Geisterbahn

 

Dienstag, 30. September 2008 –Siebenuhrachtundzwanzig, siebenkommaacht. Schlierig der Himmel, rötlich. 

Nicht vergessen werden soll auch die herzzerreißend komische Szene aus Klapischs “Paris”-Film – als der alternde Geschichtsprofessor vor seiner Studentin zu Wilson Pickett’s “Land of a Thousand Dances” tanzt. (Auch merken: Die Tanzszene aus “Der Mann der Friseuse”).

Ein paar Fragen habe sie da schon noch, sagt die Dame nach der Lesung. Erst als hinter ihr die Schlange jener, die einen Namenszug des Autors wünschen, zu lang wird, entschuldigt sie sich: “Ich will hier nicht die ganzen Leute aufhalten.” – “Wollen Sie eben doch, Frau Wichtig!”, sagt ein paar Meter weiter ein Mann, der ebenfalls um eine Signatur ansteht. Um ihn herum erstaunte Blicke. Er bleibt gelassen: “Glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage, ich war mit dieser Dame lange genug verheiratet.”

Mit Jürgen auf die A661, über die Saalburg nach Usingen. Eine Baracke im Hinterhof. Und das soll jetzt die berühmte Firma Bike-Colours sein? Ein Betrieb, der Fahrradrahmen mittels Pulverbeschichtung lackiert und der in der gesamten Republik empfohlen wird? Der Inhaber ist ein stiller, freundlicher Typ. Und eigentlich weiß man auf Anhieb, dass man hier nichts falsch machen kann.
Dann aber doch noch über die A5 und Ludwig-Landmann-Straße zurück nach Praunheim, wo Lacky-Lack seine Werkstatt hat. Klar, sagt der Chef, Fahrradrahmen sind zwar nicht mein Alltagsgeschäft, aber wir Lackierer stecken alles in den Ofen, was reinpasst.

Aus dem Verlag kommt ein Paket mit den Neuübersetzungen der Sjöwall/Wahlöö-Krimis – zehn Bände. Jubele innerlich, bin gespannt …

Lektüre: Peter Robinsons “Blood at the Root”. 

Heute vor 42 Jahren starb 34-jährig die Schauspielerin Sabine Thalbach.

 

Donnerstag, 25. September 2008 –Elfuhrsechzehn, dreizehnkommadrei. Bedeckt. Die Autobahn macht ihre Sachen.

Aus dem Mitteilungsblatt des Bundesverbandes der Industrie: “… das kapitalistische System, diese komplexe, großartige, freiheitsverbürgende Errungenschaft der Menschheitsgeschichte …”

Aus dem Goldenen Blatt: “Die Frage nach dem Wunder des Königtums ist fast so tiefsinnig und unausdeutbar wie die Frage nach Gott.”

Nein, beide Zitate stammen aus dem als “liberal” geltenden Feuilleton der Süddeutschen Zeitung – das erste (von Gustav Seibt) aus der Ausgabe vom Dienstag, das zweite (von Ijoma Mangold) aus der heutigen. Nein, man muss ihnen nicht befehlen, was sie zu schreiben haben, sie sind längst – wie Piwitt sagen würde – zu ihren “eigenen Hintermännern” geworden.  

Tot ist die afghanische Lehrerin und Frauenrechtlerin Safia Hama Dschan. Heute vor zwei Jahren wurde sie in Kandahar mit vier Schüssen in den Kopf getötet. Augenzeugen haben berichtet, dass drei Minuten lang ununterbrochen auf das Auto der Frau geschossen wurde. Die beiden Täter, die auf ihr Opfer gewartet hatten, konnten auf einem Motorrad entkommen. 

 

Montag, 22. September 2008 –Fünfuhrfünfunddreißig, neunkommasechs Grad. Dunkel.

Noch ein Film von Christopher Nupen: “Who was Jacqueline du Pré?”. Die Cellistin war hinreißend, spontan, fröhlich und – wie man hört – auf ihrem Instrument genial. Niemand, der etwas anderes sagte. Dass sie offensichtlich auch so umwerfend arglos war, lässt die Männer, die sie umkreisten – Pinchas Zukerman, Itzhak Perlman, Zubin Mehta und allen voran Daniel Barenboim – wie Vampire wirken. Nicht anders als uns, die wir mit offenem Mund und flackerndem Blick noch gebannt auf ihr Filmbild starren. Und ausgesaugt hatte die Welt sie am Ende ja auch wirklich, als sie 1987 nach vierzehn Jahren Krankheit an multipler Sklerose starb.

Samstag doch noch erstaunlich sonnig. Schnelles Ründchen durch die Wetterau. Abends zur Hauptwache: Cédric Klapischs “So ist Paris”. Spielt zum Teil in der Nähe der Place Nadaud, derselbe Blick auf die Stadt, den wir immer von unserem Hotel haben. Was für ein wunderbar ernster, komischer, unangestrengter Film. Die Figuren begegnen sich, tun dies oder das mit einander – oder eben auch nicht – und gehen wieder ihrer Wege. Nichts wird erklärt, nicht muss begründet werden. So ist das Leben. Lässig. Traurig. Schön. Sollte es in Deutschland einen Produzenten geben, der hier gerne einmal einen ähnlichen Film drehen möchte – er soll sich melden, das Drehbuch dafür gibt es schon: Es heißt “Tage und Nächte”.

Gestern morgen in den Rheingau zum Literaturfestival. Wir sind zu früh, also schnell noch einen Abstecher nach Winkel, wo die Günderrode an der Mauer des Kirchhofs begraben liegt. Knips, knips, knips. Dann nach Hattenheim ins schöne alte Weingut der Familie Ress: Boehnke, Naomi, Matthias, Marie-Fee … Wir tun unsere Arbeit, mit Spaß, das Publikum ist freundlich, später noch ein halbes Stündchen in den Garten – sonntäglich, versonnen, sonnig.

P., wie ein müdes Kälbchen, gähnt, streckt sich, schläft auf der Rückbank des Autos ein.  

Um 15 Uhr sind wir zurück, schnell in die Radklamotten und die Runde vom Vortag  wiederholt.

Mihail Sebastians Tagebücher 1935-1944 sind gekommen. Der Antrieb des Mountain Bike ist wiederhergestellt. Race King und Latexschläche sind bestellt. Pinarello-Sticker sind bestellt. Plattformpedale bestellt. Neue, gebrauchte Laufräder bestellt …

A: Bitte, tu mir einen Gefallen, lies Mankells “Chinesen” nicht!
B: Aber wieso denn, ich denke, du magst das Buch?
A: Naja. 
B: Was nun?
A: Aber du wirst es jedenfalls hassen. Und dich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, überhaupt ein gutes Haar an diesem Roman zu lassen.
B: So schlimm?
A: (nickt)
B: Trotzdem ist irgendwas dran …?
A: (nickt wieder)

Heute vor einem Jahr ist Marcel Marceau gestorben.

 


Donnerstag, 18. September 2008 –Elfuhrvier, elfkommanull. Bedeckt. 

M: “Langsam beginne ich, mich an die eigene Niedertracht zu gewöhnen.”

Maschinenwelt: C. erzählt, dass bei den gerade zu Ende gegangenen Paralympics ein Läufer, dessen eines Bein amputiert wurde, dagegen protestiert habe, in der gleichen Klasse starten zu müssen wie ein doppelseitig amputierter Konkurrent: Dieser sei mit seinen beiden Prothesen klar im Vorteil.

Die Parteigänger der Wahrheit können irren, können lügen und zu Verbrechern werden. Die Wahrheit selbst ist nicht zu diskreditieren.

Die Kritiker tun das Erwartbare, sie halten Mankell seine zahllosen Fehler vor und verreißen nahezu unisono den “Chinesen”. Wie kommt’s nur, dass man das Buch trotzdem gerne liest. Vielleicht, weil Mankell – wie ungelenk und schematisch auch immer – interessante Geschichten von interessanten, manchmal ganz und gar durchschnittlichen Menschen erzählt. Man merkt eben, dass er sich selbst für beide interessiert – für die Geschichten und für seine Figuren. Und er steht bei einer Welt im Wort, die er sich besser vorstellen kann als sie ist. Über welchen der momentan schreibenden Kollegen kann man das schon sagen?

Jimi Hendrix ist tot. 

 

Montag, 15. September 2008 –Elfuhrachtzehn, zehnkommaacht. Bedeckt. Seit drei Uhr wach. Da waren es knapp über fünf Grad. Zum ersten Mal Heizung.

Freitag gegen 15 Uhr auf die Autobahn. Prasselnder Dauerregen. Bei Würzburg Stau, fast anderthalb Stunden Stillstand. Abends in Konradsreuth, eine portugiesische Pension, großes Treffen, alle da, schön. Müde, Bett, noch ein paar Seiten in Mankells “Chinesen”, bis die Augen zufallen, und um halbsechs gleich weiter. 
Aufstehen, Brötchen holen, die aber Semmeln heißen und nicht mal halb so viel kosten wie in Frankfurt. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Ins Auto, um kurz nach Bayreuth zu fahren, aber was ist los, der Wagen muckt, stottert, zieht nicht. Motorhaube auf, zwei Zündkabel sind zerrissen. Nein, zerbissen, sagt der Mechaniker, der eine Stunde später kommt, vom Marder, das erleben wir hier jeden Tag, hundertzwanzig Euro. Man solle, rät er, zur Abwehr ein Büschel Roßhaar in einen Damenstrumpf packen und das Ganze auf den Motorblock legen.
Für Bayreuth ist es zu spät, also nach Hof, der Kältepunkt der Republik, bißchen durch die Stadt, durch die Sonne. Die Männer sind tätowiert, haben Ringe in den Ohren, ziemlich prollig, viele leere Häuser, leere Läden. An einer Pizzeria eine Gedenktafel: “Hier wohnte seit 1925 Ewald Klein, geb. 24.2.1899 in Marxgrün, gest. 25.5.1942 in Dachau als Opfer seiner politischen Überzeugung”. An diesem kurzen Text stimmen wohl nur die Daten. Wenn so verschämt von “politischer Überzeugung” gesprochen wird, kann es sich bei Ewald Klein nur um einen Kommunisten gehandelt haben. Und sicher ist er nicht das Opfer seiner Überzeugung geworden, sondern der Nazis. Und gestorben wird er wohl kaum sein; er ist gewiss, sonst gäbe es diese Tafel nicht, in Dachau ermordet worden. “Selbst Schuld”, sagt die Tafel. Erinnerungsvermeidungsgedenken, wie sonst soll man das nennen.
Dann die Hochzeit in der Baptistenkirche. Ein Auftrieb junger Menschen, wieder viele Ringe in den Männerohren, Westen, Bärte, lange Haare, gerne zottelig. Seltsam closed, eine ganz und gar geschlossene Kultur. Ein junger Mann, Laienprediger, redet lange, sagt häufig “ich” und sonst nichts, lächelt dafür oft und feucht. Unheimlich, fast hochmütig, diese gedankenfreie Heilsgewißheit. Und fast schon diabolisch die zur Schau getragene Harmlosigkeit. “Und jetzt seid ganz arch gesechnet!” Himmel, hilf!
Wieder auf die Autobahn, und nun doch noch schnell den Abstecher nach Bayreuth, einmal das Festspielhaus umrundet, fotografiert, die Wagnerbüste im Park. Außer uns ist niemand da, noch nicht einmal ein paar Japaner, aber dann kommt ein tätowiertes Paar und führt an der Leine: tatsächlich einen deutschen Schäferhund. 
Bloß weg hier …

Und zur Begrüßung in Frankfurt noch von der Autobahn aus die Lichter des Riesenrades auf der Dippemess.

Sonntag zum Kulturtag in den HR. Vor dem Glasfoyer taucht Thea Dorn auf mit ihrem netten Vater. Sie erzählt, dass sie eigentlich Wagner-Sängerin habe werden wollen, aber keine Stirnhöhle habe … Und: dass sie für Arte einen Film drehen wolle, ob ich Lust hätte, mitzumachen. Gemeinsam mit ihr, Cohn-Bendit und Sloterdijk soll ich mit dem Rad auf den Mont Ventoux fahren. Gott, was für eine irrwitzige Vorstellung … Aber verlockend. Dann auf die Bühne, halbe Stunde über Krimis, Radfahren undsoweiter. Und um 14 Uhr das Ganze noch mal … Schwer k.o. 

Bloß froh, dass mir Jörg Müsse den neuen Mankell noch mal ans Herz gelegt hat. Sonst hätte ich mich von der politisch motivierten Kritik in der SZ wirklich abhalten lassen, ihn zu lesen. 

Vor fünf Jahren starb in Paris Sergio Ortega. Venceremos!


Dienstag, 9. September 2008
 – Vieruhrvierunddreißig, zehnkommaacht. Schon wieder seit gut einer Stunde wach. 

Gestern morgen um kurz vor acht zum Nibelungenplatz und vor dem Lädchen auf Gipetto gewartet. Mit den Mountainbikes quer durch die Stadt, Ginnheim, Römerstadt, Niederursel, Oberursel. Und dann der Aufstieg auf den Altkönig. Der Berg hängt in den Wolken, unten glitzert die Ebene in der Sonne. Alles ein bißchen nazi hier oben, jedenfalls schwer deutsch-romantisch, wagnerisch, grimmisch. Auf dieser Anhöhe hat sich vor bald zehn Jahren Uwe Gruhle in den Schnee gesetzt, hat sich die Schuhe ausgezogen, Schnaps getrunken, Schlaftabletten genommen und auf das Ende gewartet. 
Und was machen wir hier? Gipetto hat auf einer seiner Touren die toten Wurzeln zweier Eichen entdeckt, die wir nun unbedingt auf den Gepäckträgern nach unten transportieren müssen, wobei uns die jungen Mütter auf den Bügersteigen mit geblähten Nüstern ansehen, als hätten wir … Was? Als hätten wir tote Wurzeln auf den Gepäckträgern. 

Am Nachmittag, beim Versuch, die schon angemahnte Umsatzsteuervoranmeldung auf den Weg zu bringen, schieße ich mein Windows ab, das mir Ati auf den Mac gespielt hatte … Jetzt muss ich ihn wieder aufscheuchen, behelligen, alarmieren …  

Man könnte ins Grübeln kommen über die beiden Meldungen, heute Morgen auf dem Titelblatt der “Süddeutschen Zeitung”:

“Überraschende Zustimmung für den designierten SPD-Chef – Wirtschaft setzt auf Müntefering”

“Weltweiter Kurssprung an den Börsen – Die Anleger haben erleichtert reagiert auf die Verstaatlichung der US-Hypothekenbanken ….”

Tot ist Jacques Lacan. Gesagt haben soll er diesen schönen Satz: “Das Ich ist die Geisteskrankheit der westlichen Welt”. 

Und gerade sehe ich, heute hätte Cesare Pavese hundertsten Geburtstag. Gleich in den Keller und die schöne Volk-und-Welt-Ausgabe seiner Tagebücher geholt: “Das Handwerk des Lebens”. 

 

Sonntag, 31. August 2008 – Vieruhrundsieben, vierzehnkommasechs Grad. Dunkel, laut. Seit halbdrei wach. Davor auch nur phasenweise und unruhig geschlafen.

Wenig Lust, Tagebuch zu schreiben. Warum? Weil mir der Alltag zu mickrig ist? Weil sich alles wiederholt? Weil sich keine Gedanken zu den Ereignissen einstellen wollen? Und wenn ich wirklich sage, über was ich im Moment nachdenke? Ob ich den Rahmen des Pinarello lackieren oder pulverbeschichten lasse, in welcher Farbe, mit welchen Decals … 

Als arm gilt, wer von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben muss. Das sind 1,4 Millarden Menschen, und damit ein Viertel der Weltbevölkerung.

Für die Fotos ihrer neugeborenen Zwillinge haben Brad Pitt und Angelina Jolie den Rekordpreis von 14 Millionen Dollar erhalten.

“Der Duft eines Pfannkuchens bindet stärker an das Leben als alle philosophischen Argumente.” Ein Satz von Lichtenberg, den mir Rolf-Bernhard gerade geschickt hat.

Tot sind Tamara Bunke und Lady Di. 

 

Montag, 25. August 2008 –Elfuhreinundfünfzig, einundzwanzigkommaacht, gut geschlafen, wolkig. 

Samstag kleine Runde auf dem Olmo, um kurz nach zwei Jürgen abholen, auf die Autobahn, Köln, Irrfahrt durchs Severinsviertel, Parken in der Alteburger Straße, zu Fuß durch den Regen in die Dreikönigenstraße, “erinnert mich an Paris”, sagt Jürgen, zum Bürgerhaus Stollwerck, schöner Backsteinbau, trinken, essen, dann taucht Gernot auf, dann Peter, das Theater ist im fünften Stock, schweres Gewusel, alle ein bißchen nervös, aufgedreht, Guntram Freytag mit seinen Musikern kommt, Tonprobe, Lichtprobe, gehe nochmal runter, laufe Peter und Tanja in die Arme, Gott, wie schön, wenn man alle wieder sieht, ziellos plaudern kann, schnuppern, fragen, wie’s denn den anderen so geht, dann die Veranstaltung, alles gut, gegen 23 Uhr mit den Autos nach Mülheim in die Münsterer Straße, weiter am großen Küchentisch, halbzwei ins Bett, verdrücke im Halbschlaf noch eine halbe Tüte Sallos’ Schulkreide, gegen sieben Uhr aufstehen, Espresso, Peter kommt runter, zeigt stolz seinen kleinen Flitzer, einen Mazda MX5, dunkelgrün metallic, mit offenem Verdeck nach Dünnwald zum Brötchen holen, bisschen snobish das Ganze, aber lustig, Frühstück, Spaziergang usw. Wieder auf die Autobahn, nach Hause, noch eine kleine Runde, dann auf 3SAT das Ende einer Dokumentation über Werner Bräunig (sogar auf seinem Grabstein wurde sein Name falsch geschrieben: Bräuning; und 20 Jahre nach seinem frühen Tod wurde das Grab einfach eingeebnet). Man hört die schneidende Stimme Ulbrichts auf dem 11. Plenum des ZK der SED: “Haben das alle kapiert, Genossen?” Was für ein Riesenarschloch. “Rummelplatz” lesen!

Heute Abend unbedingt auf HR2 anhören: Die Aufzeichnung des Konzertes mit dem Trio Wanderer auf Schloss Johannisberg – vor allem die Zugabe!

“Viva la Emoción!” – Kann man die schönen Filme Almodóvars mit einem idiotischeren Satz ankündigen?

Tot ist Wolfgang Langhoff – Fast noch ein Kind, habe ich in den frühen Siebzigern seinen autobiografischen Bericht “Die Moorsoldaten” gelesen. Und war über Wochen verstört.  

Donnerstag, 21. August 2008 – Siebenuhrneunzehn, achtzehnkommazwei. Sonnig. 

Mit derselben Wut aufgewacht, mit der ich eingeschlafen bin. Die Dummheit mancher Menschen wird nur durch ihre Dreistigkeit übertroffen. Dass sie selbst einmal Opfer waren, scheint den dringenden Wunsch bei ihnen geweckt zu haben, nunmehr andere zu ihren Opfern zu machen.  Und diese Egozentrik, diese Selbstüberschätzung, diese Chuzpe …

Morgens mit P. telefoniert, kurzes Belauern, Umkreisen, dann ungetrübte Freude, na prima, dann sehen wir uns in Köln. Und Jürgen kommt mit, wie schön.

Gestern zu Gipetto, Füße vermessen, Leder aussuchen, Schnitt wählen, Sohle auswählen, Farbe auswählen, Auftrag unterschreiben, anzahlen, macht Spaß … Und jetzt? Ganz lange warten.

Beim Friseur in alten Nummern von Auto-Bild, Focus, Stern, Vanity Fair, Cosmopolitan, Bunte geblättert. Bin völlig außerstande den Unterschied dieser Magazine zu erkennen, lese überall das gleiche Gestammel, höre das gleiche Geschrei, sehe die gleichen grinsenden Fressen … Die Entdifferenzierung schreitet fort.  

“Gold für Deutschland”
“Auch Deutsche unter den Opfern”
“Scheiß-Deutsche” sollen die Täter von Bad Soden-Allendorf gerufen haben.
Tja. 

Sehe gerade erst, dass Rainald Goetz nicht mehr bloggt.

Bestellen: Ruth Klüger “unterwegs verloren” und “Im Gespräch”. 

Todestag hat der aus Kassel stammende Physiologe Adolf Fick, Entdecker der gleichnamigen … 
Dienstag, 19. August 2008 –Siebenuhrsechzehn, neunzehnkommazwei Grad. Bedeckt, frisch. Seit kurz vor Vier wach.

Am Sonntag erste große Ausfahrt mit dem Olmo. Geplant waren 120, geworden sind es 150 Kilometer mit 2000 Höhenmetern. Über Burgholzhausen hoch zum Depot, runter nach Wehrheim, dann Kransberg, Maibach, Cleeberg, Grävenwiesbach, Dombach, Steinfischbach, Eppstein … 

In der ihrer Berufsgruppe eigenen Sprache macht sich die Juristin Juli Zeh im Spiegel ein paar staatstragende Gedanken über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Gesagt haben, freilich, will auch sie am Ende – wie immer: nichts.
Gott ja, an selber Stelle war vor einer Woche noch das ruppig-kluge Gespräch mit Ruth Klüger zu lesen. Aber die ist ja auch alt und so mutig wie kaum jemand sonst in dieser Branche der großmäuligen Leisetreter. 

Im nordhessischen Bad Sooden-Allendorf haben vier unbekannte junge Männer in der Nacht zum Montag gegen 1.20 Uhr ein Festzelt überfallen und scheinbar wahllos mit Latten und Teleskopschlägern auf die Feiernden eingeschlagen. Fünfzehn Gäste wurden verletzt. Die Täter konnten in einem silberfarbenen Auto flüchten. Ein Motiv ist nicht erkennbar, eine heiße Spur gibt es nicht …

Am 28. Juli ist in der zwischen Bourg-en-Bresse und Lyon gelegenen Gemeinde Lagnieu der elfjährige Valentin Cremault mit 44 Messerstichen ermordet worden. Eine Woche nach der Tat wurden der Obdachlose Stéphane Moitoiret und seine zehn Jahre ältere Lebensgefährtin Noella Hego festgenommen. Wegen der Blutspuren, die sich an seiner Kleidung fanden, gilt Moitoiret als dringend tatverdächtig. Im Verhör gab Moitoiret an, sie seien ein Königspaar aus Australien, das im göttlichen Auftrag unterwegs sei. Inzwischen hat eine zwanzigköpfige Ermittlungsgruppe der Polizei begonnen, hunderte ungeklärte Verbrechen der letzten Jahre zu untersuchen, da man nun davon ausgeht, das Valentin Cremault nicht das einzige Opfer der beiden ist. 

Am 19. August 1936 wurde Federico García Lorca in der Nähe von Granada von spanischen Nationalisten ermordet.  

Mittwoch, 13. August 2008 – Siebenuhrdreiundfünfzig, zweiundzwanzigkommadrei. Wieder sonnig, aber was für ein Wind. 

Gestern Morgen im Funkhaus, um das “Sonntagsgespräch” mit Uli Sonnenschein aufzunehmen. Ob je ein Name so gut zu seinem Träger gepasst hat. Und als ich zurückfahre, höre ich seine Stimme im Autoradio.

Bei Céline dieser wunderbare Satz: “Meine Seele stand offen wie ein Hosenstall.”

Überhaupt Céline – wie er mich wieder beim Wickel hat. Dass mir das Gros der Anderen wie eine Meute Zirkuspudel vorkommt. 

Draußen, auf seinem alten Rad, fährt immer wieder dieser begnadete polnische Fliesenleger vorbei – mit einem so traurigen Gesicht, dass einem sofort Geschichten einfallen wollen … 

Nachmittags Anruf aus dem Verlag: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Burgdorfer Krimipreis gewonnen … Der zweite Preis innerhalb einer Woche … Das heißt? Es kann nur bergab gehen. 

Abends Naomi Geburtstag, dann Ati Geburtstag, dann nach Mitternacht schwer schwankend auf dem Pinarello nach Hause und immer wieder das vordere Lichtlein angeknipst, weil es sich bei jedem Schlagloch ausschaltet. 

Tot ist Pierre Bertaux, französischer Germanist, führendes Mitglied der Resistance, später Direkter der Sureté, ein Posten, den er verlor, weil er vor Gericht bezeugte, sich auf das Ehrenwort eines Juwelendiebes verlassen zu können.

 

Freitag, 8. August 2008 – Zwölfuhrachtundzwanzig, neunzehnkommaacht. Endlich grau, endlich nass.

Aus der Gemeinde der Alten Nikolaikirche kam ein Entschuldigungsbrief. Dort heißt es: “Leider können wir nicht darüber verfügen, was letztendlich über unser Gotteshaus und seine Gottesdienste und zahlreichen Veranstaltungen gedruckt wird. Sie werden aus eigener Erfahrung wissen, dass es da immer mal wieder zu Missverständnissen kommt … Für einen Vorschlag für eine Art ‘Wiedergutmachung’ wäre ich Ihnen sehr dankbar.”
Die Antwort: “Sehr geehrte Frau?Sehr geehrter Herr? Leider war die Unterschrift unter Ihrem Brief, für den ich mich bedanke, nicht zu lesen. Ihre Entschuldigung nehme ich gerne an, bin aber nach wie vor der Ansicht, dass Sie die Presse und damit das Publikum zumindest fahrlässig in die Irre geführt haben. Ein Missverständnis kann ich auch nach nochmaliger Lektüre der Ankündigung auf Ihrer Homepage nicht sehen. Als ‘Wiedergutmachung’ würde es mir genügen, wenn Ihnen der Vorfall eine Lehre wäre. Mit freundlichen Grüßen …”

In Rio de Janeiro werden jedes Jahr rund tausend Zivilisten von der Polizei erschossen.

Was für ein Satz der Ansagerin des Fernsehsenders 3-SAT: “Neuigkeiten vom Urknall bei Scobel”.

Tot ist der “beste kubanische Profiboxer aller Zeiten”: Eligio Sardinias Montalvo, genannt Kid Chocolate. 
 

Mittwoch, 6. August 2008 – Zwölfuhrzweiunddreißig, siebenundzwanzigkommanull, weißblau der Himmel.

Mit dem Olmo die alte Runde über Niederdorfelden, Schöneck, Nidderau, Bruchköbel etc. Schon ziemlich schwer, das schöne Stahlrad. Die toten Igel stinken in der Morgensonne.

Anruf des Oberbürgermeisters von Offenbach: “Sie haben gewonnen …” Und ich freue mir ein Loch in den Bauch … Erzählt, er sei mit seiner Frau vor Jahren auf der Lesung im Mausoleum des Rumpenheimer Schlosses gewesen … Wir verabreden uns zum Essen … Morgen ist schon Pressekonferenz … Und ich darf das Rad mit in den Saal nehmen …  

Vor den Ferien schickte Alexander Fest Hartmut Binders dicken Bildband “Kafkas Welt”. Was für eine Schatztruhe …
Franz Kafka ist am 3. Juni 1924 bei Klosterneuburg gestorben, man rechnet also nicht damit, ein Buch über den Holocaust zu lesen. Und doch begegnen einem bei der Lektüre unentwegt die Biografien der Opfer:  Paul Kisch, ein Freund Kafkas, in Auschwitz ermordet; Dr. Heinrich Kral, Hausarzt der Familie, in Theresienstadt umgekommen; Paul Kornfeld, Kumpan aus dem Café Arco, im Januar 1942 im KZ Lodz umgekommen; Josef Pollak, Kafkas Schwager, 1941 nach Lodz deportiert, wo er und seine Frau umkamen; Grete Bloch, Freundin Kafkas, aus Italien deportiert, ermordet; Justine Nalos, Vermieterin Kafkas, im April 1942 nach Theresienstadt deportiert; Marie Wernerová, Haushälterin der Familie, 1942 nach Risa verschleppt, dort umgekommen; Julie Wohryzek, Geliebte Kafkas, im April 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet …

Heute vor einem Jahr starb 86-jährig und als freier Mann Heinz Barth, einer der Schlächter von Oradour-sur-Glane.

Montag, 4. August 2008 – Vieruhrzweiundfünfzig, einundzwanzigkommasieben. Windig, die Fenster fliegen. Endlich wieder im Zeit-Rhythmus. 

Freitag rasch mit dem Mazda in die Ernst-Reuter-Schule und die beiden Schultheateraufführungen angeschaut, dann rasch in die Stadt, um die Kette an das Olmo montieren zu lassen, rasch nach Hause, rasch nach St. Goar auf Burg Rheinfels, wo Jörg E. sein Konzert gibt. Rasch schaukelt uns Ati im Polo wieder zurück. Rasch verdrücken wir auf einer Raststätte noch einen Imbiß. Rasch ins Bett. Samstag rasch um sechs aufstehen. Rasch auf die Räder. Rasch 100 Kilometer durch den Taunus. Dann rasch noch 20 auf dem Olmo. Rasch unter die Dusche. Rasch nach Gießen zu den Lischpers, wo wir uns gemeinsam mit Alexandra und Daniel zurücklehnen und verwöhnen lassen. 
Dann City-Hotel, dann aufwachen, dann frühstücken, dann Rolf-Bernhard überraschen, der mit Anna in dem dicken alten Volvo vorfährt, dann Norbert und Susanne an den Marktarkaden, dann blinzelt so ein großer Mann schüchtern aus der Ferne … tatsächlich, es ist Gerd Steines, was mich nun riesig freut, dann Christian Lugerth, was mich ebenso freut, dann Rolf-Bernhards wunderbare Open-Air-Veranstaltung, dann ein schönes, buntes Rad vor dem schönen Laden der Vordemfeldes fotografiert, dann nach Frankfurt, dann noch mal aufs Olmo, dann kochen, essen, trinken, dann endlich mal wieder früh ins Bett, um endlich mal wieder früh aufstehen zu können, um endlich mal wieder um halbsechs auf dem Trainer … 

B: Na, wieder da?
A: Jouh!
B: Schön braun geworden!
A: Mmmh.
B: Nette Leute kennen gelernt?
A (fluchtartig das Weite suchend): Uaaahhh!

Damit es wenigstens hier gesagt ist: Einsam gestorben ist R., der keinen Nachruf wollte und eine anonyme Bestattung. Niemand wird wissen, wo sein Grab liegt, nicht einmal seine Eltern.