Geisterbahn

Sonntag, 30. 12. 07 –Siebenuhrsiebenundvierzig, vierkommanull. Seit fünf Uhr wach. Halsschmerzen.

Gestern Abend das Schumann-Klavierkonzert mit Argerich (Foto) und dem Gewandhausorchester unter Chailly. Danach “Von fremden Ländern und  Menschen”. Kaum zum Aushalten … so hinreißend.    

Friedrich Stoltze: “Ein Fremder ist immer von außerhalb.”

Am Freitag kleine Runde. Überall auf den Plakaten jetzt wieder dieses verschwitzte Politiker-Lächeln … 

“Die Republikaner begrüßen den Tabubruch des hessischen Ministerpräsidenten. Herr Koch spricht aus, wovor die Republikaner seit Jahren gewarnt haben und dafür als ausländerfeindlich stigmatisiert wurden”, so der Vorsitzende des Landesverbandes der Partei in Hessen, Haymo Hoch.  “Die Republikaner würden Herrn Koch im Landtag gerne dabei unterstützen seinen Worten auch Taten folgen zu lassen und Druck machen, damit praktische Konsequenzen gezogen werden.”

Im DuMont Buchverlag wird am 21. April 2008 ein Band erscheinen mit dem Titel: “Nationalsozialismus – Ein Schnellkurs”. Und wie ist jetzt das gemeint? Nazi werden, leicht gemacht … ?

In einem biografischen Text über Osama bin Laden die Information, dass er von einem Jugendfreund als “still, schüchtern, fast mädchenhaft” beschrieben wurde. Und dass er gerne Fury und Bonanza gesehen habe. 

Heute vor sechzig Jahren starb der niederländische Kunstfälscher Han van Meegeren. 

Freitag, 21. 12. 2007 – Neunuhrzwei, minuseinskommaneun. Kalter Hauch.

Auch die Suchanfrage: “teppichklopfer hosen runter hintern bloss” führt auf diese Seite.

Gestern Morgen mit Harald Schröder Fotos fürs Börsenblatt. Wir treffen uns vor dem Eingang von Alnatura in der Burgstraße, fluchen über die Kälte, trotzdem alles gut gelaunt. Rüber in den Innenhof des Wertheimschen Vereinsheims. Ein paar Aufnahmen mit einem Sombrero, den wir neben einem Müllcontainer entdecken. Vor dem Eingang des Günthersburgparks dann in einer vereisten Telefonzelle, hinter einem Gitterfenster im Park, zwischen den kahlen Stämmen von drei hohen Kiefern … Dann, schon wieder auf dem Rückweg, ist Schröder ganz beglückt, als wir neben dem alten Musikgeschäft einen verstruppten Hinterhof mit grünen Plastikplanen entdecken. Zwei Bauarbeiter lugen von ihrem Gerüst herunter … 

Abends mit Braun und Herl im “Reuters”. Karlheinz, wieselig und vital wie immer, hat zahllose Theaterpläne und gleich entsteht auch die Idee, dass Michael … nee, werd ich jetzt mal nicht verraten, gell. 
Als das teure Essen kommt, schauen Herl und ich uns an. Wie, und das soll die großePortion Hirsch-Ravioli sein? Wie sieht den dann die kleine aus? Tom Koenigs kommt rein; ich frage, wieso der nicht in Afghanistan ist, aber ist ja auch kein Wunder, weil es gar nicht Tom Koenigs, sondern Rupert von Plottnitz ist. Ach so. Lauschig, so ein ziellos verplapperter Abend, wo es um das Volkstheater, Antibiotika, das Rauchverbot, die Nitribitt und schwangere Katzen geht. Durch die kalte Nacht mit dem Rad nach Hause. Schwer ins Bett.  

Am 21. Dezember starb vierundneunzigjährig in Aachen der ehemalige KZ-Arzt Ernst Günther Schenck. 

Donnerstag, 20. 12. 2007 – Sechsuhracht, minusvierkommasechs. Dunkel.

Da denkt man an nichts Böses und nichts Gutes, nur so, dass man halt seinen Job macht und einem Journalisten einen Eindruck verschaffen und dabei auf schon mal gehörte Fragen schon mal gegebene Antworten geben muss – und dann … Kommt alles ganz anders. Man begegnet einem besonnen-vergrübelten Menschen, der so kenntnisreich wie diskret insistiert und alles ein wenig genauer wissen will, als man es selbst bislang wusste. Und schon wird ein kalter, blauer, sonniger Frankfurter Tag noch ein wenig sonniger und blauer. Und man geht klüger, glücklicher und ein bisschen vergrübelter nach Hause. Und freut sich unterwegs schon auf die Lektüre von Handkes “Gestern unterwegs”, auch wenn man sie am Ende doch noch ein wenig aufschieben wird, vielleicht bis zu diesem gottgeilen Sommer, der uns gewiss im kommenden Jahr erwartet, lieber Holger Heimann. “Die Sterne”, sagt Rio Reiser, “stehen glänzendgünstig!”

John Steinbeck ist tot.

 

Dienstag, 18. Dezember 2007 – Vieruhrzweiunddreißig, minusdreikommazwei. Dunkelfrisch. 

Wenn alle Wünsche so schnell … Es klingelt, Charlotte und Atilla stehen vor der Tür … Herzlichenglückwunschnachträglich. –  Ja danke, was ist denn da drin? – Gar nicht so schwer zu erraten. – Mmmh, ein Buch, ein Buch, sieht aus wie ein Buch. Nee, das gibt’s nicht, der Kuhlbrodt … Und Jürgen mit einer ganzen Tüte voll, nee, ich sag nicht, was … Echt schön, aber leider nur ein Mal im Jahr.

Gestern Morgen auf der Fahrt nach Wiesbaden auf HR 2 eine Lesung. Ich horche auf, mmmh ganz gut, denke ich. Dann: nee, jetzt übertreibt er aber mit dieser ländlich-wichtigtuerischen-kritischen Volkston-Tour. Aber es geht immer so weiter mit dieser Leier, und, oh Gott, ich schalte gleich ab, nein, was für eine manirierte Scheiße, als würde jemand versuchen, gleichzeitig Fassbinder, Sybille Berg, Bobrowski und Derrick zu parodieren. Und dann, es ist zu Ende: “Sie hörten den soundsovielten Teil aus Peter Kurzecks Lesung seines Romans …” Wie, das war doch nicht etwa wirklich der gute Kurzeck. Schäme mich fast. Aber so ist das mit den Blind Dates …

Aber dafür auf der Rückfahrt was Hübsches: “Short Story” des polnischen Motion Trio.

Heute vor einem Jahr erhängte sich im Keller der “Ritze” auf St. Pauli der ehemalige Boxer und sogenannte Bordellkönig Stefan Hentschel. Und die ewige Wondratschek-Fauser-Fraktion entblödet sich nicht, selbst so einen noch zum Idol aufzublasen.


Freitag, 14. Dezember 2007
 – Achtuhrsechsunddreißig, oh je, nur einskommavier Grad. Grau. Seit zwei Uhr wach, Connellys “The Last Coyote”. Um halbsieben Geschenke. Wie schön.

Ati würde wahrscheinlich auch einem Schimpansen erklären können, wie man mit dem Bilderhochladeprogramm auf dem neuen Server umgeht. Oder einer Ziege. Jetzt sollte es klappen.

 

Na also, geht doch!

Montag und Dienstag wieder im Archiv. Dazu in Kürze mehr.

Mittwoch den ganzen Tag die Akten-Exzerpte in den Rechner getippt. Hätt’ ich doch nur gleich das Notebook mit nach Wiesbaden mitgenommen. Abends Jürgen.

Donnerstag weiter mit den Abschriften. Dann Weihnachtseinkäufe. Und – ohne Absicht – ein neues Mexx-Jackett und neue Lowas. Gegen drei ins Café des Kunstvereins, Hochzeit von Maria und Jörg, lauter glückliche Gesichter. Lutz, wie immer, fotografierend. Harald zeigt mir stolz sein iPhone. Schnell noch in die Gutleutstraße. Aber das Haus, in dem die Matura gewohnt hat, steht nicht mehr. Hatte ich das nicht vor zwanzig Jahren schonmal festgestellt, als ich Kupers “Hamlet” las?

In der “Zeit” eine Besprechung von Erenz über die bei Suhrkamp erschienenen Feuilletons von Kuhlbrodt. Unbedingt dran denken, das Buch zu besorgen.

Kann es sein, dass die “Kulturzeit” besser wird? Nicht mehr dauernd nur die ewigen Popmythen … Dieser tolle Beitrag von Granditz über den Wiener Architekten und Designer Josef Frank und gestern das Gespräch mit dem Regisseur Robert Dornhelm, guter Typ. Er wurde mit einem Film bekannt, der genauso heißt wie das letzte Connelly-Buch, das ich gelesen habe: “Echo Park”.

Geburtstag haben Agnes Fink, Jane Birkin, Tamara Danz, John Lurie, Eva Matthes, Andreas Mand, Wolf Haas. Und ich. 

 

Montag, 10. Dezember 2007 – Siebenuhrzweiundfünfzig, sechskommasieben Grad. Grau. Dämmerig. 

Auf der Homburger Landstraße Richtung Bonames. Rundum schwere, dunkle Wolken, der Asphalt ist nass, aber über mir der Himmel blau. 
Der Taunus teils im Nebel, teils ausgeleuchtet. Ein ausgefranster Regenbogen. Die Felder in braun, ocker, grün – wie von Eugen Bracht gemalt. Sprießende Wintergerste, gelbes Gras, geneigt vom Regen. Moos. Manchmal flammt ein letzter Apfel rot vor der schrundigen Rinde seines Baums. Die feuchten Feldwege: silbrig glitzernde Striche. Kurz vor Burgholzhausen ist die Straße fast trocken. Runter nach Petterweil. Rechts die Straußenvögel in ihrem Gehege legen die Köpfe schief, als ich sie aus Übermut anschreie. Zurück dann schwerer Wind. Und gute Laune. 

Vor elf Stunden ist Robert Willie Pickton nach einjähriger Hauptverhandlung schuldig gesprochen worden, sechs Frauen auf seiner Schweinefarm in Port Coquitlam nahe Vancouver getötet und an die Tiere verfüttert zu haben: “There where gasps and screams in the courtroom as the jury foreman announced “Not guilty” on the first count of first-degree murder of Sereena Abotsway. But the foremam then announced the jury found Pickton guilty of second-degree murder, which is a lesser included offence. The jury foreman announced guilty of second-degree murder also for the killings of five other women: Georgina Papin, Marnie Frey, Brenda Wolfe, Mona Wilson an Andrea Joesbury.”
Das Strafmaß wird heute im Laufe des Tages bekannt gegeben.
Pickton ist angeklagt, weitere 20 Frauen ermordet zu haben. Ein nächster Prozess gegen ihn soll im Januar 2008 beginnen. 

Wieso dieses Bild nun keiner außer mir haben wollte … Eine Gouache von Franz Becker-Tempelburg aus dem Jahr 1930. Was denn jetzt? Nee, ich krieg es nicht hochgeladen, muss ich Ati doch wieder behelligen. Aber nicht jetzt, jetzt muss ich rasch nach Wiesbaden, ins Archiv. 

Heute vor einem Jahr starb Augusto Pinochet, einer der ruchlosesten … Ich weiß schon, ‘ruchlos’ lässt sich nicht steigern. 


Sonntag, 9. Dezember 2006
 – Fünfuhrundacht, fünfkommneun Grad. Seit gut einer Stunde wach. Dunkel. Regnet nicht, aber der Boden ist feucht. Windig.

Die drei späten John-Heartfield-Montagen sind für knapp 900 Euro verkauft worden. 

Gestern durch Preungesheim und Seckbach auf Schauplatz-Suche für die Eröffnungsszene. Immer an den struppigen Rändern entlang. Abends dann lange mit C. über den neuen Fall. Noch kein Durchbruch. Hauptsache, es wird nicht zu einfach. Aber man steht immer vor demselben Dilemma: Die wahrscheinlichen Lösungen sind meist langweilig. Die interessanten Lösungen sind unwahrscheinlich. 

Die Geisterbahn muss wieder lässiger werden, schneller, mehr Nebensachen zulassen. 

Vor zwei Jahren ist Helmut Sakowski gestorben. Vor dreißig Jahren habe ich mit großer Aufregung die mehrteilige Verfilmung seines Romans Daniel Druskat im DDR-Fernsehen geschaut. Mit dabei: Manfred Krug, Hilmar Thate, Angelica Domröse, Angelika Waller …
Donnerstag, 6. Dezember 2007 – Fünfuhrachtzehn, siebenkommaneun. Dunkel. 

Um halbvier aufgewacht, ins Netz geschaut und als erstes diese beiden Meldungen gefunden: 
– Neun Tote bei Amoklauf in Omaha.
– Mutter im Kreis Plön tötete offenbar fünf Kinder. 

Es ist wohl so wie Fräulein anobella schreibt: Die Wiesbadener Papageien hört man immer, aber sehen kann man sie nur im Winter, wenn die Bäume kahl sind und sich die grünen Halsbandsittiche nicht im Blattwerk verstecken können. Sie gehören zu einer Population, die vermutlich auf ein ausgewildertes Pärchen aus dem Kölner Zoo zurückgeht, dann rheinaufwärts gezogen ist, jetzt ihren Hauptsitz im Biebricher Schlosspark hat und derweil auf tausend Exemplare geschätzt wird.

Matthias-“Dich-mach-ich-fertig”-Matussek hat einen Freund. Was an sich schon eine Meldung wert ist. Dieser Freund heißt Franz Josef Wagner, arbeitet für “Bild” und scheint bereits am 28.11.2007 geahnt zu haben, dass er den nunmehr entlassenen Ressortleiter des “Spiegel” auf den Mond loben muss, um ihn sich noch eine Weile als Nachfolger vom Leib zu halten:  “Matussek ist der für mich amtierende deutsche Meister des modernen Erzählens … Er ist der Erzähler des digitalen Universums. Unser erster Lacher im Weltall.” – Der für mich amtierende … – So wird es wohl kommen!

Tot ist Gian Maria Volonté. 

Dienstag, 4. Dezember 2007 – Fünfuhreinundvierzig, fünfkommavier Grad. Seit einer Stunde wach, aber gut geschlafen. Dunkel. Kein Regen.

Gestern wieder im Archiv. In den ersten Tagen nach dem Mord sind die Aktivitäten der Kriminalpolizei förmlich explodiert. Die Ermittler haben alle befragt, derer sie habhaft werden konnten. Haben vernommen, verhört, telefoniert, Klinken geputzt und sich die Absätze schiefgelaufen. Schließlich haben sie sich konzentriert auf die Suche nach einem mysteriösen “Fritzchen” und nach einem Mann, den in der Mordnacht einige gesehen haben wollen, den aber niemand kannte. Phantombild, Fahndungsaufruf, Belohnung … Alles erfolglos. Dann kommen die Verrückten und Wichtigtuer: falsche Geständnisse, Anschuldigungen,  … ein Gefangener berichtet, dass er gehört habe, wie ein Zellennachbar im Schlaf den Namen des Opfers … ein durchreisender Vertreter hat angeblich ein Foto der Ermordeten herumgezeigt … Und … bitte … , schreibt ein Oberamtmann i. R., man solle sich doch den Schlagersänger Abi Ofarim einmal genauer anschauen, der sei doch ein “Weibertyp”, ein “flotter Hirsch”, aufbrausend, leicht erregbar wie man höre und seine Ähnlichkeit mit dem Phantombild frappierend …  Schließlich spürt man förmlich wie die Spannkraft der Ermittler nachlässt, wie ihnen nichts mehr einfällt, wie sie weiter im Nebel stochern. Und dann kommen die ersten Anzeichen der Kapitulation: Die Frage des Instituts der Rechtsmedizin, ob man die Organproben des Opfers jetzt vernichten dürfe, wird mit Ja beschieden, eine Alibifeststellung wird verschoben, weil man zwei neue Kapitalverbrechen zu bearbeiten habe, eine Dienstreise zur Vernehmung eines Inhaftierten wird abgelehnt … 

Wieder auf der Straße, sitzen in einem Baum vor der Villa gegenüber zwei wunderschöne grüne Papageien und naschen von einem Meisenknödel. Dann flattert der eine auf, stürzt sich in die Tiefe und fliegt schreiend einen Meter an meinem Kopf vorüber. 

Tote: der Psychiater Karl Bonhoeffer (unbedingt mal nachlesen!), Hannah Arendt, Benjamin Britten, Frank Zappa. 

Montag, 3. Dezember 2007 – Fünfuhrdreiundfünfzig, siebenkommazwei Grad. Dunkel.

Was für eine Nacht! An Schlaf ist nicht zu denken. Sturm und Regen. Das Wasser trommelt auf Plastikplanen, Gartenstühle, Aluminiumfensterbänke. In der unbewohnten Hausreihe gegenüber schlagen die von den Arbeitern offen gelassenen Terrassentüren. Auf dem Flachdach die Silhouette eines Mannes. Ein Polizeihubschrauber richtet seine Scheinwerfer in eine dunkle Baugrube. Etwas bewegt sich dort unten im Schlamm. Der Teufel ist ein schöner, junger Mann. 

Connellys “Lost Light” zu Ende. Fange wieder mit “Der letzte Coyote” an. Aber nein, auf Deutsch mag ichs nicht noch mal lesen. Die englische Ausgabe ist ja auch bereits bestellt …  

Dieses Schild auf dem Außengelände einer Kindertagesstätte: “Baustelle – Betreten nur für Kinder erlaubt”. Da musste auch erst die Generation Ikea kommen, um sich diesen Schwachsinn auszudenken.

Noch ein apartes Idiotenwort: Konsumklima.

Tot ist Robert Louis Stevenson. Und was für ein schönes Porträt von ihm und seiner Frau. 

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman

Mittwoch, 28. November 2007 – Fünfuhrachtunddreißig, minus einskommadrei. Dunkel. Um 4 Uhr aufgewacht und sofort die die Fotos der Toten vor Augen. Ein bißchen in Connellys “Lost Light” gelesen.

Gestern halbacht mit Bus und U-Bahn zum Hauptbahnhof. Bin zu früh, also nehm ich eine andere als die geplante S-Bahn nach Wiesbaden. Aber was für ein Schleif! Der Zug bleibt auf der Strecke stehen, dann fährt er noch über Mainz, hält an jeder Milchkanne. Deutlich nach neun in der Landeshauptstadt. Zu Fuß in die Mosbacher Strasse 55, Hessisches Hauptstaatsarchiv. Als ich mich an der Pforte melde, liegt schon eine Nachricht von B. bereit, dass ich ihn im Landeskriminalamt anrufen soll. Gemacht, wir verabreden uns zum Mittagessen. Dann in den Lesesaal. Kommen Sie, sagt der nette Herr Pult, gehen wir kurz raus, dann müssen wir nicht flüstern. Er hat schon alles bereit gelegt und ermahnt mich noch einmal, mit den Dokumenten, die ich gleich zu Gesicht bekommen werde, verantwortungsvoll umzugehen: “Wir prüfen sehr genau, wen wir hier Einsicht nehmen lassen. Dennoch: Denken Sie daran, auch eine ermordete Prostituierte hat das Recht in Frieden zu ruhen.”
An meinem Platz steht ein Rollwagen mit 9 Kartons voller Ermittlungsakten. Ich zittere fast vor Aufregung und lese mich von der ersten Seite an fest. Um 12.45 zum ersten Mal wieder ein Blick auf die Uhr. Verdammt, ich muss ja los. Zu Fuß Richtung LKA. B. steht schon bereit, in die Kantine, eine Stunde haben wir, und keine Minute wird ausgelassen. Eilig wieder zurück ins Archiv, weiter mit Vernehmungen, Zeugenaussagen, Obduktionsbericht, Vermerken der Ermittler, ersten Spuren, Telefonprotokollen etc. Eine halbe Stunde bevor der Lesesaal schließt, habe ich gerade mal die erste Akte des ersten Kartons durchgearbeitet. Einen Tag hab ich dafür gebraucht. Und schau mir ganz zum Schluss noch die Tatortfotos an … Grauenhaft … Die nackte Leiche … Sechzehn Stiche … Wie schrecklich verloren sie daliegt, diese kleine Frau mit dem gebrochenen Blick. Sie hatte immer Angst, sagen ihre Freunde …

Heute hat Randy Newman Geburtstag.

Samstag, 24. November 2007 – Achtuhrzehn, einskommasieben. Hell. Wird wohl sonnig.

Im sächsischen Mittweida haben vier glatzköpfige junge Männer vor einem Supermarkt die sechsjährige Tochter einer Spätaussiedlerfamilie drangsaliert. Eine 17-Jährige, die dem Kind zu Hilfe kommen wollte, ist von den Männern zu Boden gerissen worden. Drei der Tatbeteiligten haben daraufhin die junge Frau festgehalten, der vierte hat ihr mit einem skalpellartigen Messer ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt. Zahlreiche Anwohner, so heißt es, hätten das Geschehen von ihren Balkons aus beobachtet.

Gestern 75 Minuten auf der Rolle. Will mich im Winterpokal des Rennrad-Forums anmelden und gleich die ersten fünf Punkte eintragen. Und sehe: der Meldeschluss ist vor fünf Tagen gewesen.

“Sozialhilfeempfänger … sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt und verdummt auf.” Wer hat’s gesagt? Angela Merkel? Guido Westerwelle? Erwin Huber? Joseph Goebbels? Nein, es war Oswald Metzger, zur Zeit noch Landtagsabgeordneter der Grünen in Baden-Württemberg.

Grünen-Mitglied Robert Zion will nicht, dass die Grünen als Öko-FDP enden. Mithin warnt er seine Partei davor, etwas zu werden, das sie seit zwei Jahrzehnten bereits ist.

Von einem wunderschönen stoffwechselreichen Grünkohlessen bei L. und S. heimkehrend, eine Nachricht vom Hessischen Hauptstaatsarchiv: Die Akte liegt bereit!

Heute vor 44 Jahren wurde Lee Harvey Oswald von dem Nachtclubbesitzer Jack Ruby erschossen (Foto).

Freitag, 23. November 2007 – Sechsuhrdreiunddreißig, sechskommaacht Grad. Dunkel. Still.
Um halbvier erschrocken aufgewacht. Sofort beginnt das Herz zu rasen. Höre Schritte im Treppenhaus. Es ist P. “Unten hat jemand eine Lampe angemacht”, sagt sie. Ich tappe ins Erdgeschoss. Nein, es ist nur die Straßenlaterne, deren Licht durch die Haustür in den Flur fällt. Kein Schlaf mehr, stattdessen Gedanken …

Laut einer Umfrage der Illustrierten stern sind mehr als 80 Prozent der CDU-Mitglieder der Meinung, dass die deutschen Führungskräfte zu viel Geld verdienen. Und bei vielen Entscheidungen, so sagt der Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, würde sich die Regierung der Großen Koalition allein an den Interessen der Konzerne und ihrer Führungskräfte orientieren. Wenn die Politiker sich entscheiden müssten, “ob sie mit einem mittelständischen Unternehmer oder mit einem Top-Manager von Bayer, Daimler & Co. zu Mittag essen, entscheiden sie sich immer für den Top-Manager.”
Man darf damit rechnen, dass Wolf Biermann in Kürze einen großen Essay im Spiegel veröffentlichen wird, wo er den CDU-Leuten ihre Linkslastigkeit vorhält und ihnen nachweist, dass nun auch sie der alten, längst totgeglaubten Lehre vom staatsmonopolistischen Kapitalismus aufgesessen sind.

Todestag von Philippe Noiret und Louis Malle. Noiret spielte Zazies Onkel in Malles “Zazie dans le Metro”.

Donnerstag, 22. November 2007 – Achtuhrzehn, fünfkommacht. Bedeckt.

Offizieller Name für einen Pit Bull auf Rädern? Quad!

Shorten Your Penis! – Im Senegal sind zwei Männer von der Polizei festgenommen worden, die im Verdacht stehen, die Penisse von elf anderen Männern durch einen bösen Zauber zum Schrumpfen gebracht zu haben.

Meldung auf Spiegel-online: “Generalstreik in Frankreich – Saboteure legen vier TGV- Trassen lahm. Es waren genau aufeinander abgestimmte Aktionen. Saboteure haben in der Nacht in Frankreich die Highspeed-Trassen für den TGV lahmgelegt. Verletzt wurde niemand. Die Staatsbahn vermutet, dass radikale Gewerkschaftler für die Taten verantwortlich sind.”
“Saboteure … radikale Gewerkschaftler” – Wie das klingt, hier, in Deutschland …

Tot ist Maria Casarès, Schauspielerin und – ja, ja -, langjährige Geliebte von Albert Camus. (Foto)

Mittwoch, 21. November 2007 – Zwölfuhrdreiundvierzig, sechskommadrei. Bedeckt. Lärm.

Gestern um kurz vor zehn ins Parkhaus, dann quer über Fahrbahn und Schienen auf die andere Straßenseite. Konrad-Adenauer-Straße 20, Sitz der Staatsanwaltschaft. “Zeigen Sie bitte Ihren Dienstausweis!” Hab’ keinen. Tasche unter den Scanner, Schlüssel, Kleingeld etc. in eine Plastikschale. Dann unter dem Detektor durch. Dritter Stock. Langes Gespräch mit Frau Möller-Scheu. Unglaublich freundlich, zugänglich. Runter ins Archiv. Beton. Kellergänge. Grob gestrichen. Gott, ist das riesig. Mausartige Archivare. Alle freundlich. Lange gehen wir eine alte Mordakte durch. Dann in die Asservatenkammer. “Was hier so riecht, ist Rauschgift. Wir haben gerade eine große Ladung hereinbekommen”. Alles mehrfach gesichert. Gitter, Schlösser, Schleusen. Tiefgaragenatmosphäre, kalt. Auf Kellerregalen lagern die versiegelten Müllsäcke mit den Asservaten, unter anderem der Sonnenschirmständer, mit dem das kleine, fünf Jahre nach seiner Bergung noch immer unbekannte Mädchen – das “Indermädchen” – im Main versenkt wurde … Was für Geschichten hier liegen …

Abends in den Osthafen, Hagenstr. 2, Winterquartier der Caritas für Wohnsitzlose. Dort Lesung.

Tot ist Seine Durchlaucht Siegfried Casimir Friedrich der IV. Fürst zu Castell-Rüdenhausen: “Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Castell’schen Betriebe verlieren mit ihm einen großherzigen, väterlichen Chef und Dienstherrn”. Mein Gott, ja, ein so entspanntes Verhältnis von Herr- und Knechtschaft, zweihundertachtzehn Jahre nach dem Sturm auf die Bastille … Und dafür sind die Guillotinen heißgelaufen?

Montag, 19. November 2007 – Sechsuhrfünfundvierzig, dreikommaeins. Dunkel. Seit halbdrei wach.

Aus dem kalten Japan schickt Alex gerade dies und macht den deutschen Tag ein wenig wärmer:

Tot ist Franz Schubert. Nachher die Mackerrass-Aufnahmen seiner Sinfonien …

Samstag, 17. November 2007 – Sechsuhrvierundfünfzig, zweikommafünf Grad. Dunkel.

Meldung I: “Dramatische Entwicklung – Seit 2005 hat sich die Zahl der armen Kinder in Deutschland auf 2,5 Millionen verdoppelt.”

Meldung II: “Bayerns Justizministerin will jugendliche Straftäter schneller ins Gefängnis stecken.”

Meldung III: “Bayerns Innenminister Joachim Herrmann fordert drastisch höhere Strafen für jugendliche Gewalttäter.”

Meldung IV: “Koalition stoppt Kindergeld-Erhöhung.”

Wenn die Sonne so über den Dächern aufgeht …
Wenn die Wolkenränder so unverschämt flammen …
Wenn die Kinder auf dem Schulweg schon lachen …
Wenn der Raureif die Wiesen so überzuckert …
Wenn die Äste im Herbstfeuer knacken …
Wenn der Atem vor allen Mündern gefriert …
Wenn in den Kirchen die alten Lieder erklingen …
Wenn auf den Straßen die Räder verstummen …
Wenn der Wind so aufhört zu wehen …
Und wenn der Rauch direkt in den Himmel aufsteigt …

Ein Kind zum anderen: “Nee, heute machen wir’s mal anders. Du meinst wohl, du bist hier der Chefkönig …”

Tot ist Heidor Villa-Lobos.

Donnerstag, 15. November 2007 – Zwölfuhrvierundfünfzig, dreikommavier Grad. Himmel: bisschen blau, bisschen grau, bisschen weiß.

Auf der Suche nach den Ermittlungsakten des Falles der 1966 ermordeten Prostituierten Helga Matura teilt mir die freundliche Pressesprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft heute mit, dass nicht einmal ein entsprechendes Aktenzeichen aufzufinden sei. Möglicherweise befänden sich die Unterlagen aber im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Eigentlich gut, so wird die Suche nach den Akten selbst schon wieder zu einer Geschichte …

Von den vier Polizisten, die am Dienstag in Bedford Stuyvesant / New York City einen unbewaffneten, geistig behinderten, achtzehnjährigen schwarzen Jungen mit zwanzig Schüssen getötet haben, hat bisher keiner auf einen Menschen geschossen. Allerdings sind von den Männern im Laufe ihrer Amtszeit mehrere Hunde getötet worden, heißt es heute in der New York Times, allesamt Pit Bulls.

Lektüre: Michael Connellys “Echo Park”. Der beste Roman des besten Autors von Kriminalromanen seit langem. Breathtaking, pageturning, nervethrilling … Gebt mir ein Glas Wasser …

Am 15. November 1976 starb Jean Gabin (Foto).

Montag, 12. November 2007 – Zehnuhrfünfzehn, sechskommanull. Sonnig, wolkig, schnupfig.

Zynisch, höre ich gerade mal wieder, seien meine Kommentare, hier … Der Irrtum, so scheint es, ist nicht auszuräumen.

Da blättere ich arglos in dem kostenlosen Anzeigenjournal auf der Suche nach einem Satz gebrauchter Winterreifen und stoße auf diese Annonce: “Alt, behaart, Hängetitten! Elfie (68), aus Mühlheim, sucht Bumskontakte. Alter spielt keine Rolle. 0173 6261875”. (Bornheimer Wochenblatt Nr. 45, 8. November 2007)

Wer ist nun zynisch? Ich, der ich diese Anzeige lese, dem sie auffällt, der sie hier zitiert und stundenlang nun schon über die Frau nachdenkt, die diesen Text geschrieben hat … und über die Umstände, die ihn ihr diktiert haben? Oder …?

Hübsches Wort: “pseudo-skurril”.

Heute vor dreißig Jahren erhängte sich Ingrid Schubert in ihrer Zelle in München-Stadelheim.

Freitag, 9. November 2007 – Achtuhreinundfünfzig, fünfkommasechs. Wolkenmütze über der Welt. Darunter helle Streifen, Häuser, Lärm. Sonst heute nichts … Oder doch: ein Gruß an den wilden, mutigen, anonymen Max.

Und Rudolf Herrmann, Akt, Öl auf Pappe, 1931:

Heute vor 69 Jahren begannen die Novemberpogrome, in deren Verlauf etwa 400 Juden ermordet wurden. Heute vor 38 Jahren platzierten die Tupamaros West-Berlin eine Bombe im dortigen Jüdischen Gemeindehaus.

Donnerstag, 8. November 2007 – Fünfuhrsechsundfünfzig, achtkommasechs. Dunkel. Immer noch taumelig. Gestern ganzen Tag nichts passiert. Und jetzt diese Mailflut …

Wie wenig es mir behagt, mich der Welt mit den Kategorien der Psychoanalyse zu nähern. Ist mir meist zu egozentrisch, zu eitel, auch zu indiskret. Als wären nicht auch sie und ihre zahllosen Abkömmlinge nur Modelle, noch dazu überaus schlichte. Überhaupt … Erklärungen … Dann schon lieber Phänomen auf Phänomen häufen, Verwirrung stiften, sich selbst ins Wort fallen! Oder den “Hamlet” lesen. Einen alten Film von Godard schauen. Mozart hören. Bilder gucken. Der Unterschied zwischen der Psychoanalyse und der Wirklichkeit ist der zwischen dem stumpfen Dalí und dem großen Manet … Aber sofort hat man wieder jene am Hals, die vermuten, wer sich so gegen die Seelenkunde verwahre, müsse wohl ein Problem mit sich selbst haben … Ja, freilich, was denn sonst … Und. So. Weiter.

Todestag von Nicolas Frantz. Der luxemburgische Radrennfahrer trug während der Tour de France 1928 vom ersten bis zum letzten Tag das Gelbe Trikot. Hundert Kilometer vor dem Ziel brach der Rahmen seines Rades, er verlor 28 Minuten, kam aber auf einem von einer Zuschauerin geliehenen Damenrad als Sieger ins Ziel.

Mittwoch, 7. November 2007 – Fünfuhrsechsundzwanzig, siebenkommanull. Dunkel. Gestern: ganzen Tag im Bett. Heute: geht schon wieder.

Im Traum ein wüster Streit. Ich sage Dinge, die so dumm und böswillig sind, dass ich aufwache vor Schreck über mich selbst . Und lange brauche, bis ich erkenne, dass es ein Traum war. Dabei weiß ich nicht einmal, mit wem ich da so bis aufs Äußerste gehadert habe.

Gestern in der SZ: “Viele Erben sollen weniger Steuern zahlen – Große Entlastung bei Firmenübernahmen”.
Heute nun werden vom selben Blatt die Ergebnisse einer Studie publiziert, wonach zehn Prozent der Deutschen über fast zwei Drittel des gesamten Volksvermögens verfügen; die arme Hälfte besitzt fast nichts. Selbst der Chefökonom des DGB zeigt sich überrascht von dem drastischen Ungleichgewicht und der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich.

Was denn eigentlich mir so widerlich sei am Anblick des Fußballspielers Kuranyi, fragt Jörg Erb im Gästebuch. Und ich dachte, dass würde, schaute man nur hin, sich von selbst erklären: Dieses aufgeputzte Angebergesicht, mal von Hass auf den Gegner zerrissen, mal von Hochmut und triumphalem Trotz. Schauderhaft.

Wann denn der nächste Krimi erscheine … Am Donnerstag sind die letzten Korrekturen nach Hamburg gegangen. Am 19. Januar 2008 wird ausgeliefert. “Partitur des Todes” … Und dann geht die Lesereise los, die allein gestern noch mal 25 neue Stationen bekommen hat …

Heute vor drei Jahren wurde während der Blockade eines Castortransportes der junge französische Atomkraftgegner Sébastien Briat bei Avricourt vom Zug überroll (Foto).

Samstag, 3. November 2007 – Siebenuhrfünfzehn, zehnkommadrei. Fast schon hell, bedeckt.

Den ganzen Nachmittag mit Atilla über einem Songtext gesessen. Wie befriedigend eine solche Arbeit ist. Suchen, finden, verwerfen, ausprobieren, abwägen, neu ansetzen. Und irgendwann das Ergebnis: Ja, so muss es sein, so ist es rund! Geht gar nicht anders. Wieso sind wir nicht längst … Und auf den Gesichtern breites Grinsen.

Gestern Abend vor Hinfälligkeit zwischen 20.15 Uhr und 20.45 Uhr durch die TV-Programme geswitcht. Unfassbar.

Die Bilder vom Fußballspiel Schalke gegen Cottbus. Wie zutiefst widerlich mir doch immer wieder der Anblick dieses Kuranyi ist.

200.000 deutsche Kunden hat der Energiekonzern Vattenfall allein in diesem Sommer verloren. Dennoch hat das Unternehmen seine Gewinne in Deutschland um 7 Prozent steigern können. Eine ganz große Rolle habe dabei die von der Regierung beschlossene Senkung der Unternehmenssteuern gespielt, erklärte Firmenchef Josefsson. Die hätten dem schwedischen Konzern seit Jahresanfang zusätzlich 315 Millonen Euro beschert.

Tot ist Karl Borromäus, Papst, Heiliger, Inquisitor, der die Protestantenverfolgung bis in die Schweizer Berge trug.