bin auch da!”)

 

Donnerstag, 6. November 2008 – Siebenuhrvierunddreißig, zehnkommaacht. Bewölkt. Kurz vor vier aufgewacht. 

Am Freitag letzter Woche ist in der kanadischen Stadt Edmonton (Provinz Alberta) der 29-jährige Mark Andrew Twitchell verhaftet worden. Twitchell, der sich selbst als “Filmmaker” bezeichnet, soll sich im Internet als Frau ausgegeben und den 38-jährigen John Brian Altinger zu einem Treffen in seine Garage gelockt haben. Altinger, der seit dem 10. Oktober verschwunden ist, hatte die Adresse dieser Garage zuvor einem Freund mitgeteilt – nur so kam die Polizei auf Twitchells Spur. Obwohl die Leiche Altingers bisher nicht gefunden wurde, behaupten die Ermittler, es gebe genügend Beweismaterial, um Twitchell wegen Mordes verurteilen zu können. Die Polizisten gehen davon aus, dass Twitchell mit seiner Tat ein von ihm geschriebenes Drehbuch (mit dem Titel “House of Cards”) in die Realität umsetzte: In dem Skript wird ein Mann über ein Internetforum in eine Garage gelockt, dort gefesselt, beraubt, enthauptet und zerstückelt.
Nach dem Verschwinden John Altingers wurde dessen Notebook aus seiner Wohnung gestohlen. Kurz darauf erhielten einige Freunde eine angeblich von John verfasste Email mit der Nachricht, er sei für einige Wochen mit einer Frau, die er gerade kennen gelernt habe, nach Costa Rica geflogen. Als man in Altingers Wohnung nachschaute, fanden sich dort sowohl sein Koffer als auch sein Pass.
Bereits am 3. Oktober hatte eine Zeugin beobachtet, wie ein Mann schreiend aus Twitchells Garage geflohen war, der von einem anderen, mit einer Hockeymaske getarnten Mann, verfolgt wurde. Die Maske wurde später bei Twitchell gefunden. Der Polizei gelang es, das Opfer dieser Attacke ausfindig zu machen; es wird nun von den Ermittlern vernommen.  
Das Bekenntnis Mark Twitchells auf seiner Seite bei My Space (die bis heute Morgen noch frei zugänglich war), bekommt vor dem Hintergrund dieser Ereignisse eine ganz neue Bedeutung:  “My life blood ist film making”. Die Prophezeiung des nunmehr in Haft sitzenden Filmemachers dürfte sich allerdings vorerst nicht bewahrheiten: “The world ist getting bigger and so is my influence on it”. Es sei denn …, ja, es sei denn, die ganze Geschichte erweist sich als der Marketinggag eines erfolglosen Independent-Künstlers. 

Der 6. November ist der Todestag folgender Komponisten: Heinrich Schütz, Georg Anton Benda, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Edouard Delvedez, Edgar Varèse, Jean Rivier und Hallvard Johnsen.
Mittwoch, 5. November 2008 –Fünfuhrvierundfünfzig, achtkommasieben Grad. Schon länger wach und in den “Green- River”-Morden gelesen. 

Backenzahn weg, Ypsilanti weg, Koch da, Obama auch. Nicht zu viel trauern! Nicht zu viel freuen! 

Am Montag Lesung in der Naxos-Halle, wo die SPD-Bornheim den 70. Jahrestag der Pogromnacht begeht. Seltsam, wie die Ereignisse des Vormittags (als die vier Landtagsabgeordneten bekannt gaben, ihre Stimmen der eigenen Kandidatin zu verweigern) auf dieser Veranstaltung vernuschelt werden sollen. So, als könne man sich drunter weg ducken. Sie trauen sich selbst nicht mehr über den Weg. 
Später noch nett am Tresen mit den Leuten vom Theater Willy Praml: The Dresden Dolls, Nouvelle Vague … 

In einem Obdachlosenlager in der Nähe des Freeway 405 in Long Beach / Los Angeles County hat die Polizei am frühen Sonntagmorgen fünf Leichen gefunden – alle Opfer wurden erschossen, ein Motiv ist bislang nicht erkennbar, eine Spur gibt es noch nicht. 

Wieder vor “Kommissarin Lund” eingeschlafen – hat aber nichts mir ihr zu tun.

Heute vor zehn Jahren starb Anna Henkel. 

Montag, 3. November 2008 – Fünfuhrvierundzwanzig, draußen achtkommazwei Grad. Wach seit vier.

Aus dem Notizbuch der letzten anderthalb Wochen:
Mittwoch (22.10.): Morgens mit Rainer am “Fall für Zwei”. Abends Eröffnung der Ringvorlesung zum “Krimi in Europa” an der TU Darmstadt. Wildkräutersalat. Wie heißt das Lokal? Vergessen. Genau wie den Lektüretipp des Assistenten. 
Donnerstag: Morgens “Fall für Zwei”, abends Lesung im Historischen Rathaus von Büdingen. Die Froschkrawatte vom Bürgermeister. Der Zehennagel im Hotelzimmer der Kollegin. “Hätte ja auch noch ein blutiger Zeh dranhängen können, haha.” 
Freitag: Mit Jürgen nach Schotten. Hochzeitshaus, griechisch. Lesung auch hier im Historischen Rathaus. Jürgen fährt zurück, ich bin froh, platt. Blöd, hab mein Präsent liegen lassen. 
Samstag: Mit dem ICE nach München. Unsere reservierten Wagen wurden abgehängt. Unterwegs geknipst. In der U-Bahn-Station ein Plakat mit einem Spruch von Martin Kippenberger: “Ich kann mir ja nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden”. Abends Heikes Fest. Gezacker um die Rohloff-Nabe .
Sonntag: Schöner Tag. Zurück mit dem ICE. Vor einer Woche sind die Roten Ritzel den Saisonabschluss gefahren. Und haben den Pokal geholt.
Montag: Wieder “Fall für Zwei”, dann … weiß nicht mehr.
Dienstag: Nochmal mit Ewerrien am Treatment. Mittags nach Braunschweig. Mist, hab die Bahn-Card vergessen. Krimifestival, Lesung in der Komödie am Altstadtmarkt; sehr gelungen. Rechnung schreiben!
Mittwoch: Früh zurück. Zu Hause alleine weiter am Treatment. Abends Jürgen.
Donnerstag: Morgens nach Usingen, den neu lackierten Pinarello-Rahmen geholt. Wunderschön, möchte man gar nicht aufbauen. Abends große Veranstaltung in Offenbach. Einführung als “Stadtschreiber im Bücherturm.” Furiose Rede von Boehnke. Paula: “Papa, weißt Du, was hier die Brezeln kosten?”
Freitag: Pinarello zu Susanne gebracht. Und kurz darauf mit eingebautem Steuersatz und Tretlager schon wieder abgeholt. Aufbau.
Samstag: Zu Gipetto in den Laden. Erste Runde, alles Mist. Laufräder blockieren, Schaltung springt … Abends nach Nidderau-Ostheim zu Andrea und Uwe.
Sonntag: Früh raus. Ein paar Fotos auf dem Hauptfriedhof.  Dann zur alten Nidda-Brücke nach Bonames. Gipetto und Jörg. Die letzte Sonne aus dem Taunus holen. In Oberreifenberg im Café. “Sechs Stück Sahnetorte und eine Cola light”. 110 Kilometer. Alles krampft, lange nicht mehr so schwach gewesen. 

Lektüre: Ann Rule – Green River Running Red.

Gerade von Atilla die Nachricht: HUGO IST DA!

Heute vor sieben Jahren ist Thomas Brasch getorben – elf Jahre nach seinem Vater.

Freitag, 24. Oktober 2008 – Fünfzehnuhrvierunddreißig, elfkommaneun. Sonnigblau.

Nachfolgendes steht haargenau so auf dem Seifenbehälter meiner Tochter: neu bebe young care feel good shower cream just happy entspannend cremig mit vanilla relaxant à la vanilla für spürbar weiche gute-laune-haut. Man stelle sich einmal vor, wie sie in der Werbeabteilung der deutschen Niederlassung von Johnson & Johnson gesessen und tagelang über diesem Text gebrütet haben, bis einer der Spezialisten aufgesprungen ist und gerufen hat “Ja, ich hab’s, das isses!”

Am Dienstag mit Lothar im Schwanensaal des Römer. Lesung vor 150 Professoren. Mein Tischnachbar, ein Gynäkologe: “Irgendwas hab ich falsch gemacht. Jedenfalls bin ich nie so wohlhabend wie mein ehemaliger Chef geworden, der einige Mietshäuser aus seinen Patientinnen geschabt hat”.

Später, beim Signieren, kommt eine nette Frau auf mich zu, sagt, dass sie sich eine Widmung wünsche, von Sportler zu Sportlerin – der Rennradler solle der Fechterin mal was Schönes in sein Buch schreiben. Ihr Vorname sei Cornelia. Ja … freilich, es war Cornelia Hanisch. 

Mittwoch Eröffnung der Ringvorlesung zum Thema “Europa im Kriminalroman” an der Technischen Universität Darmstadt. Julika Griem erzählt von der Verleihung des Börne-Preises an Alice Schwarzer – eine Auszeichnung, die unter anderem von der Commerzbank unterstützt wird. Ein Vertreter des Geldinstitutes habe die anwesenden Frauen aufgefordert, die Damentoilette in einem der oberen Stockwerke des Bankhauses aufzusuchen, weil man von dort aus “symbolisch auf die Stadt hinab pinkeln” könne. Da sage noch einer, solche Leute gehörten nicht ins Gefängnis.

Auch so ein Wort, das mal zentral war und das mir nichts mehr bedeutet: Lebensgefühl. Wie doof man doch war … Wie stumpf man doch wird …

Tot ist Hermann Langbein.

 

Montag, 20. Oktober 2008 – Fünfuhrsiebenundfünfzig, zweikommaein Grad. Dunkel.

Blick auf den Kalender. Gott, was für eine Woche kommt da auf mich zu …

Auf dem Küchentisch liegt die Offenbach-Post. Ich werde attackiert: Papa, wieso komme ich da vor? Ich will das nicht!

Am Wochenende mit Silke und Jürgen Richtung Elsaß. Aufatmen, nachdem wir diese ewige Verhedderstrecke um Ludwigshafen hinter uns haben. Die Herbstsonne, die Färbung der Blätter, der Dunst über dem Pfälzerwald, der Schwung der vorgelagerten Weinberge – erst jetzt merken wir, wie lange wir nicht mehr hier waren und wie sehr uns die Landschaft gefehlt hat. Riesige Schwärme von Staren stürzen durch den Himmel. An einer Metzgerei die Aufschrift: Saumagenparadies.
Nach Merkwiller-Pechelbronn, wo wir wohnen, dann Wissembourg, dann in die Moulin des Sept Fontaines. Die Wirtin stellt eine Flasche Cremant auf den Tisch und überreicht uns eine Postkarte. Viola und Jost, die kürzlich mit den Kindern hier waren, lassen grüßen – und unser Herz macht einen Hüfper vor Überraschung und Freude.
Am Sonntag auf dem Rückweg Erzeugermarkt in Edenkoben: Pfälzer Bratwurst, Wildbratwurst, Pferdebratwurst, Ziegenbratwurst, Lammbratwurst – und (geschworen!): Känguruh-Schwänzerl. Im Eiscafé Rialto (seit 1958) noch ein außerordentlich guter Espresso (Foltran). Die Öfen für den Flammekuche, die leerstehenden Geschäfte, das Lederstrumpf-Denkmal, die blinzelnden Äuglein der Touristen, die Genießer-Nasen … 
 
Heute vor zehn Jahren ist Franz Tumler gestorben. Wie gründlich man ihn schon vergessen hat … 

Dienstag, 14. Oktober 2008 – Fünfuhrzweiundfünfzig, dreizehnkommaein Grad. Dunkel. Wach seit vier. 

Der junge Radrennfahrer Linus Gerdemann: “Das Image des Radprofis ist auf dem Niveau von Bankern”. Will sagen: Schlimmer könnte es nicht sein. 

Warum nur lässt mich die Aufforderung Thea Dorns an die Intellektuellen, sich wieder stärker einzumischen, so seltsam ratlos? Man möchte mit jenem offenen Brief antworten, den Franz Josef Degenhardt vor Jahren an einen wohlmeinenden Redakteur schickte:  “Ich – der Degenhardt – bin dermaßen dissident zu den herrschenden Verhältnissen und der herrschenden Meinung …, daß der Versuch, außer in meinen Liedern und Erzählungen, einverständlich, also konsensual, dies und das Wünschbare zu verdeutlichen, mir – nun nicht gerade als kollaborativ erscheint, aber doch unmöglich ist. Es wäre, zur Zeit jedenfalls, so unverständlich, wie wenn ein Mister Spock aus einer ganz anderen Galaxie und einer viel späteren Zeit einem jetzigen Erdbewohner seine ganz andere Welt erklären würde, in der es kein Geld und keine Ware gibt, eine Gesellschaft existiert, die auf einer Gebrauchswert- und Bedürfnis-Ökonomie beruht als Voraussetzung für Demokratie und das Ende von Ausbeutung. Und daß sowas mittels Wahlzettel nicht erreichbar ist.”

Die neue Ausgabe von “069” ist gekommen – das schönste Heft bislang!

Gestern B. – Erzählt, dass er als Sohn eines Forstmeisters in einer kinderreichen Familie auf einer Burg in der Rhön aufgewachsen sei, über die Ulrike Edschmid kürzlich einen kleinen Roman geschrieben habe. Und ich nun, in der Nacht, versuche vergeblich auf Google Earth diese Burg zu finden. Schlafen wär eine prima Alternative …

Am 14. Oktober 1941 starb Arthur Hollitscher verarmt in einem Quartier der Genfer Heilsarmee. Die Grabrede hielt Robert Musil, der Hollitscher nicht mal um ein Jahr überlebte. 


Samstag, 11. Oktober 2008
 – Sechsuhreindunddreißig, neunkommazwei. Dunkel. Nebel.

Laut in die zu Ende gehende Nacht gelacht, als ich gerade diese Eilmeldung las: “Rechtspopulist Jörg Haider bei Autounfall getötet.”

Womit wir den Toten des Tages auch gleich hätten. 

 

Dienstag, 7. Oktober 2008 – Zwölfuhrsiebenunddreißig, siebzehnkommasieben. Wolken. Sonne.

Bei Peter Robinson ein Hinweis auf die “Songs of Travel” von Robert Louis Stevenson – finde aber nur die Buchausgaben, nicht die Aufnahme mit Bryn Terfel. Aber den kann ich ja eh nur schwer ertragen … 

Warum nur überrascht mich die weltweite Finanzkrise nicht? So wenig wie die positive Dopingprobe von Stefan Schumacher? Unbedingt ansehen Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm: “Let’s make Money” – kommt am 30. Oktober in die Kinos.

Am Freitag die Rheingau-Tour. Von Schierstein kommend, kurz hinter dem Niederwallufer Friedhof dieses wunderschöne weiße, moderne Haus auf der rechten Seite. Hausnummer 95. Aber wie heißt die Straße? Wahrscheinlich ist es die Hauptstraße 95 … Und wer hat es gebaut? 

Am Sonntag kleine Runde mit dem Mountainbike. Am Heiligenstock auf der nassen, gelben Wiese an die hundert Kinder, die ihre bunten Drachen steigen lassen. Raben, Stare, braune Erde. Über den Dächern verweht der Rauch …

Oben auf der Berger Höhe zwischen den Bäumen eine Säule, die an die Krönung Kaiser Leopold II im Frankfurter Dom erinnert. Damals lagerte hier ein Heer von 6000 Mann, das die Feierlichkeiten absichern sollte. Vor was hatte man Angst? Vor dem französischen Virus? 

Bestellt: Ann Rule “Green River, Running Red”, Harold Schlechter “Deranged”, Robert Graysmith “Zodiac”. Alles True Crime …

Edgar Allan Poe ist tot. 

 

Freitag, 3.Oktober 2008 – Sechsuhrvierzehn, sechskommafünf Grad. Und bei dieser Kälte wollen wir gleich die große Rheingau-Runde drehen … 

Gestern im Autoradio auf HR2 der “Doppelkopf” mit Oswald Kolle aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages. Er erzählt von der großen Liebe zu seiner ersten Frau, bei der Anfang der siebziger Jahre Krebs diagnostiziert worden sei … Plötzlich schluckt er, seine Stimme bricht; die Moderatorin kommt ihm zu Hilfe: “Das scheint Sie immer noch sehr zu rühren … Sie haben sich Daliah Lavis Lied ‘Willst du mit mir gehen?’ gewünscht”. – “Ja”, sagt Kolle, “lassen Sie’s laufen, dann kann ich in der Zeit ein bißchen weinen.”

Lauthals singe ich diesen alten Schlager mit. Und an der Ampel sehe ich, wie im Auto neben mir der Fahrer dieselben Mundbewegungen macht. Er schaut zu mir rüber, wir lachen … und trällern für einen Moment gemeinsam mit Daliah Lavi ihr Lied …  

Viele Tote: Franz von Assisi, Captain Jack, Woody Guthrie, Ina Seidel, Arnold Bode, Jean Anouilh, Franz Josef Strauß, Heinz Rühmann, Janet Leigh ….